9punkt - Die Debattenrundschau

Was aber aus dem Boden kommt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2015. Welt und SZ blicken auf die Krim ein Jahr nach der Annexion. In der SZ plädiert Hermann Parzinger  für ein Gesetz, das den Handel mit geplünderten Werken sanktioniert. Der israelische Philosoph Omri Boehm kritisiert in der New York Times die Zurückhaltung deutscher Intellektueller gegenüber Israel. Amerikanische Internetmedien diskutieren über das Ende des bekannten Techblogs Gigaom. Und die Wikipedia klagt gegen die NSA. Und SAP bestimmt nicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.03.2015 finden Sie hier

Ideen

Der israelische, in New York lehrende Philosoph Omri Boehm behauptet in der New York Times, deutsche Intellektuelle hätten Angst, sich zu Israel zu äußern, bezieht sich dabei aber eigentlich nur auf ein Ha"aretz-Interview von 2012, in dem Jürgen Habermas für sich eine Zurückhaltung gegenüber Israel reklamierte: "Es wäre dumm für einen Israeli meiner Generation, die Angst deutscher Intellektueller zu unterschätzen, wenn es darum geht, Position zu Israel zu beziehen. Aber wenn Aufklärung eine Antwort auf die deutsche Vergangenheit ist, dann muss der Mut gefunden werden, diese Angst zu überwinden. Über Israel zu schweigen, ist nicht der Weg, um dem Holocaust gerecht zu werden."

Der linke französische Philosoph Michel Onfray hat drei französische Intellektuelle, die zufällig auch Juden sind, angegegriffen (unser Resümee) und hat sich daraufhin ein verbales Scharmützel mit dem französischen Premier Manuel Valls geliefert, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ: "Gerade hatte der greise Roland Dumas, Mitterrands Außenminister, Valls bescheinigt, er stehe unter "jüdischem Einfluss" - eine Anspielung auf Valls" Frau, eine bekannte Geigerin. Man sträubt und schämt sich, das zu schreiben. Es zu unterlassen wäre verlogen: Denn es ist genau diese Wahrnehmung, die in Frankreich alles andere überlagert. Es ist von den Juden besessen und auf den Front National fixiert."
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Gesellschaft

Ilija Trojanow erzählt in seinem Schlagloch in der taz, dass in London pro Haltestellte die Lebenserwartung um ein Jahr sinkt, wenn man mit der U-Bahn Richtung Osten fährt: "Kinder, die in den ärmsten der östlichen Stadtteile geboren sind, haben laut jüngst veröffentlichten Daten des Office for National Statistics eine um fast zwanzig Jahre niedrigere Lebenserwartung als jene im wohlhabenderen Westen. Sie werden nicht länger leben als die Menschen "im kriegszerstörten Liberia", so die Schlagzeile des jeden Nachmittag kostenlos verteilten London Evening Standard. Rein äußerlich fallen einem Fremden jedoch vielmehr die ostentativen Zeichen muslimischer Identität auf. Die Ausbreitung rigider Kleidungskonventionen sticht eher ins Auge als die Armut."
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Europa

"Verraten und vergessen" ist die Krim ein Jahr nach der Annexion, schreibt Inga Pylypchuk in der Welt: "Gerade weil die Krim das erste Opfer dieser Aggression war, dürfen wir sie nicht vergessen, wir müssen von ihr sprechen, über sie schreiben. Auch heute ist sie immer noch eine Kampfzone: Krimtataren werden dort diskriminiert, Andersdenkende verfolgt und regelmäßig verschleppt, 20.000 Menschen mussten in die anderen Regionen der Ukraine fliehen, weil für sie das Leben auf der Krim zu gefährlich wurde." Inga Pylypchuk interviewt in der Welt auch die Autorin Polina Scherebzowa, die ein Tschetschenien-Tagebuch veröffentlicht hat.

Julian Hans berichtet in der SZ von der verflogenen Begeisterung auf der Krim für die neuen russischen Machthaber: "Alles auf der Krim ist viel teurer geworden, die Mobilfunkverbindungen sind miserabel, seit der ukrainische Betreiber hinausgedrängt wurde. In den Geschäften gibt es kaum noch Auswahl, der Import vom ukrainischen Festland ist aufwendig und teuer, der aus Russland auch. Visa oder Mastercard funktionieren wegen der Sanktionen auf der Krim nicht mehr. Vor allem aber verbringen alle Krim-Bewohner Stunden und Tage in Warteschlangen."
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Politik

Immer häufiger, so Kamel Daoud in seiner jüngsten Kolumne im Quotidien d"Oran, preisen algerische Minister ihre Gesetze - egal ob es um die Familie, Zugang zu Wohnraum, Sozialhilfe geht - als "halal" an: "Man rechtfertigt sich nicht mehr vor dem Bürger, sondern vor dem Gläubigen, man hat das Gefühl, den Islamisten etwas zu schulden, und nicht der Republik. Man zieht Handschuhe über, um sich vor einer bestimmten Lesart der Scharia zu rechtfertigen, und nicht gegenüber der Verfassung, der Demokratie (selbst wenn sie nur formell ist) und der Nation. Man will nicht provozieren, schont Gefühle, passt sich den "Werten der algerischen Familie" an."

Arno Widmann erkennt in der Berliner Zeitung in den Verwüstungen im Irak nicht nur die Barbarei, sondern irgendwie auch den Fortschritt: "Die Weltgeschichte ist ihren Gang durch diese Zerstörungen hindurch gegangen. Das ist kein Grund, sich den Zerstörern nicht in den Weg zu stellen. Aber diese Einsicht sollte uns daran hindern, den Zerstörern Kultur abzusprechen. Sie haben eine andere, eine, die wir hassen und bekämpfen mögen, aber sie ist auch Kultur. Wie ja auch Hass und Krieg immer wieder zu Triebwerken der Kultur wurden."

In der SZ plädiert der Berliner Museumschef Hermann Parzinger angesichts der Plünderungen in Mossul, Nimrud und Hatra für ein neues Kulturgutschutzgesetz: "Die momentane Gesetzgebung bringt gar nichts: Es werden nur Objekte geschützt, die gelistet sind. Was aber aus dem Boden kommt, aus Raubgrabungen, das kann sich auf keiner Liste befinden."
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Medien

Unter amerikanischen Techblogs ist schon seit längerem ein Niedergang festzustellen. Um Klicks zu bekommen, behilft man sich mit Katzencontent oder berichtet mit gläubigem Augenaufschlag über die neusten Apple-Gadgets. Nun ist Gigaom, eines der bekanntesten Techblogs, Pleite gegangen. Danny Sullivan, Gründer von Search Engine Land und der kleinen Mediengruppe Third Door Media, meldet in Medium.com grundsätzliche Zweifel am Start-Up- und Venture-Capital-Modell für digitale Medien an: "Third Door Media startete Ende 2006. Wir nahmen nie Geld von Investoren. Wir vergrößerten unsere Equipe, als die Einnahmen stiegen, so wie es unser Business-Plan vorsah. 2008, als die Weltwirtschaft crashte, duckten wir uns und kamen durch, ohne Leute zu verlieren. Teilweise lag es daran, dass wir darauf achteten, nicht zu stark zu expandieren und kein Unternehmen aufzubauen, das aus den Einnahmen nicht getragen werden konnte."

Chris Thompson zitiert bei Poynter Mathew Ingram, einen der bekanntesten Autoren von Gigaom: "In der einen Minute arbeitest du an einer Geschichte, in der nächsten erzählt dir jemand, dass du keinen Job mehr hast und macht das Licht aus." Thompson erklärt das Geschäfstmodell von Gigaom: "Da Anzeigeneinnahmen wegen Craigslist, Amazon und Google wegbrachen, mussten Medienfirmen neue Wege finden, um Geld zu machen. Gigaom-Gründer Om Malik organisierte früh Konferenzen und versammelte kluge Leute, für die man einen hohen Preis zahlen musste. Das Geheimnis sprach sich herum und alle anderen Medien stiegen ein. Wenn Expertentagungen für Geld kein Geld mehr bringen, was bringt dann noch Geld?"

Weiteres: In ihrer Medienkolumne in der taz deutet Silke Burmester an, dass sie beinahe an eine "International Patent & Trademark Organization" 2000 Euro berappt hätte, um sich ihre Marke schützen zu lassen. Johannes Boie stellt in der SZ die App Meerkat vor, die Videos in Echtzeit streamt, ohne sie vorher aufzuzeichnen und zu speichern.
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Überwachung

Wikipedia klagt zusammen mit Amnesty und Human Rights Watch gegen die NSA, berichtet der Guardian mit Reuters. Der Prozess soll klären, ob "Massenüberwachung des Internettraffics in den Vereinigten Staaten - oft "Upstream surveillance" genannt - gegen den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung verstößt, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit schützt, sowie gegen den vierten Zusatzartikel, der unnotige Durchsuchungen verbietet. Die "Upstream surveillance" fängt Kommunikationen amerikanischer Bürger mit Ausländern auf, um Geheimdienstinformationen zu erhalten. "Die NSA greift das Rückgrat des Internets und damit das Rückgrat der Demokratie an", schreibt Lila Tretikov von der Wikimedia Foundation in einem Blogbeitrag."

Und dann noch dieser Bericht aus Zeit online: "NSA und CIA spionieren auch mithilfe deutscher Technik. Der IT-Konzern SAP hat die US-Geheimdienste sogar gezielt durch Firmenzukäufe und Verträge als Kunden gewonnen. [...] Vor allem SAPs Datenbanktechnologie Hana macht das Unternehmen für die Spionage-Dienste NSA und CIA interessant. Das Software-System ermöglicht wohl die derzeit schnellste Datenverarbeitung überhaupt. Recherchen von Zeit online enthüllten kürzlich, dass auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND die Hana-Software von SAP kaufen will, um große Datenmengen in Echtzeit auswerten zu können.
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