9punkt - Die Debattenrundschau

Das schrille Falsett des Zynismus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2015. In Paris ist Charlie Hebdo erschienen (hier noch nicht). Wir verlinken auf ein paar Zeichnungen. In Le Monde schildert die Charlie-Kolumnistin Sigolène Vinson die Szenen eines Massakers. Das ägyptische Fatwa-Amt will Mohammed nicht weinen sehen. Cory Doctorow warnt in Boingboing vor weiteren Durchlöcherungen der Privatsphäre durch die Politik. Die BBC findet, dass sich die Juden nicht so beklagen sollen. Die Zeit bringt die Karikaturen weiterhin nicht. Aber selbst hier gibt es ein gallisches Dorf... Auch über Russland und den deutschen Pazifismus wird weiter gestritten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.01.2015 finden Sie hier

Europa

Dies ist die erste Zeichnung von Luz nach dem Massaker an seinen Kollegen. Er zeigt sie, wie er sie nach den Schüssen vorfand: "Meinungsfreiheit? Leck mich am Arsch". Luz hat auch das Cover der neuen Nummer von Charlie Hebdo gezeichnet. In Deutschland erscheint Charlie Hebdo am Samstag. Der Standard hat schon eine Doppelseite reprografiert - mit Übersetzungen. An französischen Kiosken war die Nummer um 7 Uhr schon oft ausverkauft, meldet Le Monde.

Sören Seelow hat in den Räumen von Libération Sigolène Vinson getroffen, die Gerichtskolumnisten von Charlie Hebdo. Er berichtet für Le Monde. Vinson hat alles miterlebt und ist von Said Kouachi nicht erschossen worden, "weil wir keine Frauen töten". In einer Reportage, die man fast nicht aushält, erzählt Seelow, wie die Täter eindrangen und Schuss für Schuss erschossen, wen sie für todeswürdig erachteten. Manche haben sie übersehen, weil sie sich versteckt hatten. Nach der Schießerei und einer Minute der Todesstille, "kehrt Sigolène in den Redaktionssaal zurück. Ihre "Horrorvision". "Ich sehe Körper auf dem Boden. Sofort nehme ich Philippe wahr. Das Kinn ist ihm zerfetzt. Er macht mir ein Zeichen mit der Hand. Zwei Körper liegen auf ihm. Das war zuviel." Sie unterbricht sich. Dann fährt sie mit gepresster Stimme fort: "Er hat versucht mit mir zu sprechen, trotz der abgerissenen rechten Wange... Ich habe ihm geagt, er soll nicht sprechen. Ich konnte mich ihm nicht nähern. Ich konnte ihm die Hand nicht halten. Ich konnte ihm nicht helfen. Es war zuviel." Philippe Lançon ist außer Lebensgefahr. Ihm ist in die rechte Wange geschossen worden."

"Ungerechtfertige Provokation"

In Ägypten hat das Dar al-Ifta, das ägyptische "Fatwa-Amt", eine der höchsten religiösen Behörden des Landes, die neue Ausgabe von Charlie Hebdo scharf verurteilt, meldet die FAZ mit dpa: "Diese "ungerechtfertigte Provokation von 1,5 Milliarden Muslimen weltweit" werde eine neue Welle des Hasses in der französischen und in westlichen Gesellschaften auslösen. Das sei nicht förderlich für das Zusammenleben und den Dialog, um den Muslime sich bemühten."

Das Cover mit dem weinenden Mohammed war auch der weiße Elefant beim Treffen der deutschen Islamkonferenz, berichtet Tilman Steffen auf Zeit online. Erol Pürlü vom Koordinationsrat der Muslime und Bekir Alboga von Ditib "wünschen sich mehr Respekt und Sensibilität von den Zeichnern, auch von Charlie Hebdo. "Ich gehe mit anderen Religionen auch respektvoll um", sagt Pürlü. "Man muss keine Würdenträger in den Dreck ziehen." Deshalb würden Muslimvertreter in den nächsten Tagen auch Zeitungsredaktionen besuchen, um Respekt vor religiösen Gefühlen anzumahnen, kündigte er an. Unterstützung erhalten sie dabei von den Grünen im Bundestag: "Nicht alles, was Meinungs- und Pressefreiheit schützen, muss man auch sagen und schreiben", sagte der religionspolitische Sprecher der Fraktion, Volker Beck." (Ist das wirklich die Lehre, die die Grünen aus dem Attentat ziehen? Eine weiche Zensur statt einer harten?)

Ganz deutlich in die andere Richtung wurde dagegen Ahmed Aboutaleb, der Bürgermeister von Rotterdam, in einem Interview mit dem niederländischen Fernsehen. Laut Buzzfeed sagte er (in der englischen übersetzung): "It"s incomprehensible that you turn against freedom like that, but if you don"t like this freedom, for heaven"s sake, get your suitcase, and leave."

Der Antisemitismus

In Tunesien, dem einzigen arabischen Land, das sich nach dem arabischen Frühling auf den Weg in die Demokratie gemacht hat, ist die Enttäuschung groß, dass Yoav Hattab in Jerusalem beerdigt wurde, berichtet Elodie Auffray in Libération. Hattab, der zu den Ermordeten des jüdischen Supermarkts gehört, ist der Sohn des tunesischen Großrabbis und Mitglied der kleinen jüdischen Gemeinde in Tunesien. Er studierte in Paris. Auf Facebook haben Tunesier die Seite Je suis Yoav Hattab eröffnet. "Die Frage ist heikel in Tunesien, wo es in den letzten Jahren einige Kontroversen um die "Normalisierung" der Beziehungen zu Israel gegeben hat. Schon der Bezug einer Zugehörigkeit Tunesiens zur "mediterranen Zivilisation" wurde von manchen als verkappte Normalisierung gesehen und hat zu wilden Debatten geführt."

Viele angelsächsische Medien sind zwar betroffen von den Attentaten in Paris, finden die Zeichnungen von Charlie Hebdo aber "rassistisch" (mehr dazu etwa bei quartz.com). Auch die Morde im jüdischen Supermarkt kann man laut BBC-Reporter Tim Willcox so oder so sehen. Slate.fr hat ein Interview mitgeschrieben, das der Reporter während der großen Demo mit einer jüdischen Frau geführt hat. ""Man muss konstatieren, dass Juden im besonderen ein Ziel sind" sagt sie zu ihm in die Kamera. "Der Reporter schneidet ihr das Wort ab und erwidert: "Aber viele Kritiker der israelischen Politik würden sagen, dass auch die Palästinenser unter Juden besonders gelitten haben." Sie spricht sich "gegen Gleichsetzungen" aus. Willcox insitiert: "Aber sie verstehen doch, dass man die Dinge so oder so sehen kann."" In der FAZ sieht Oliver Tolmein die Anschläge als Symptom eines muslimischen Antisemitismus in Frankreich.

Auch französische Medien hatten Charlie Hebdo "Islamophobie" vorgeworfen. Diese Debatte lebt laut Anne-Sophie Jacques im Blog Arrêtsurimages wieder auf. Sie verlinkt auf einen Debattentext von Charb aus Le Monde im letzten Jahr, wo er sich gegen den Vorwurf wehrt: "Charlie widmet seit eh und je viele Zeichnungen den Papisten. Aber die muslimische Religion, die über so viele Völker dieser Erde bestimmt, bis nach Indonesien, soll verschont werden. Warum zum Teufel?" Le Monde erklärt in einem ausführlichen Text den französischen Begriff der Meinungsfreiheit und ihre juristischen Grenzen.

Theo Sommer: Feigheit hat nichts mit Mut zu tun

In der Zeit erklärt Theo Sommer, warum es nichts mit Feigheit zu tun hat, wenn seine Zeitung die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo nicht drucken will: Zwar bekennt er sich ohne wenn und aber zur Meinungsfreiheit. Aber: "Jede Zeitung hat ihre eigene Tradition, ihr eigenes Ethos, ihren eigenen Stil. Die müssen - und dürfen - auch die Art bestimmen, wie sie die blutigen Pariser Ereignisse wahrnimmt. Den Nachdruck bloß als demonstrative Mutprobe zu verlangen, verkennt diese Grundtatsache."

Zeit-Redakteurin Iris Radisch widerspricht dem Ex-Herausgeber. Man müsse die Bilder nicht gut finden, um sie abzudrucken: "Aber es ist schwierig, die ermordeten Kollegen als Helden der Pressefreiheit mit großen Worten zu verehren und gleichzeitig die Bilder, für deren freie Verbreitung sie gestorben sind, verschwinden zu lassen." Ihr Artikel ist mit drei Mohammed-Karikaturen bebildert.

Weitere Artikel: In der Welt trauert die Schriftstellerin Marie Darrieussecq um ihre Freunde von Charlie Hebdo. In der taz erinnert Deniz Yücel daran, dass Stéphane Charbonnier, der ermordete Chefredakteur von Charlie Hebdo, im Oktober 2014, als kurdische Kämpfer Kobane gegen den IS verteidigt hatten, erklärte: "Aujourd"hui, je suis kurde" - "Heute bin ich Kurde".
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Medien

In der FAZ zieht der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu von der rechtskonservativen AKP eine Parallele im Denken von Pegida und dem Islamischen Staat und er streicht die demokratischen Qualitäten der Türkei heraus: "Die Türkei unterscheidet sich von Syrien und dem Irak dadurch, dass wir eine Demokratie sind. In der Türkei kann jeder am politischen Leben teilnehmen und abweichende Meinungen äußern." (Das hören die kürzlich verhafteten türkischen Journalisten sicher gern.)

Zum zehnten und letzten Mal hat der Umblätterer die zehn besten Feuilletonartikel des Vorjahrs gekürt. Hier die Liste.
Archiv: Medien

Politik

In der NZZ hofft der pakistanische Schriftsteller Mohammed Hanif, dass auch die städtische Mittelklasse in seinem Land endlich begriffen hat, dass der Krieg der islamischen Fundamentalisten, die vor wenigen Wochen über 130 Schulkindern ermordet haben, auch ihr Krieg ist: "Keine halbherzigen Massnahmen mehr, kein Unterscheiden zwischen "guten" und "schlechten" militanten Islamisten, Nulltoleranz für diejenigen, die solche ungeheuerlichen Untaten unterstützen oder sie gar zu erklären suchen. Wir haben diesen unseren Krieg lange genug verleugnet, die Welt hat uns lange genug Terroristen geschimpft, und nun zählen wir selbst zu den am härtesten getroffenen Opfern des Terrorismus. Egal, was die Welt sagt, dies ist nun unser Krieg, und wir werden ihn nach unserer Art ausfechten."

Der in der Ukraine lebende russische Lyriker Wladimir Jasskow antwortet in der FAZ auf einen in der Zeit abgedruckten offenen Appell deutscher Prominenter, die unter dem Titel "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!" Angela Merkel aufforderte, einen "konstruktiven Dialog" mit Russland zu suchen, statt Sanktionen durchzusetzen. Jasskow wendet sich direkt an Wim Wenders, den einzigen Unterzeichner, den er kennt, und fragt, wo eigentlich das Mitgefühl für die Ukrainer bleibt? "Nur scheinbar bringen Sie es nicht über die Lippen, den wahren Verursacher dieser geopolitischen Katastrophe, in die wir alle mit hineingerissen werden, beim Namen zu nennen. In Wirklichkeit unterstreichen Sie in diesem Brief wiederholt, dass Sie sich weigern, einen Unterschied zwischen dem Angreifer und dem sich Verteidigenden, zwischen Vergewaltiger und Vergewaltigtem, zu sehen. So wird schöngeistiger Humanismus zum inhumanen Relativismus. Indem Sie, die Wahrheit verwischend, die Verantwortung auf alle gleichmäßig verteilen, spielen Sie de facto den Advocatus Diaboli. Die erhabenen Worte vom Frieden durchdringt zuweilen das schrille Falsett des Zynismus."
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Überwachung

Die Bekenntnisse zur Meinungfreiheit sind abgelegt, nun kassieren die Politiker sie wieder ein und fordern wie David Cameron, dass es "kein Kommunikationsmittel geben soll, das wir nicht lesen können". Cory Doctorow warnt in Boingboing: "Wenn Whatsapp oder Google Hangout eine speziell eingebaute Fehlstelle haben, dann werden ausländische Spione, Kriminelle und korrupte Polizisten (wie die Polizisten, die sensible Informationen an Boulevardblätter weitergaben) diese Stelle entdecken. Sie - und nicht die Sicherheitsdienste - werden fähig sein, sie zu nutzen, um all unsere Kommunikation abzufangen. Von den Fotos der Kleinen in der Badewanne, die Sie an die Großeltern schicken, bis zu Handelsgeheimnissen." Mehr zum Thema beim Guardian (hier) und bei Spiegel online (hier und hier).
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