9punkt - Die Debattenrundschau

Je ne suis pas Kouachi

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2015. Die neue Charlie Hebdo erscheint mit Mohammed-Cover und versöhnlicher Botschaft: "Tout est pardonné." Aber nun beginnt der Streit. Wir zitieren mehrere Artikel muslimischer Intellektueller, die sich weder von der westlichen Linken noch der muslimischen Rechten in Schubladen stecken lassen wollen. Auch in Frankreich wird gestritten: Wie islamophob ist Frankreich? Michel Houellebecq hat sich gestern Abend bei Canal Plus zum ersten Mal zum Massaker und zum Tod seines engen Freundes Bernard Maris geäußert. "Oui, je suis Charlie", sagt Houellebecq.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.01.2015 finden Sie hier

Europa

Die neue Charlie Hebdo erscheint mit Mohammed-Cover, teilte laut Spiegel Online der Anwalt des Blattes, Richard Malka mit: "Seit 22 Jahren habe es keine Ausgabe der Zeitschrift gegeben, in dem nicht der Papst, Jesus Christus, Bischöfe, Rabbiner, Imame oder der Prophet Mohammed karikiert worden seien." Das Heft soll in drei Millionen Exemplaren und 16 Sprachen erscheinen.

@vieuxrenard, alias Ulf Buermeyer, ein Richter in Berlin, liefert auf Netzpolitik auch schon eine Interpretation des Covers: "Natürlich lässt sich Charlie Hebdo nicht einschüchtern. Doch zugleich kann man sich nur noch staunend verneigen vor so viel menschlicher Größe angesichts des vielfachen Mordes an Kollegen und Freunden, vor dieser ausgestreckten Hand gegenüber Menschen muslimischen Glaubens: Mohamed weint, und selbst der Hintergrund des Covers ist in dunkelgrün gehalten, in der Farbe des Propheten, gerade so als wollten die Überlebenden sagen: Liebe Muslime, wir wissen, nicht eure Religion ist die Ursache dieser Barbarei, sondern deren Perversion."

Für die Inrocks hat sich Anne Laffeter schon vor ein paar Tagen mit Luz unterhalten, dem Zeichner des neuen Covers und Erfinder des Slogans "Je suis Charlie". Er überlebte das Attentat nur, weil er erst auf den letzten Drücker zur Redaktionskonferenz kam. Luz über seine Zweifel, seine Befürchtungen und seine Wut. So sieht er eine "symbolische Last" auf den Schultern aller Karikaturisten und erklärt, inwiefern sich die Natur von Karikaturen seit der Affäre um die dänischen Mohamed-Zeichnungen 2007 verändert habe. "Seither ist Verantwortungsfreiheit der Karikatur schrittweise verschwunden. Seit 2006 werden unsere Karikaturen wörtlich, für bare Münze genommen. Leute oder Zeichner wie Plantu meinen, man dürfe keine Mohammed-Zeichnungen machen, weil sie durch das Internet auf der ganzen Welt sichtbar sind. Man müsse aufpassen, was man in Frankreich macht, denn es könne Reaktionen in Kuala Lumpur oder sonstwo auslösen. Das ist unerträglich."

Perlentaucherin Thekla Dannenberg hat am Sonntag bei Betrachten der großen Demo eine Erfahrung jenseits aller geopolitischen Lehren gemacht. Die Franzosen reagieren als Gesellschaft, während USA und UK nur mit staatlichen Mitteln reagierten: "Ausgerechnet die Franzosen, die so gern als staatshörig verspottet werden, die verächtlich gemachten "cheese-eating surrender monkeys" legen einen Mut und zivilgesellschaftlichen Geist an den Tag, zu dem sich Amerikaner und Briten nicht haben aufraffen können."

So wie Kenan Malik neulich konstatierte, dass der Streit nicht zwischen, sondern innerhalb von Communities ausgetragen wird, kommentiert Richard Herzinger heute in seinem Blog: "Was den freien Westen ausmacht, ist nicht mit Kategorien von Geografie oder "Kulturkreisen" zu fassen, aber auch nicht mit ideellen Abstraktionen. Die westlichen Werte gelten nicht nur für Angehörige des "Abendlandes", für die Anhänger bestimmter Nationen, Stämme, Religionen oder philosophischer Schulen. Was sie sind und welchen unermesslichen Schatz sie darstellen, kommt im vollen Umfang erst zu Tage, wenn ihre Todfeinde sich anschicken, sie auszulöschen."

Luca Rinaldi war nach dem Massaker bei Charlie Hebdo für das italienische Internetmagazin Linkiesta in "Neuf trois" unterwegs, der Banlieue Seine-Saint Denis, die ein sozialer Brennpunkt ist. Er begegnete dort niemandem, der sagte, er sei Charlie. Auf dem Weg fällt ihm eine Halal-Schlachterei auf: "Sie ist voller Licht und Farben. Ich beschließe, sie zu fotografieren. Aber ein Junge im Laden, den ich nicht bemerkt hatte, macht eine ablehnende Handbewegung. Dann winkt er mich heran. Ich zeige ihm den Fotoapparat und das einzige Foto des Geschäfts, das ich gemacht hatte. Ich kann das Foto löschen, wenn er will, signalisiere ich. Wir gehen in den Laden, und ich zeige ihm die anderen Fotos, um ihn zu beruhigen. Da sind auch die Fotos von der famosen Demo für Gaza an der Place de la République. "Waren Sie da?", fragt er mich neugierig. "Ja", antworte ich. "Es ist gut, für Gaza zu demonstrieren", sagt er, "ihr seid einen Tag lang Charlie, wir sind alle Tage lang Gaza." Am Ende sagt er, dass ich das Foto behalten darf."

Michel Houellebecq

(Via Metronews) Bei Canal Plus spricht Michel Houellebecq zum ersten Mal über das Massaker. Der Ökonom Bernard Maris war ein enger Freund von ihm. Ja, auch er sei Charlie. "Es ist das erste Mal, dass jemand, den ich liebe, ermordet wurde." Das Interview beginnt in Minute 14.


Die Themen des Streits

Im britischen Spiked Magazine macht Frank Furedi die Mehrheitsgesellschaft verantwortlich für die oft radikalmuslimische Einstellung insbesondere junger Muslime (laut einer Umfrage sollen 27 Prozent der 18- bis 24-jährigen Franzosen eine positive Einstellung zum IS haben). Die Europäer haben das Vertrauen in ihre Werte verloren, meint er. So zeigten Untersuchungen, dass im französischen und britischen Schulunterricht Themen wie die Kreuzzüge oder der Holocaust weitgehend vermieden würden, aus Angst vor Gegenreaktionen: "Die bloße Tatsache, dass sogar eine "ausgewogene" Behandlung der Kreuzzüge vermieden wird, um keine kulturellen Empfindlichkeiten zu verletzen, zeigt die defensive Moral und das intellektuelle Klima, das in europäischen Schulen Einzug gehalten hat. Wenn eine Diskussion über den Holocaust vermieden werden kann, welche anderen Themen sind dann noch verhandelbar? Die Berichte legen außerdem nahe, dass die säkularen Schulen das Vertrauen in ihre Werte verloren haben. Sie sind gar nicht mehr darauf vorbereitet, in einen Streit um Ideen einzutreten, der schweigend in ihren Gesellschaften kocht."

Auch unter den französischen Intellektuellen geht die Kontroverse jetzt los. Bei Huffpo.fr wehrt sich der Soziologe Jean-Christophe Moreau gegen Vorwürfe der Journalisten Alain Gresh von Le Monde diplomatique, der laut Moreau zusammen mit Tariq Ramadan am prominentesten die These der "Islamophobie" der französischen Gesellschaft verficht und den Begriff überhaupt in Frankreich institutierte. Moreau hat zusammen mit Isabelle Kersimon eine "Contre-Enquête" zu dieser These geführt, die etwa zum Ergebnis kommt, dass die französische Bevölkerung sehr wohl zwischen Ideologie und den einzelnen zu unterscheiden weiß. Gresh hat diese Gegenuntersuchung scharf angegriffen. Moreau insistiert: "Eine solche Reflexion muss stattfinden, weil wir gegen alle Arten der Gleichsetzung Rationalität aufbieten müssen. Einerseits um den Teufelskreis der "Desolidarisierung" der Muslime angesichts der Untaten zu unterbrechen, die bei allem, was man sagen mag, stets so etwas wie eine kollektive Schuldbehauptung enthält. Aber auch um mit der Idee zu brechen, dass es in Frankreich eine besondere Neigung zum Hass gegen Muslime gebe."

Im Gespräch mit Michael Hesse von der Berliner Zeitung zieht der Islamforscher Olivier Roy überraschende Parallelen: "Es gibt viele übereinstimmende Punkte zwischen den französischen Attentätern und den Terrorgruppen der siebziger Jahre wie Baader-Meinhof. Es gibt einen arabischen Einfluss und eine Gruppe von Intellektuellen, welche die spezifisch eigene Ideologie konstruieren und der Ordnung des Establishment den Krieg erklären. Für Baader-Meinhof war es die globale Revolution, für diese jungen Leute ist es der globale Dschihad. Sie verfolgen hierbei, in einer extremeren Variante, denselben Ansatz: Sie suchen gezielt Menschen für Hinrichtungen aus und suchen den Kontakt zum Dschihad anderer revolutionärer Bewegungen..."

Schon gestern hat Olivier Roy in Le Monde klargestellt: Es gibt keine islamische Community in Frankreich, und die Attentäter gehören schon gar nicht dazu. Und noch ein Klischee bekämpft Roy, nämlich dass sich Muslime angeblich nicht von dem Attentat distanzierten: "Im Gegenteil, das Internet birst vor Verurteilungen des Anschlags und antiterroristischen Fatwas."

Muslime gegen das Klischee

Progressive Muslime stehen zwischen ihren konservativ religiösen Glaubensgenossen, rechten Islamhassern und linken Multikulti-Anhängern, denen sie nicht islamisch genug sind, erklärt im Interview mit Open Democracy Ani Zonneveld, eine aus Malaysien in die USA emigrierte muslimische Aktivistin, die den Verein "Muslims for Progressive Values" gegründet hat. Es gibt fortschrittliche Muslime und sie sind genauso repräsentativ für ihren Glauben wie die konservativen, das sollte man endlich anerkennen, fordert sie. Was den islamischen Terrorismus angeht, müssten die Muslime aber auch etwas tun: "Wir müssen ehrlich sein. Das Rekrutierungsmaterial von Isis und Al Qaida ist sehr grell. Auf jeder Seite gibt es religiöse Sprache und islamischen Inhalt. Wie benutzen Religion, um radikale Kids für ihre Sache zu gewinnen. Warum klappt das? Mit dieser Frage beschäftigen sich muslimische Institutionen nicht. Es klappt, weil diese Sprache vertraut ist. Sie haben gelernt, dass der Islam exklusiv ist und wir die einzigen sind, die in den Himmel kommen. Wir sind von wahabitischen Lehren infiltriert. Wir müssen das ansprechen."

Wer sagt überhaupt, die Mohammed-Karikaturen beleidigen die Muslime, fragt wütend der Autor und Jurastudent Omer Aziz in The New Republic. Er findet gerade diese Unterstellung rassistisch und beleidigend. "Die Beleidigung ist doppelt. Selbstzensur stempelt nicht nur Muslime in der ganzen Welt als irre Fanatiker ab, sie erschwert auch den Fortschritt frei denkender Muslime in der islamischen Welt, die gegen zutiefst konservative sunnitische Gelehrte aufstehen, gegen schiitische Ayatollahs, die behaupten, die Menschen beschützen zu müssen, gegen die Golfstaaten, die den Islamischen Staat und Al Qaida finanzieren sowie gegen Milizen und den Mob, der jeden Tag in der islamischen Welt Komiker und liberale Autoren angreift. Für meine irakischen, pakistanischen und palästinensischen Freunde, die mutig religiöse Dogmen in ihren Ländern in Frage stellen, ist die Gefahr eines Massakers täglich erlebte Realität. Sie sitzen an ihren Schreibtischen und sind bei jedem Satz, den sie schreiben, vorbereitet, dafür sterben zu müssen. Welche Botschaft senden wir ihnen, wenn wir Bilder zensieren, weil wir nicht beleidigen wollen?"

Auch Usama Hasan, Islamforscher an der britischen Quilliam Foundation, möchte nicht mit jenen Muslimen in einen Topf geworfen werden, die sich über Mohammed-Karikaturen empören. Seit eineinhalb Jahrhunderten versuche der Islam sich zu reformieren, behauptet er im britischen Magazin Prospect. Und das werde irgendwann auch gelingen: "Wir fordern Menschenrechte oder einen "humanistischen Islam", der darauf basiert, dass Menschlichkeit nach dem Bild Gottes geformt ist. Wir fordern eine absolute Gleichheit der Menschen, dazu gehört auch volle Gleichberechtigung der Geschlechter, basierend auf einer Gleichheit aller Menschen vor Gott. Eine sehr radikale Idee im patriarchalischen, Sklaven haltenden rassistischen, in Stämme zerfallenden 7. Jahrhundert in Arabien. Wir fordern..."

Reiner Wandler unterhält sich für die taz mit dem algerischen Karikaturisten Ali Dilem, dem die Kollegen von Charlie Hebdo halfen, als er in den Neunzigern von Terror bedroht war. Und bedroht ist er noch heute: "Da ich ein Zeichner bin, habe ich nicht den Schutz, den ein Politiker hat. Ich habe keine Villa mit gepanzerten Türen, ich habe keine Leibwächter. Ich kann nur das Risiko verringern, in dem ich aufpasse, zu Hause bleibe, keine regelmäßigen Tagesabläufe haben. Ich habe jahrelang in keinem Restaurant gegessen. Ich kann nicht einfach so auf der Straße spazieren gehen. Am schwierigsten ist es, trotz dieser Gefahr weiterzuarbeiten."

Hier die letzte von Dilem getwitterte Zeichnung: "Die Muslime Frankreichs fürchten die Gleichsetzung."

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Politik

Eine Folge des Anschlags von Paris sind neue Sicherheitsgesetze - auch in Deutschland. Kathrin Schuller hat auf Zeit online die wichtigsten geplanten Gesetze zusammengestellt. So will Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) künftig "Reisen von Islamisten in Krisengebiete noch stärker unter Strafe stellen. Bisher konnte nur bestraft werden, wer sich in einem Terrorcamp aufhielt, um dort einen Anschlag vorzubereiten. Künftig soll es schon strafbar sein, wenn jemand mit dem Vorsatz, am Dschihad teilzunehmen oder sich terroristisch ausbilden zu lassen ausreisen will. Ob er in dem Terrorcamp auch ankommt, würde dann keine Rolle mehr spielen." Außerdem geplant: Vorratsdatenspeicherung, europäisches Fluggastdaten-Abkommen und Entzug der Staatsbürgerschaft von Dschihadisten.
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