9punkt - Die Debattenrundschau

Schuhe im Schlafsack

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2014. Katja Petrowskaja betrachtet in der FAS mit Entsetzen die europäische Reaktion auf die Ukraine-Krise. Die NZZ trauert um Londons Vergnügungsviertel Soho. In der taz schreibt Gabriele Goettle einen Nachruf auf den Obdachlosen Jürgen Jonas. taz und FAS feiern die Tagung des Chaos Computer Clubs als Ort der Selbstbestimmung und Aneignung. "The Interview" läuft nun in Netz und Kino, künstlerisch eine Enttäuschung, finanziell ein Erfolg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.12.2014 finden Sie hier

Internet

Dank der geopolitischen Marketing-Kampagne ist der Film "The Interview" im Netz nun doch gut gelaufen und hat am Weihnachtswochenende 15 Millionen Dollar eingespielt, berichtet Dante D"Orazio in The Verge: "Das schlägt ohne Mühe die 2,8 Millionen Dollar, die der Film in den Kinos verdient hat. Aber bekanntlich haben nur einige kleine Independent-Kinosäle den Film gestartet - mit den Sälen der Majors würde das Ergebnis wohl ganz anders aussehen."

Eine Kritik des Films bei heise.de klingt nicht unbedingt vielversprechend: "Die Komödie setzt auf Humor der Marke Holzhammer - und zieht dabei ausgiebig das F-Register: Fäkalausdrücke, Feuerwaffen, fleischliche Gelüste, fiese Feinde und feste Trottel." Auch Andrea Köhler ärgert sich in der NZZ schwarz, dass sie zu Weihnachten extra nach Queens rausgefahren ist, um so eine alberne Buddy-Komödie zu sehen.

(via huffpo.fr) Einige Künstler, darunter Pharrell Williams haben eine neue Interessenvertretung gegründet, die Global Music Rights, und fordern von Google und Youtube: "Lösche unsere Songs oder bereite Dich auf eine Eine-Millarde-Dollar-Klage vor", berichtete Eriq Gardner schon vor Weihnachten im Hollywood Reporter: Durch diese neue Organisation "verwaltet Irving Azoff, ein Schwergewicht der Branche die Rechte von über 20.000 Songs, darunter Kompositionen von den Eagles, Pharrell Williams, John Lennon und anderen. " Viele der Songs seien zuvor von anderen Organisationen verwaltet worden, "die dank eines Vergleichs mit dem Justizministerium gezwungen waren, Blankolizenzen zu erteilen, sobald ein digitaler Anbieter wie Youtube solche Rechte anforderte. Das war einmal."

Außerdem: Viel Berichterstattung über die Tagung des Chaos Computer Clubs unter dem Hashtag #31C3 bei heise.de: "Hacker sollen wieder das Netz regieren." Ausgerechnet in der FAS fordern Constanze Kurz und Frank Rieger vom CCC: "Holt euch die Macht zurück!" In der taz berichtet Martin Kaul recht schwärmerisch von der Hamburger Jahrestagung des Chaos Computer Clubs: "Wenn es um Selbstbestimmung geht und um Aneignung, dann ist dies der Ort des Jahres."
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Europa

Verkehrte Welt diagnostiziert Katja Petrowskaja in einem verweifelten FAS-Artikel zur Ukraine-Krise: "Durch den "Fall Ukraine" ist das ganze europäische Glossar von Wert und Wahrheit ins Wanken geraten, inklusive des einfachsten Verständnisses von Krieg und Frieden. Das Opfer wird für seine Schwäche beschuldigt, es wird oft über die schlechte Laune und den guten Appetit von Putin gesprochen, als wären dies Rechtfertigungen für sein Handeln. Als "Kriegsstifter" werden jene stigmatisiert, die gegen den Krieg mit Wort und Tat kämpfen (auch Politiker und Osteuropa-Experten). Und die, die den Krieg leugnen, gelten nun als "Pazifisten" par excellence."

Petrowskajas Artikel gehört zu einem mehrseitigen Europa-Dossier der FAZ am Sonntag. Claudius Seidl konstatiert, dass wir meistens den "Westen" meinen, wenn wir von Europa sprechen. Nils Minkmar besucht Geert Mak in Amsterdam. Cord Riechelmann erinnert an den Philosophen Jean Cavaillès. Die Autorin Nino Haratischwili betrachtet Europa aus ihrer Perspektive als Georgierin. Und Eva Menasse beginnt zu befürchten, "dass man historische Errungenschaften auch kaputtreden und kaputtjammern kann". In der heutigen FAZ berichtet außerdem Kerstin Holm von einem Treffen deutscher und russischer Journalisten in Sotschi.

In der SZ erzählt Frank Nienhuysen, wie die Ukrainer nun auch in ihren Provinzstädten die Lenin-Denkmäler stürzen: "In Kiew wurde Lenin schon vor einem Jahr vom Sockel gezogen. In Charkiw traf es im Spätsommer gleich mehrere Denkmäler, nachdem der Gouverneur ihnen den Status eines historischen Monuments entzogen hatte. Eines war mehr als 20 Meter hoch, bevor es im Jubel Tausender Demonstranten krachend zu Boden schlug. Der Gouverneur sagte dann noch, er hätte es bevorzugt, wenn das Denkmal etwas sicherer und professioneller abgetragen worden wäre."
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Ideen

Gil Kessary stellt in huffpo.fr einige ältere Zitate berühmter Autoren zum Islam zusammen, darunter dies von André Malraux aus dem Jahr 1956: "Das große Phänomen unserer Epoche ist die heftige Wiederbelebung des Islam. Dieser von Zeitgenossen unterschätzte Aufstieg des Islam ist den Anfängen des Kommunismus unter Lenin vergleichbar. Seine Folgen sind noch nicht abzusehen. die westliche Welt scheint auf diese Konfrontation kaum vorbereitet."

Henryk Broder sieht die "Islamisierung unserer Gesellschaft" in der Welt unterdessen schon in vollem Gange.
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Gesellschaft

Auch Londons Vergnügungsviertel Soho wird jetzt mit aller Macht gentrifiziert, beobachtet Marion Löhndorf in der NZZ und trauert um dessen verlotterte Herrlichkeit: "Gerade wurde wieder eine der alten "Institutionen" des Viertels geschlossen, der Burlesk-Nightclub Madame Jojo"s. Ein halbes Jahrhundert bot Madame Jojo"s nicht nur Strippern eine Bühne, sondern auch aufstrebenden Musikern. Lorde, Adam Ant, Adele, The XX traten dort auf. Die Jojo-Affäre brachte für viele Bewohner, Künstler, Performer und Besucher das Fass zum Überlaufen. Dabei war der Anlass, typisch Soho, umstritten: Ein Türsteher hatte unliebsame Gäste mit einem Baseballschläger traktiert."

Gabriele Goettle schreibt in ihrer monatlichen Großreportage einen verspäteten Nachruf auf den Berliner Obdachlosen Jürgen Jonas: "14 Winter verbrachte er im Freien und ihm ist dabei keine einzige Zehe abgefroren, nur eine kleine Erfrierung hatte er mal, gab er zu, die war erst schwarz und mit der Zeit wurde sie wieder hell. Seither trug er Schuhe im Schlafsack."
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