9punkt - Die Debattenrundschau

Der Anfang der Aufteilung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2014. In der Berliner Zeitung fragt sich Götz Aly, ob die Fremdenfeindlichkeit in Dresden nicht eingebaut ist. Der Streit ums Leistungsschutzrecht ist nicht ausgestanden - laut Wall Street Journal und Businessweek wird er wohl in Brüssel fortgesetzt. Das NYRBlog widmet dem Dalai Lama eine Art Nachruf zu Lebzeiten: Keiner will sich mehr mit ihm blicken lassen, nicht mal der Papst. Die  SZ berichtet über russische Ernüchterung in der Ostukraine. Die Welt stellt Iwan Iljin vor, einen von Putin verehrten Philosophen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.12.2014 finden Sie hier

Politik

Den Dummköpfen der Pegida-Bewegung, die gestern in Dresden auf 15.000 Menschen anschwoll, hält Hasnain Kazim in Spiegel Online vor allem ihre Kaltschnäuzigkeit vor Augen: "Den Demonstranten ist offenbar gleichgültig, dass sie gegen die Opfer von Extremisten protestieren - nicht gegen die Extremisten selbst."

In der Berliner Zeitung weiß Götz Aly, warum die Pegida ausgerechnet in Dresden so stark werden konnte: Die Stadt war schon immer fremdenfeindlich, mindestens seit 1840: "In Dresden waren "höchstens" vier jüdische Kaufleute erlaubt, weil sonst "die ganze Schlossgasse von jüdischen Kaufleuten wimmeln und der Handel in die Hände der Juden" geraten würde... Auf die Bitte der Israeliten, die Restriktionen zu lockern, entgegnete der Abgeordnete Dr. Wilhelm von Mayer ohne jedes Argument und in bestem Pegida-Ton: "Wir wollen nicht!""

Nach seinen Erfahrungen in Frankreich meint Rudolf Balmer in der taz, dass alle Versuche bürgerlicher parteien, mit populistischen Parolen den rechtsradikalen Parteien die Stimmen abzugraben, nach hinten losgehen: "Als Sarkozy von seinem Immigrationsminister Eric Besson (einem Überläufer aus der Parti Socialiste) 2009 eine Debatte über die nationale Identität organisieren ließ, ermutigte er die Rechtsradikalen, an offiziellen Diskussionsabenden teilzunehmen und im Internet nach Herzenslust ihren Hass und Nationalismus auszuleben. Über Wochen konnte der Front National (FN) so xenophobe, nationalistischen Thesen auf Staatskosten an ein breites Publikum bringen." Jetzt bekommt der FN seine Wähler sogar von den Sozialisten.

Der Dalai Lama war schon mal besser vernetzt, beobachtet Jonathan Mirsky im NYRBlog: "China-Beobachter, Freunde Tibets und Bewunderer des Papstes Franziskus waren enttäuscht, als der Papst letzte Woche bekanntgab, dass er den Dalai Lama bei dessen Rom-Besuch nicht treffen würde. Der Dala Lama war mit anderen Friedensnobelpreisträgern nach Rom gekommen, weil sie eine geplante Veranstaltung in Südafrika hatten absagen müssen, denn Pretoria hatte dem Dalai Lama ein Visum verweigert."
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Medien

Emily Greenhouse berichtet für die Businessweek über die spanische Google-Steuer und darüber, warum sie für Google ein schlechtes Zeichen ist: "Jenseits des spanischen Gesetzes lugt da noch gemein eine Bemerkung des neuen EU-Kommissar für Digitales, Günther Oettinger, um die Ecke. Oettinger hat sein Amt letzt Monat übernommen und als erstes angekündigt, dass er die Urheberrechte im Sinne des deutschen Leistungsschutzrechts reformieren will."

Auf einen Unterschied zwischen dem deutschen Leistungsschutzrecht und der spanischen Google-Steuer macht David Roman in in einem Blog des Wall Street Journal mit Blick auf kommende EU-Regelungen aufmerksam: "Das spanische Gesetze erlegt es den spanischen Verlegern auf, Google News die Snippets in Rechnung zu stellen. Vor allem aber verbietet das Gesetz den Verlegern, auf dieses Recht zu verzichten, was heißt, dass individuelle Abmachungen zwischen Google und den Medien im Tausch für eine Präsenz in Google News - so lief es in anderen Ländern - hier außer Frage stehen."

Außerdem: Mat Honan erzählt in Wired, wie und warum Pierre Omidyar, der Mäzen von Glenn Greenwalds The Intercept, das Online-Magazin The Racket geschlossen hat, das noch gar nicht eröffnet hatte und das im Netz mit großen Reportagen brillieren sollte.
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel meldet Bernhard Schulz, dass die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ihren Direktor Manfred Kittel entlässt, und zwar mit sofortiger Wirkung. Bezeichnend findet Schulz in der Erklärung einen Satz über das vertrauensvolle Zusammenwirken der Gremien, des Stiftungsrates und des Wissenschaftlichen Beraterkreises. "Mit anderen Worten: Genau an dieser vertrauensvollen Zusammenarbeit hat es zuletzt gehapert. Deutlicher kann die Kritik am nun scheidenden Direktor in einer offiziellen Verlautbarung nicht ausfallen."

Außerdem: In der FAZ beobachtet Niklas Maak den Prozess um den Kunstberater Helge Achenbach. In eben dieser Zeitung zieht Andreas Kilb auch Zwischenbilanz nach einem Jahr Monika Grütters.
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Internet

In der FAZ begibt sich Jan Ludwig auf die Suche nach Barrett Brown, dem Sprecher des Hacker- Kollektivs Anonymous, dem eine lange Gefängnisstrafe droht (mehr dazu in der taz). Ebenfalls in der FAZ untersucht Internetkritiker Evgeny Morozov die allerneuesten Werbestrategien Googles.
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Europa

In einer sehr lesenswerten Reportage berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ von ihrer Winterreise durch den Osten der Ukraine, wo sie inmitten der Industrieruinen, Kälte und Tristesse auch gewisse Hoffnungszeichen entdeckt hat: "Die russische Nowaja Gaseta berichtet, im Kreml überlege man wegen drohender Erfolglosigkeit der (Volksrepubliks-) Projekte LNR und DNR, diese quasi an die Ukraine zurückzugeben - unter der Prämisse, dass sie eine extrem weitreichende Autonomie zugesichert bekommen. Die Idee von "Neurussland" sei nicht mehr populär unter Putinisten, heißt es, weil die Massen in anderen ukrainischen Städten, in Charkiw, Cherson oder Odessa, nicht zum Aufstand zu bewegen gewesen seien."

Einen Fortschritt der Öffentlichkeit beobachtet Sonja Margolina in dem Blog starke-meinungen.de in Bezug auf Russland: "Die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse über den asymmetrischen Krieg Russlands gegen die Ukraine und über die subversiven Aktivitäten des Kremls in den europäischen Staaten erlauben es nicht mehr, Russland zum Opfer des imperialistischen Westens zu stilisieren."
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Ideen

Julia Smirnowa stellt in der Welt den russischen Philosophen Iwan Iljin vor, der neben Alexander Dugin zu einem der Meisterdenker Wladimir Putins gerechnet wird. Er lebte im westlichen Exil und dachte bereits in den Fünfzigern über die postbolschewistische Zeit nach: "Iljin ist der Meinung, dass ausländische Staaten an einem schwachen Russland interessiert seien und deshalb seinen Zerfall vorbereiteten. Die westlichen Völker verstünden russische Eigenheiten nicht; sie wollten den "russischen Besen" in einzelne Ruten aufteilen, sie zerbrechen, um damit "das erloschene Feuer ihrer Zivilisation" anzuheizen. Unter Russland versteht Iljin das Russische Imperium, und die Unabhängigkeit der ehemaligen Provinzen, etwa der Ukraine, wäre für ihn der Anfang der Aufteilung."
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