9punkt - Die Debattenrundschau

Mit dem Blutdruck eines Bomberpiloten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2014. In Zeit online polemisiert Jeff Jarvis gegen die deutsche "Technopanik". Die Welt beschreibt, wie die Linkspartei ihr Geschichtsbild zementiert, während Sonja Margolina in der NZZ zeigt, wie Wladimir Putins eurasische Ideologie funktioniert. Bei den Krautreportern erzählt Richard Gutjahr, wie zwei Bloggerinnen die CSU-Politikerin Christine Haderthauer zu Fall brachten. Das Schicksal der Gurlitt-Sammlung bewegt die Feuilletons nach wie vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.11.2014 finden Sie hier

Geschichte

Richard Herzinger analysiert in der Welt, wie die Linkspartei ihr Geschichtsbild selbst in der neuen Thüringer Koalition durchsetzte: "Bewahrt werden soll die Legende, der Gründungsimpuls der DDR sei ein genuin "antifaschistisch-demokratischer" gewesen, und die Diktatur habe sich dort erst allmählich, im Widerspruch zu dieser guten Intention, durchgesetzt. Die Entschlossenheit der Linkspartei, an diesem Mythos festzuhalten, schlägt sich in der faulen Kompromissformel nieder, die sie ihren thüringischen Koalitionspartnern abringen konnte: Die DDR sei "in der Konsequenz" ein Unrechtsstaat gewesen - nicht also schon an ihrer Wurzel."

Zur Legitimation der geopolitischen Ansprüche Russlands beruft sich Wladimir Putin auf Iwan Iljins Ideologie eines eurasischen Imperiums, schreibt die Publizistin Sonja Margolina in der NZZ: "Putin preist nun die Siege russischer Feldherren im Ersten Weltkrieg und wirft den Bolschewisten, die bekanntlich für die Niederlage des eigenen Lands agitierten, Verrat an nationalen Interessen vor. Die Schreibtisch-Träumer aus den Zentren des russischen Exils liefern nun postum Belege für die höhere moralische Bestimmung des russischen Volkes und seine Bereitschaft, für das Vaterland in der ukrainischen Steppe zu sterben."
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Medien

In einem längeren Essay für Zeit online beschreibt Jeff Jarvis die deutsche "Technopanik", als deren lauteste Künder er den Springer Verlag und die Zeitungen ausmacht: "Sie haben sich auf den Erhalt einer massenmedialen Ökonomie versteift, für die nur Quantität zählt: Wie viele Augenpaare sehen diese Anzeige? Sie verübeln es Google, das Geschäftsmodell der Medien verändert zu haben, indem die Suchmaschine ihren Nutzern relevantere und wertvollere Ergebnisse liefert und den Vermarktern ein besseres Geschäftsmodell anbietet, das auf Performance basiert statt auf Masse."

Weiteres: Bei den Krautreportern erzählt Richard Gutjahr, wie die Bloggerin Ursula Prem und Netzaktivistin Nixe Muschelschloss durch Aufdeckung der "Modellauto-Affäre" die CSU-Politikerin Christine Haderthauer zu Fall brachten. In der NZZ bedauert Marc Zitzmann das Ende der legendären nächtlichen Gesprächssendung "Du jour au lendemain" im französischen Radio. Hier das Podcast der allerletzten Sendung, in der der Moderator Alain Veinstein ganz allein redete und die vom Sender zunächst nicht ausgestrahlt wurde, bevor sie nun gar bei Le Seuil als Büchlein herausgebracht wurde.

Weiteres: In der FAZ schildert Friedrich Schmidt die Verheerungen in der russischen Medienwelt, deren erste Opfer die Journalisten sind.
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Kulturpolitik

Durch den Fall Gurlitt ist die Politik gezwungen, sich endlich mit dem Thema Raubkunst auseinanderzusetzen. Jetzt ist es an den Museen, es ihr gleichzutun, meint Hanno Rauterberg in der Zeit: "Die meisten Museen haben sich als kaltherzig und ignorant erwiesen. Dass sie einen gewichtigen Teil der deutschen Schuld beherbergten, schien vielen Museumsdirektoren unerheblich. Sie mussten erst von der Politik gedrängt, müssen jetzt von Monika Grütters abermals vorgeführt werden, um sich der eigenen Geschichte zu besinnen. Dringend sollten sie dem Gurlitt-Beispiel folgen und sämtliche An- und Verkäufe der Kriegs- und Nachkriegsjahre im Netz öffentlich machen."

Hans-Joachim Müller nimmt in der Welt das Kunstmuseum Bern gegen den Vorwurf in Schutz, es habe bei der Übernahme der Gurlitt-Sammlung "vornehm alles Folgemanagement an die deutsche Seite übertragen. Der Nutznießer ist keineswegs Bern allein... Gewinner sind vielmehr die paar bekannten und zahllosen unbekannten Anspruchsberechtigten, denen der Gurlitt-Vertrag eine reelle Chance auf Wiedergewinnung ihres Kunstbesitzes verspricht."

Außerdem zu Gurlitt: Der Standard meldet, dass das Kunstmuseum Bern eine Spende von mindestens einer Million Franken erhalten habe, und die Provenienz der geerbten Werke zu klären.
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Politik

In einem Briefwechsel, den die Zeit abdruckt, erklärt der arabischstämmige israelische Autor Sayed Kashua seinem Freund und Kollegen Etgar Keret, warum er während des Gaza-Krieges mit seiner Familie in die USA ausgewandert ist: "Diesen Sommer begriff ich, dass ich meine Kinder nicht länger anlügen und ihnen erzählen konnte, dass sie eines Tages gleiche Rechte in einem demokratischen Staat hätten. Diesen Sommer begriff ich, dass die arabischen Bürger des Landes niemals eine bessere Zukunft haben würden. Ganz im Gegenteil, alles würde schlimmer werden, die Ghettos, in denen sie leben, würden im Lauf der Jahre noch überfüllter, noch brutaler und noch ärmer werden."

Weiteres: In der FAZ denkt der Historiker Michael Brenner darüber nach, ob es sinnvoll ist, dass sich Israel in der Verfassung als "Jüdischer Staat" definiert.

Die Hongkonger Polizei hat am Dienstag und Mittwoch die Protestlager der Demokratieaktivisten geräumt und dabei Dutzende von Demonstranten festgenommen, darunter mit dem Studentenführer Lester Shum und dem 18-jährigen Joshua Wong zwei der prominentesten Gesichter der Hongkonger Demokratiebewegung, berichtet Felix Lee in der taz. Die Polizei "erfüllt damit einen Gerichtsbeschluss, den Taxi- und Busfahrer vor zwei Wochen erwirkt hatten. Die Richter gaben ihnen Recht, dass die Straßensperren ihre Geschäfte beeinträchtigen."


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Internet

Es gibt einige Gründe, nicht mehr auf einen weitere Machtzuwachs von Google zu setzen, meint Martin Weigert bei Netzwertig: "Die mobile Internetnutzung wächst explosionsartig, der PC wird - wenn er überhaupt noch zum Einsatz kommt - zum Second Screen. Für Google, das den Löwenanteil seines Umsatzes mit der Suchwort- und Website-Vermarktung erzielt, brechen schwierige Zeiten an. Denn mobil besuchen User weniger Websites und suchen weniger - stattdessen verbringen sie ihre Zeit in Apps."

Vor 30 Jahren erschien in den USA das Buch "Hackers" von Steven Levy. Die darin erstmals formultierte "Hackerethik" hat in der Szene bis heute Gültigkeit. Regel 1 lautet etwa: "Der Zugang zu Computern und allem, was einem zeigen kann, wie diese Welt funktioniert, sollte unbegrenzt und vollständig sein." In der taz erzählt Levy Tilman Baumgärtel, wie er darauf kam: "Hacker betrachteten Autoritäten als Leute, die Geheimnisse behalten und sie von Computern fernhalten wollen. Wenn diese Art von Macht zentralisiert ist, kann sie auch immer missbraucht werden, dachten sie. Computer verleihen Leuten, die sie besitzen, Macht. Wenn man sie verbreitete, verteilt man die Macht."

Da Links lediglich auf ihr Ziel, nicht aber auf ihre Quelle verweisen, ist die Glaubwürdigkeit von Informationen im Internet oftmals schwer einzuschätzen, meint die Autorin und IT-Sicherheitsexpertin Yvonne Hofstetter in der Zeit. Abhilfe soll eine automatische Zweiwegeverlinkung schaffen: "Wer den Ursprung einer Information kennt, kann sich ein Urteil über den Urheber bilden, seine Zuverlässigkeit, Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit. Das Kopieren von Informationen würde obsolet, weil der Weg zum Original stets offenstünde. Wir wüssten jederzeit, wer auf unsere Webseite verlinkt, wer unsere Interessen teilt und welche unserer Informationen relevant ist, weil eben viele Links zu ihr zurückführen." Schon Jaron Lanier hatte solche Fantasien, mehr hier.
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Überwachung

An die Adresse der Versicherungskonzerne, die uns jetzt mit Gesundheits-Apps unter die Haut kriechen, um unseren Tarif nach unseren Lebensgewohnheiten zu berechnen, sagt Niklas Maak in der FAZ: "Unter Umständen lebt derjenige gesünder, der mal einen Cheeseburger isst, aber sich dafür weniger Stress im Büro macht und entspannt mit seinen Kindern auf dem Teppich spielt, statt mit dem Blutdruck eines Bomberpiloten durch den Feierabendverkehr zum Work-out zu rasen."
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