9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Schablone

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2014. Im NYRBlog schreibt Alma Guillermoprieto über das anhaltende Entsetzen in Mexiko nach dem Mord an 43 Studenten. Der britische Geheimdienst GCHQ ist traurig über die nachlassende Kooperationsbereitschaft von Internetfirmen, meldet zeit.de. Im Tages-Anzeiger erklärt Thomas Hürlimann, warum er sich so vor der EU ekelt. Abdelwhab Meddeb ist gestorben. Le Monde beschreibt seine unkomfortable Position zwischen den Stühlen. Wir verlinken auf seine Radiosendung und ein altes Interview in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.11.2014 finden Sie hier

Ideen


(Yves Tennevin hat dieses Porträt Meddebs aus dem Jahr 2011 unter CC-Lizenz bei flickr veröffentlicht.)


Der tunesische Lyriker, Essayist und Islamhistoriker Abdehwahab Meddeb ist gestorben. Bei France Culture, wo er eine Sendung über die Aktualität des Islam moderierte, spricht unter anderem der Algerien-Historiker Benjamin Stora über seinen Freund. In seinen letzten Sendungen setzte sich Meddeb unter anderem mit dem Salafismus auseinander. Meddeb war als Autor in Deutschland nicht so bekannt wie er es verdiente. Zwei Bücher finden sich in der Datenbank des Perlentauchers, mehr bei Wunderhorn. Auf signandsight.com lassen sich ein Essay und ein Interview mit Meddeb auf Englisch nachlesen. In einem Interview in der Zeit legte er 2006 seine kritische Position zum Islam heute dar. Hier Nicolas Truongs Nachruf in Le Monde: "Er bekämpfte den radikalen Islamismus ebenso wie die die Verachtung für Muslime, in der sich einige französische Intellektuelle gefallen. Eine ziemlich einzigartige Position, die ihm Feinde auf beiden Seiten Eintrug."
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Überwachung

Die Briten verstehen nicht, dass die großen Technologiefirmen nach den Snowden-Enthüllungen mit einer besseren Verschlüsselung ihrer Dienste die Daten ihrer Kunden schützen, meldet Patrick Beuth auf Zeit online. Das wollen die Kunden gar nicht, glaubt der neue Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ Robert Hannigan, der darum jetzt in der Fincial Times einen "new deal" forderte, der den Geheimdiensten leichteren Zugang zu Nutzerdaten verschafft, informiert Beuth: "Die Geheimdienste müssten in die öffentliche Debatte über Privatsphäre einsteigen, schreibt er: "Ich denke, wir haben eine gute Geschichte zu erzählen." Bislang sieht die so aus:
- Die GCHQ hat sich zusammen mit der NSA heimlich in die Leitungen von Google und Yahoo gehackt,
- transatlantische Glasfaserkabel angezapft und anlasslos gigantische Mengen an Metadaten und Kommunikationsinhalten abgefangen...
- Netzinhalte manipuliert,
- Mobilfunkbetreiber mit kriminellen Methoden gehackt."

Unzufrieden sind die Briten auch mit deutschen Fluggesellschaften, die eine Vorabübermittlung von Fluggastdaten ablehnen (bisher wird das nur bei Flügen in die USA praktiziert), meldet Spon unter Verweis auf einen Artikel im Guardian.
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Medien

Im Spiegel kursiert eine neue Petition gegen Chefredakteur Wolfgang Büchner, betrieben von Print, zum Entsetzen von Online, meldet Stefan Winterbauer bei Meedia: "Statt über das Konzept Spiegel 3.0 inhaltlich zu sprechen, konzentrierten sich alle Aktivitäten der Print-Redaktion auf die Demontage von Büchner. Das Ganze habe Züge einer Treibjagd erreicht. "Die Kluft zwischen Print und Online ist größer als je zuvor", so eine Spiegel-Online-Führungskraft zu Meedia."

Nur halb glücklich ist Ronen Steinke in der SZ mit der auf den Westen zielenden PR der PKK: "Die vielen Bilder kurdischer Kämpferinnen, ob mit geschulterter Panzerfaust oder mit einem Lächeln in der Gefechtspause, die in diesen Wochen den Weg auch in die Nachrichtenmagazine finden, bieten das Gegenstück zur Ballerspiel-Ästhetik des Islamischen Staats. Die IS-Videos sollen Verlierer aus Europas Banlieues anziehen; die Bildersprache der PKK erweist sich als attraktiv für gebildete Menschen."

Dean Baquet Chefredakteur der New York Times sagt im FAZ-Interview mit Nina Rehfeld einen Satz, den deutsche Chefredakteure wahrscheinlich kaum je über die Lippen bringen würden: "Dass wir über schlechte Zustände Bescheid wissen, dass wir immer mehr verstehen, wie die Welt funktioniert, ist eine der besten Folgen der digitalen Revolution."
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Politik

Im Blog der NYRB beschreibt Alma Guillermoprieto den moralischen und staatlichen Zusammenbruch Mexikos nach der Ermordung von 43 Studenten durch ein Syndikat aus Polizei und Mafia: "Es gibt viele Erklärungen dafür, dass die Empörung über diesen Fall den mexikanischen Staat in eine besonders schwere Krise gestürzt hat. Einer davon ist der organisierte, harte und unnachgiebige Kampf der Familien der Opfer, die ja selbst Opfer sind, um die Suche nach ihren toten Kindern. Ein anderer ist die klägliche Unfähigkeit des Staates, das Verbrechen aufzuklären, eine Erklärung zu finden oder auch nur die Geschehnisse kohärent darzustellen."

In der SZ blickt Joschka Fischer etwas ratlos auf die zunehmend vertracktere Lage im Mittleren Osten.
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Stichwörter: Fischer, Joschka, Mafia

Europa

Warum er heilfroh ist, dass die Schweiz nicht zur EU gehört, erklärt Thomas Hürlimann im Gespräch mit Christine Richard im Tages-Anzeiger. Die EU widert ihn förmlich an. Am schlimmsten an der "europäischen Sowjetunion" findet der Schriftsteller ihren Drang, ein neues Menschenbild durchzusetzen: "Es ist der areli­giöse, antirassistische, antifaschistische, homophile, multikultibe­jahende Toleranzler. Schlimm daran sind nicht die einzelnen Eigenschaften, diese Eigenschaften sind durchaus richtig, schlimm ist, dass diese Schablone voraussetzungslos als gültig erklärt wird. Wenn Sie darüber diskutieren möchten, werden Sie sofort feststellen, dass die Toleranzpropagandisten alles andere als tolerant sind. Abweichler werden von einer Phalanx aus Politkommissaren, Richtern, Pädagogen, anonymen Internetjägern und Medienbütteln abgeurteilt. Aber ich höre besser auf. Meine Freundin würde sagen: Jetzt macht er wieder sein grimmiges Anti-EU-Gesicht." Wenn dieses Denken die Schweiz repräsentiert, sind wir allerdings ebenfalls froh, dass sie nicht in der EU ist!

Weiteres: Tilman Krause fürchtet in der Welt (wo man sonst eher anglophil ist), dass es mit der "höheren Lebensart" vorbei ist, wenn Frankreich aufhört, an seine "exception culturelle" zu glauben.
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Gesellschaft

Der Biochemiker Gottfried Schatz ist in der NZZ eigentlich zuversichtlich, dass bald ein Impfstoff gegen Ebola gefunden sein wird, gibt aber zu Bedenken, dass die Bekämpfung von Viren eine heikle Angelegenheit bleibt, weil ihr zuwenig Beachtung geschenkt werde: "Das Institut für Allergie und Infektionskrankheiten in Washington (DC) ist weltweit die größte Einrichtung zur Seuchenbekämpfung, doch ihr Jahresbudget von etwa fünf Milliarden Dollar ist nur etwa halb so groß wie der Betrag, den die Menschheit jedes Jahr für Kaugummi ausgibt. Und Impfgegner gefährden mit ihrer Irrationalität sich selbst und ihre Mitbürger - ohne sich schuldig zu fühlen."

Endlich thematisiert mal jemand den nur aus Rücksicht auf die CSU beschlossenen Irrsinn der Maut, für den eigens neue Behörden und Überwachungstechnologien aufgebaut werden müssen. Ulf Erdmann Ziegler macht in der FAZ darauf aufmerksam, dass Maut in Europa immer noch selten ist: "Wenn also Deutschland von Holländern, Dänen oder Polen Eintrittsgeld nimmt, wird es bald auf populistische Forderungen in den Nachbarländern stoßen, die gegenüber uns genau jenes Prinzip geltend machen wollen, das jetzt gegenüber Ausländern implementiert werden soll. Wie ging noch mal der Autoaufkleber? "Ausländer ist jeder Mensch fast überall.""

Nach hunderten von meist armen und schwarzen Frauen in den USA wird nun auch in Großbritannien eine Frau verklagt, weil sie Alkohol während ihrer Schwangerschaft getrunken hat. Im Guardian beobachtet Simon Jenkins mit Unbehagen, wie menschliche Verhaltensweise kriminalisiert wird: "Wenn das Vergiften eines Fötus mit Alkohol ein Verbrechen sein soll, warum ist es dann keins, ihn abzutreiben? ... Wir brauchen einen Philosophen - würde Raymond Chandler sagen - und wir brauchen ihn schnell. Doch alles, was wir bekommen, sind die verdammten Anwälte."

Außerdem: Martina Lenzen-Schulte warnt in der FAZ vor dem Social Freezing, mit dem Frauen eine Hypothek auf ihren nun mal alternden Körper aufnehmen würden.
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Geschichte


Das Orchester im Gefangenenlager Grjasowez. Foto: Willy Steinberg

In der SZ erzählt Christiane Schlötzer, wie sie über ihren Vater an seltene Bilder des Fotografen Willy Steinberg aus einem russischen Kriegsgefangenen-Lager gekommen ist. Sie werden ab morgen im Museum der Kreisstadt Grjasowez ausgestellt: "Was da entstand, waren wohl Propagandabilder. Klar wird dieser Auftrag anhand von Fotos kommunistischer Schulungen im Lager. Das Bild der "Jazzkapelle Poth" hätte die Welt wohl ebenso sehen dürfen, auch wenn sie es damals nicht gesehen hat. Den Taktstock führte Hans Carste, er komponierte später die Erkennungsmelodie der "Tagesschau". Steinberg konnte sich an viele der Porträtierten gut erinnern. Irgendwann fing er an, das ihm anvertraute Produktionsmittel auf verbotene Weise zu nutzen ... Steinberg hatte die Leica immer in der Brusttasche. Da blieb sie warm. "Bei 30 Grad minus hätte sonst der Verschluss nicht funktioniert.""

Die in Berlin lebende Autorin Brenna Hughes Neghaiwi erzählt in der Paris Review fürs amerikanische Publikum die Geschichte der Stalinallee in Berlin: "Im Bemühen, sich vom despotischen Image des Stalinismus zu distanzieren, riss man im Jahrzehnt nach Stalins Tod seine Statue nieder und errichtete im noch unbebauten Kilometer der Allee moderne Gebäude. Der stalinistische Zuckerbäckerstil hatte sich als weit weniger populär erwiesen als der westliche Modernismus, er galt als gestrig, vielleicht auch zu massiv. Eine Geschmacksänderung schien angebracht."
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