9punkt - Die Debattenrundschau

Gemeinschaftsbeete und Einzelbeete

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2014. Die Welt fragt, warum die Zahl der Hinrichtungen im Iran steigt. In der taz denkt Laura Poitras über die Option der Rückkehr zum Analogen nach. In der SZ erklärt der Schriftsteller Sergej Lebedew die gruselige Ergebenheit der Russen gegenüber Putin. Das Niemanlab berichtet, dass Springer und die New York Times gemeinsam drei Millionen Dollar in eine Plattform für zahlbare Artikel investieren. In der FAZ kritisiert der Kabarettist Dieter Nuhr Medien, die Salafisten Raum geben. Und wir binden ein Videogespräch zwischen Lawrence Lessig und Edward Snowden ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2014 finden Sie hier

Überwachung

"Whoa...Lessig and Snowden", schreibt ein Kommentator bei Youtube. Lawrence Lessig, Autor von "Freie Kultur" und Miterfinder der Creative-Commons-Idee, hat vor einem Universitätsseminar in Harvard eine Stunde lang Edward Snowden per Video interviewt. Lessigs erste Frage bezieht sich auf Snowdens politischen Hintergrund.



Ein weiteres Video zum Thema kann man bei Netzpolitik betrachten: Sascha Lobo und Frank Rieger vom Chaos Computer Club streiten über die Geheimdienstaffäre.

Im taz-Interview mit Andreas Busche erzählt Laura Poitras von ihrem Film "Citizenfour", Edward Snowden und die Konsequenzen aus seinen NSA-Enthüllungen: "Zurückzugehen zum "Analogen" ist eine Möglichkeit, die viele Menschen wieder ernsthaft in Betracht ziehen. Digitale Kommunikation hat sich als verwundbar erwiesen."

Im Blog der NYRB staunt David Cole, wie selbstverständlich es für Edward Snowden und Glenn Greenwald geworden ist, ständig beobachtet zu werden, nicht nur von der NSA, sondern im Film eben auch von Laura Poitras: "But as Poitras"s real-time filmmaking itself reminds us, it"s not just the NSA and its sophisticated computers that make dragnet data collection possible. It"s also a defining feature of a world in which we are personally and collectively complicit in the recording of virtually everything we do. When Deep Throat met Bob Woodward and Carl Bernstein in a parking garage to share the secrets that came to be known as Watergate, he didn"t bring along a documentary film crew to capture the exchange on film. Snowden did. And that"s not just a reflection of Snowden"s personal choice, but of how much society itself has changed since Watergate."
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Religion

Der Kabarettist Dieter Nuhr ist von einem Salafisten wegen Beleidigung des Islam verklagt worden. Im Gespräch mit Michael Hanfeld in der FAZ sagt er dazu: "Da erstattet ein Provinzradikaler Anzeige, und die Medien springen sofort drauf an. Die Taktik der Salafisten ist ja, Muslime und Nichtmuslime gegeneinander aufzubringen. Da können sie sich auf unsere Presse immer verlassen. Ich treibe keine Hetze gegen den Islam, ich mache mich lustig über Radikale und Attentäter." Im Kommentar erklärt Jürgen Kaube, warum Niklas Luhmann die Klage des Islamisten für einen Kategorienfehler gehalten hätte.
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Politik

Gerade ist eine Frau, die ihren mutmaßlichen Vergewaltiger erstach, im Iran hingrichtet worden. Dass die Zahl der Hinrichtungen im Iran steigt, ist für Daniel-Dylan Böhmer in der Welt kein Zufall: "Die konservativen Ultras, die mehr als 600 Menschen pro Jahr hinrichten lassen, besitzen überproportional viel Macht im Iran. Sie haben die Exekution der jungen Frau gegen den erklärten Willen von Ruhanis Justizminister durchgesetzt. Sie dulden die Charmeoffensive des Präsidenten, weil sie sich durch eine Einigung im Atomstreit ein Ende wirtschaftlicher Sanktionen erhoffen."
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Stichwörter: Iran, Hinrichtungen

Geschichte

Nach zwanzig Jahren Planung wird morgen in Warschau das Museum der Geschichte der polnischen Juden eröffnet. Klaus Brill hat es für die SZ schon völlig fasziniert besichtigt: "Man betritt das Jahrtausend durch einen imaginierten Wald, der legendenhaft die Ankunft der ersten Juden vermittelt. Unter ihnen waren Flüchtlinge aus dem Rheinland, sie sollen bei einer Rast im Wald aus dem Gezwitscher der Vögel die Worte "Po lin! Po lin!" vernommen haben - was im Hebräischen und Jiddischen "Bleibe hier" bedeutet."
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Europa

In der SZ erklärt der Schriftsteller Sergej Lebedew die gruselige Ergebenheit der Russen gegenüber Putin mit alten sowjetischen Erfahrungen, sieht aber auch auch echte Fortschritte: "Es ist das erste Mal in der russischen Geschichte, dass der Staat seine Bürger an das Allerheiligste heranlässt - an die Propaganda. In der Sowjetzeit wurden sogar nicht genehmigte Ergebenheitsbekundungen unterbunden; das Monopol auf Propaganda hatte der Staat. Alle "persönlichen Zeugnisse" für den Sozialismus wurden redaktionell bearbeitet und auf Linie gebracht. Jetzt aber sind die Bürger zur treibenden Kraft der Propaganda geworden. Sie haben sie um das bereichert, was der Propaganda der Sowjetunion fehlte: um einen aufrichtigen Stil und eine authentische Rhetorik. Diese selbsternannten Propagandisten nennt man im russischen Internet scherzhaft "Sofa-Streitkräfte"."
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Gesellschaft

In Rheinland-Pfalz protestieren Bürger mit einem Plakat an einem historischen Turm gegen einen Windpark, für den ein Wald gerodet werden soll. Und das Denkmalschutzamt Pirmasens schreitet gegen das Plakat ein, berichtet Dankwart Guratzsch in der Welt. Ausgerechnet! "In Landstuhl bei Kaiserslautern räumen derzeit die Bagger eine Posthalterei aus dem 18. Jahrhundert aus dem Weg. In der Westpfalz ist es seit 2011 schon der dritte denkmalgeschützte Ausspann, der verschwindet. Und was ist mit Zweibrücken - einer Stadt, die mit ihren Vororten Hengstbach und Mittelbach seit Jahren ein Barockhaus nach dem anderen von der Denkmalliste streicht?"

Im Interview mit Heike Haarhoff in der taz erklärt der Hamburger Pharmakologe Thomas Eschenhagen, warum an den Universitäten genauso wenig Ebola-Medikamente entwickelt werden wie in der Industrie: "Die Anreize im akademischen System sind leider nicht so gestaltet, dass man die Ausdauer fördert, die man in der Arzneimittelentwicklung braucht. 80 Prozent unserer Leute haben maximal Fünfjahresverträge. Wenn sie in dieser Zeit nichts publizieren, wissen sie, das war"s. Also publizieren sie im Zweifel - irgendwas. Wir werfen der Industrie gern vor, sie sei money-driven. Aber dann muss man auch sagen, die akademische Forschung ist glory-driven."

Das Feuilleton der taz gehört heute Gabriele Goettle: Sie besucht die Gemeinschaftsgärten vom Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld: "Es gibt Gemeinschaftsbeete und Einzelbeete von verschiedenen Gruppen und Projekten. Dazwischen, eingefriedet hinter einer Hecke, die Bienenkästen des Bienenprojekts. Im gesamten Garten gibt es keine genormten Gartenmöbel, alles ist selbstgebaut und steht meist so eng beieinander, dass gerade noch eine Schubkarre dazwischen Platz hat. Rechte Winkel gibt es nicht, die Pflanzkästen stehen kreuz und quer."
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Medien

Die Krautreporter starten mit einigen Artikeln über den Verschwörungstheoretiker Udo Ulfkotte und über die Entscheidung des Bundesverfassungsgrichts zu Rüstungsexporten. Im Gespräch mit Carta erwartet sich Karsten Wenzlaff , "dass von den Krautreportern weniger ein Impuls für die freien Journalisten ausgeht, die sich zur Zeit über Crowdfunding finanzieren, sondern eher einer in Richtung der Verlagshäuser. Das ursprüngliche Geschäftsmodell von Verlagen, Zeitungen und Medienhäusern war die Vorabfinanzierung durch die Leser - erst die Renditesteigerung durch Werbung verschob das wirtschaftliche Interesse auf die Reichweite und die Auflage, weg von der Interaktion mit den Lesern."

Die Krautreporter haben schon als Projekt nicht nur freundliche Reaktionen von der Kollegenschaft bekommen (Ausnahme!). Das bleibt auch so: Peter Turi schrieb am Freitag zum Start: "Unfassbare 33.000 Zeichen braucht Stefan Niggemeier, um sich an Udo Ulfkottes gänzlich irrelevantem Hetz-Buch "Gekaufte Journalisten" abzuarbeiten - Redundanz pur."

Die New York Times und der Springer Verlag investieren 3 Millionen Dollar in das niederländische Online-Journalismus-Startup Blendle, das eine Plattform für zahlbare Artikel alle Verlage bieten und nun in andere Länder expandieren will, berichtet Joseph Lichterman im Niemanlab: "Blendle ist im Mai an den Start gegangen, die Website hat über 130.000 registrierte User. Die Verleger setzen die Preise für ihre Artikel fest und behalten 70 Prozent der Einnahmen. Blendle bekommt die anderen 30 Prozent." Und wieviel bekommen die Urheber?
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