9punkt - Die Debattenrundschau

Apostasie, Ehebruch und Hexerei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2014. Die Zeit sieht den Suizid Udo Reiters als Provokation für Befürworter, aber auch für die Gegner der Sterbehilfe. Die NZZ analysiert den Retro-Kitsch in der russischen Speiseeis-Produktion. Vice erinnert daran, dass in Saudi Arabien in diesem Jahr bereits 59 Menschen geköpft wurden. Komponisten, die für die ARD arbeiten, sträuben sich gegen Creative-Commons-Lizenzen in dem Sender, berichtet Netzpolitik. Dafür wollen die Sender aber einen Jugendkanal, den der Perlentaucher aber ablehnt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.10.2014 finden Sie hier

Politik

Diane Jean erzählt in Slate.fr vom Alltag eines Lehrers unter Herrschaft der IS-Terrormiliz in Syrien: ""Ich muss jeden Morgen überprüfen, ob die Kleidung der Mädchen den Vorschriften entspricht"", erzählt er, und die Journalistin fährt fort: "Eine bewaffnete Brigade namens Al Hesba soll eigens dafür da sein, diese Vorschriften zu überprüfen. "Wenn wir uns ihren Bedingungen nicht unterwerfen, nehmen sie uns fest, oder sie schließen die Schulen." Wir konnten die Existenz der Brigade Al Hesba nicht überprüfen, aber ihr Name entspricht der Ideologie der Miliz. "Hesba" ist ein uraltes Prinzip der islamischen Rechtsprechung und besagt, dass jede Person, die das islamische Gesetz nicht respektiert, bestraft werden muss."

Köpfungen sind jüngst in Mode gekommen. Tom Breakwell bringt bei Vice in Erinnerung, dass sie bei einem der wichtigsten Verbündeten des Westens, Saudi Arabien, seit eh und je praktiziert werden. 59 Menschen sind laut Breakwell dort in diesem Jahr enthauptet worden. "Im letzten Monat verzeichnete Saudi Arabien acht Enthauptungen, doppelt so viele wie die in barbarisachen Videos gezeigten Enthauptungen westlicher Geieslen durch die IS-Miliz. Im August sind die von Riad Verurteilten für Verbrechen wie wie Apostasie, Ehebruch und "Hexerei" hingerichtet worden. In einem Fall sind vier Mitglieder einer Familie hingerichtet worden, weil sie "große Mengen Haschisch in Empfang genommen hatten", ein Urteil, das laut Amnesty International auf Geständnissen beruhte, die durch Folter erlangt wurden."

Die Afrikaner leben gerade in einer Phase des Aufbruchs, nun scheint Ebola genau den in Frage zu stellen, bemerkt recht bitter der kamerunische Historiker Achille Mbembe im Interview mit der Zeit. Wenn sie im Augenblick auch fast unverzichtbar sind, ist er daher gegenüber den Hilfsangeboten des Westens recht skeptisch: "In den liberianischen Krankenhäusern fehlt es an Hand­schuhen, die vor Ebola schützen. Wie ist das mög­lich in einem Land, das eines der größten Kaut­schukvorkommen der Welt hat? Es wird vom ame­rikanischen Unternehmen Fire­stone beherrscht. Liberia muss gegenwärtig seine Rohstoffe exportie­ren und hat keine heimische Industrie, die Hand­schuhe fertigen könnte, die nun das Pflegen von Ebola-Kranken ermöglichen würden."

Die Kampagne #Bringbackourgirls hat ihr Ziel noch nicht erreicht. Die Mädchen sind jetzt seit einem halben Jahr in Händen der islamistichen Terrorbande Boko Haram, schreibt Monica Mark im Guardian.

Weiteres: In der Welt staunt Henryk M. Broder über die Antisemitismus-Definiton eine Münchner Richterin.
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Religion

Die Studentin Cigdem Toprak antwortet in der Welt auf Artikel Hamed Abdel-Samads (unser Resümee) und des Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, und findet, das beide in Fragen der Integration unrecht haben. Ihre Position: "Die Tatsache, dass in muslimischen Gemeinden die Freitagsgebete auch auf Deutsch gehalten werden, wie Mazyek schreibt, ist bedeutungslos, solange Muslime sich nicht aktiv für unsere demokratischen Werte einsetzen. Die da wären: Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf sexuelle Orientierung, das Recht, aus der Religion auszutreten, sich nicht zum Tragen des Kopftuches zwingen zu lassen."
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Geschichte


(Bild: British Museum.)

Thomas Kielinger bespricht für die Welt die große Deutschland-Ausstellung im British Museum, in der Neil MacGregor bei den Briten für ein differenzierteres Deutschland-Bild wirbt: "Dem Paradox der deutschen Geschichte, ihrer Dualität zwischen hoher Kunst und tiefem moralischen Fall, geht die Ausstellung nicht aus dem Wege. MacGregor zeigt es in Gestalt des Weimar-Triptychons: Goethe, Bauhaus, Buchenwald." Eine weitere Besprecung bringt die FAZ.

Im Dossier der Zeit erklärt der Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs im Interview, warum auch heute noch gilt: "Von der Stasi-Spionage lernen heißt siegen lernen."
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Medien

Für die ARD wurde kürzlich ein Papier zur Frage erarbeitet, ob nicht mehr Inhalte unter Creative-Commons-Lizenz laufen könnten, wodurch die von den Zwangsgebührenzahlern finanzierten Inhalte nachhaltiger genutzt werden könnten (Irights.info berichtete hier, das Papier als pdf-Dokument hier). Dagegen laufen nun Komponisten in einem offenen Brief Sturm, berichtet Leonhard Dobusch bei Netzpolitik: "Die VerfasserInnen des Briefs wittern "das Ziel eines Vergütungs-Dumpings bei Kreativschaffenden", befürchten eine "enorme" Förderung von "Drittanbieter-Plattformen sowie Suchdienste, die zur Monopolisierung und globalen Machtausweitung neigen" (wer damit wohl gemeint sein könnte?) und fordern, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk "nicht verführt oder gezwungen sein [sollte], sich durch Lizenzrestriktionen zu beschränken.""

Da die Öffentlich-Rechtlichen trotz Ihres Budgets von gut 8 Millarden Euro im Jahr bei der Jugend versagen und einen Altersdurchschnitt bei den Zuschauern von über 60 haben, möchten sie zur Belohnung expandieren und einen Jugendkanal aufbauen. Heute sollen Politiker darüber beraten. SWR-Intendant Peter Boudgoust warnt sie laut kress.de schon mal: "Sollen junge Menschen nur die Wahl haben zwischen Brutalo-Videos und Katzenfilmchen auf YouTube und Billig-Trash bei privaten Fernsehsendern? Soll so die mediale Sozialisation zukünftiger Generationen aussehen? Sicher nicht, das kann die Politik nicht wollen." Perlentaucher Thierry Chervel sagt in einem kurzen Artikel, was er von diesem Zitat hält.

Michael Hanfeld informiert in der FAZ zum Thema Jugendkanal, den Boudgoust ohne zusätzliche Mittel finanzieren will: "45 Millionen Euro soll der neue Sender kosten, dreißig Millionen Euro würde die ARD übernehmen, fünfzehn Millionen Euro das ZDF. Eine Mannschaft müsste her, dreißig Planstellen mindestens."

Die VG Media, die für die beteiligten Verlage Gebühren für Leistungsschutzrechte eintreiben will, lädt jetzt kleinere Suchmaschinen wie die News-Suchmaschine Tersee.com zum Gespräch vor. Viel Erfolgssaussichten hat der Club allerdings nicht, meint Lawblogger Thomas Stadler: "Die meisten kleinen Suchmaschinen erzielen anders als Google kaum Einnahmen und können sich derartige Zahlungen schlicht nicht leisten. Die Folge wird also sein, dass die angeschriebenen kleinen Suchmaschinen ihren Betrieb einstellen oder dazu übergehen, die Inhalte der Verlage, die das Leistungsschutzrecht wahrnehmen lassen, komplett auszulisten oder nur noch Überschriften anzuzeigen."
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Gesellschaft

Laut einem Bericht von NBC planen Facebook und Apple, ihren Mitarbeiterinnen das Einfrieren von Eizellen zu finanzieren. Franziska Seyboldt kann darin in der taz keine großzügige familienfreundliche Geste erkennen, sondern sieht vor allem das Interesse der Unternehmen gesichert: "Sie stellen damit sicher, dass weniger Mitarbeiterinnen im fruchtbaren Alter schwanger werden und als Arbeitskräfte ausfallen. Obendrein können sie sich in Zukunft dafür rühmen, dass sie die Frauenquote steigern, die zum Beispiel bei Facebook aktuell bei 31 Prozent liegt. Das Wohl der Frauen hingegen scheint den Unternehmen erstmal egal zu sein." Christian Geyer sieht es in der FAZ genauso: "Die Zumutung dieser biografischen Manipulation besteht im Zweifel darin, den gegenwärtigen Kinderwunsch ins Leere laufen lassen zu sollen im Vertrauen auf ein Verfahren, dessen Ausgang ungewiss ist. Das nennt man zu Recht die Enteignung der Gegenwart durch die Zukunft!"

Nach dem Fall des eisernen Vorhangs hatten die Bürger Russlands endlich Zugang zur jahrzehntelang erträumten westlichen Warenwelt - und wurde von den minderwertigen Billigimporten schwer enttäuscht, schreibt die Hamburger Historikerin Monica Rüthers in der NZZ. So wendete man sich heimischen Erzeugnissen zu, die verlässliche Qualität verhießen. Insbesondere das sowjetischen Speiseeis wurde zum Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins, ihre Beliebtheit - mit bunten Hüllen mit "Anleihen beim Bildrepertoire der stalinistischen Propaganda" - ist heute größer denn je: "Am Retro-Kitsch zeigt sich, wie sehr die Kränkungen der neunziger Jahre bis heute nachwirken. Vor diesem Hintergrund konnte Putin aus dem Luftschloss der utopischen Nostalgie ein restauratives Projekt machen. Seine Erinnerungspolitik verwertet das Beste aus allen Epochen der russischen und sowjetischen Geschichte. Medial omnipräsente Staatssymbolik und nationales Pathos verbinden sich zur Konstruktion einer neuen, starken, heiligen russischen Nation."

In der Zeit porträtieren Martin Machowecz und Stefan Schirmer den ehemaligen Intendanten des Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, dessen Freitod mit 70 Jahren "eine Provokation für die Anhänger wie die Gegner des selbst gewählten Sterbens gleichermaßen [ist]: Das stärkste Argument der Befürworter ist stets das unabwendbare große Leid, dem vorgeblich nur durch Suizid ein Ende bereitet werden kann. Dies war bei einem Mann, der eine Woche vorher noch leidenschaftlich in der Fernsehsendung Maybrit Illner stritt, offenkundig nicht der Fall. Reiters Tat ist aber auch eine Provokation für alle Gegner der Sterbehilfe, die gern implizieren, wer seinem Leben ein Ende setzt, sei oft nicht mehr Herr seiner Sinne. Eben das aber konnte man Udo Reiter schlecht absprechen: dass er genau wusste, was er wollte und was er tat".

Ebenfalls in der Zeit antwortet Susan Neiman auf Maxim Billers Antisemitismusvorwurf gegen alle Israelkritiker: "Der Drang, jede Kritik an Israel als antisemitisch abzuwerten, ist nicht nur ein Mittel, um vernünftige Kritik abzubiegen, sondern auch eine Methode, politische durch rassische Begriffe zu ersetzen."
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Kulturpolitik

Die deutsche Kulturbranche ist sich einig im Widerstand gegen TTIP, berichtet Joachim Güntner in der NZZ: "Sie behauptet, es gefährde die Buchpreisbindung, die Subventionierung des kulturellen Erbes, den durch Zwangsgebühren finanzierten öffentlichrechtlichen Rundfunk, die Filmförderung, die Zuschüsse für Oper und Theater, die Struktur der Erwachsenenbildung. Überlegt man, dass der deutsche Film bis zu 40 Prozent von staatlichen Beihilfen abhängig ist und dass dabei sehr viel Mittelmaß herauskommt, so scheint es zumindest fragwürdig, die Subventionspraxis für unantastbar zu erklären" (Foto: Aushang im Schaufenster der Berliner Buchhandlung Tucholsky)
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