9punkt - Die Debattenrundschau

Statt die schöne Seele zu spielen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2014. Der Horror der islamistischen Snuff Videos treibt heute viele Medien um. Für Slavoj Zizek in der New York Times drücken sie eigentlich das Unterlegenheitsgefühl der Islamisten aus. Die FR hofft dagegen, dass der Pazifismus Horizonte der Hoffnung eröffnet. In Deutschland herrsche unterdessen ein Gemütszustand selbstzufriedener Aufmüpfigkeit, als dessen perfekter Ausdruck die AfD gelten könnte, meint Richard Herzinger in der Welt. Die Libération bezweifelt, ob sie so europäisch denken kann wie Bernard-Henri Lévy.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2014 finden Sie hier

Ideen

Die meisten Deutschen wollen, obwohl sie sich als Pazifisten bezeichnen, die Kurden mit Waffen gegen die Isis beliefern, staunt Dirk Pilz in der FR: "Als ob wir, mit Blick auf die Ukraine genauso wie auf den Nordirak, wieder in einer Situation wären, die sich nur mit klaren Schuld- und Schurkenrollenverteilungen begreifen lasse. Sind nicht dergleichen Zuschreibungen fast immer falsch, weil fast immer kein Schurke einer homogenen Schar der Gutwilligen gegenübersteht? Ist die Skepsis solchen Schubladisierungen gegenüber nicht eines der besten Teile einer europäischen Geschichte? Hat der Pazifismus nicht auch immer diesen guten Zweifel genährt und gerade damit Horizonte der Hoffnung eröffnet?"

Slavoj Zizek sieht das Problem in der New York Times dagegen nicht in der Schurkenhaftigkeit der Isis, sondern in ihrem Minderwertigkeitskomplex: "The problem with terrorist fundamentalists is not that we consider them inferior to us, but, rather, that they themselves secretly consider themselves inferior. This is why our condescending, politically correct assurances that we feel no superiority toward them only makes them more furious and feeds their resentment."

In der NZZ fragt sich Manfred Schneider, wer diese "Maskenmänner" vom Islamischen Staat sind: "Sonst hat nie ein Märtyrer sein Gesicht verborgen, sondern sich stets als Blutzeuge zu erkennen gegeben. Man ahnt, dass der in eine globale mörderische Männermode gekleidete Kalaschnikow-Träger nicht nur maskiert ist, sondern in Wahrheit sein Gesicht verloren hat. Während die Vorläufer und fernen Verwandten dieser Kriegsleute, die Soldaten für Freiheit, nationale Ehre, für Gott, Gerechtigkeit oder auch für die Wahrheit, gerade weil sie für höchste Werte einstanden, ihre individuellen Züge, ihr Gesicht, ihre Opferbereitschaft für die Sache zeigten, weigern sich unsere zeitgenössischen internationalen Mordgesellen, ihrer Sache ein Gesicht zu geben."

In der Welt versucht sich Robert D. Kaplan in der Welt an einer Art dramaturgischen Lesart der islamistischen Snuff Videos: "Wir sind zurück in einer mittelalterlichen Welt des Theaters, nur ist das Publikum jetzt global... Und nichts wirkt im Theater so sehr wie Symbole, die der Autor manipuliert. Ein kurzes Messer, ein Guantanamo-Overall, ein schwarz gekleideter Scharfrichter mit britischem Akzent im Herzen des Nahen Ostens sind, zusammengenommen, Symbole der Macht, der Raffinesse, der Vergeltung."

Außerdem: In der Zeit deutet Thomas Assheuer das neue Weltchaos als Versuche des "Empire-Building". Außerdem hat die Zeit Mark Lillas Essay "The Truth About Our Libertarian Age" übersetzt. Er möchte, dass wir aufhören, unser Demokratiemodell zu exportieren: "Der nächste Friedensnobelpreis sollte an jemanden vergeben werden, der das Modell einer verfassungsmäßigen Theokratie entwickelt, die es muslimischen Ländern ermöglicht, die Autorität religiösen Rechts in kohärenter, aber zugleich begrenzter Weise anzuerkennen und dies mit guter Regierungsführung zu verbinden. Das wäre eine historische Leistung - wenn auch nicht unbedingt eine demokratische."
Archiv: Ideen

Politik

Die Partei "Alternative für Deutschland" repräsentiert einen Geist, der dem Mainstream in Deutschland näher steht als es diesem und und der AfD selbst lieb sein kann, meint Richard Herzinger in der Welt. Er beschreibt diesen Geist so: "Ein wenig Widerspruchsgeist und Aufruhr gegen das Bestehende muss schon sein, aber doch bitte streng im Rahmen der bewährten Verhältnisse, an denen sich bloß nichts Grundsätzliches ändern soll." Und innerhalb dieses "deutschen Gemütszustands selbstzufriedener Aufmüpfigkeit" sei die AfD eine "eine Protestpartei, die keine sein will, sondern sich vielmehr als Verteidigerin jener überkommenen Strukturen" ausgebe.
Archiv: Politik
Stichwörter: AfD

Europa

Laurent Joffrin bespricht in Libération Bernard-Henri Lévys Theaterstück "Hôtel Europe", in dem ein Intellektueller gegen die identitäre und nationalistische Versuchung das Modell Europa preist. BHL präsentiert die Kritik, die bei Libération nicht online steht, auf seinem Blog. Joffrin vermisst bei BHL ein Eingehen auf die "soziale Frage": "Föderalismus schön und gut. Aber was bleibt von der sozialen Frage, die BHL kaum zu stellen wagt, in seinem Europa der Kultur und Philosophie? Sollte Europa eine bessere, gerechtere Gesellschaft bauen, verdient es alle Unterstützung. Aber was ist, wenn das nicht geschieht? Können wir in einen Bund eintreten, in dem wir notgedrungen eine Minderheit sind und ökonomische und soziale Regeln akzeptieren, die wir für uns zurückweisen?"

Masha Gessen begibt sich im Blog der New York Review of Books unter Lektüre verschiedener Bücher auf die Spur des Bevölkerungsniedergangs in Russland, der anhält und nach wie vor dramatisch ist. "In den 17 Jahren zwischen 1992 und 2009 ist die russische Bevölkerung um sieben Millionen Menschen gesunken, fast fünf Prozent also, unerhört in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Darüberhinaus scheint ein großer Teil des Rückgangs auf steigende Sterblichkeit zurückzugehen. Mitte der neunziger Jahre lebte der durchschnittliche Petersburger Mann sieben Jahre kürzer als am Ende der kommunistischen Zeit."
Archiv: Europa

Internet

Laut Patrick Beuth in Zeit online, der sich auf eine Analyse des Bloggers Cubrilovoc bezieht, haben die Hacker, die die Icloud-Konten von Prominenten hackten, Sicherheitsfragen schlicht erraten und dann ein Passwort neu eingerichtet. Apple hat es ihnen einfach gemacht, weil man etwa Sicherheitsfragen beliebig oft starten kann. "Nutzer könnten diese Angriffe erschweren. Cubrilovoc hat zum einen die zum Teil veröffentlichten E-Mail-Adressen untersucht und festgestellt, dass 98 Prozent von ihnen zu Gmail, Yahoo oder einem der anderen großen Anbieter gehören. Wer für die iCloud-Registrierung eine Mailadresse bei einem weniger bekannten Anbieter wählt und in der Adresse nicht auf seinen echten Namen hinweist, ist besser geschützt."

In der Berliner Zeitung stellt Ulrike Simon einen neuen Online-Buchhändler vor, den ehemaligen Chef der Bild am Sonntag, Walter Mayer. Seine Idee: "Jede Bestellung wird umgehend an diejenige Buchhandlung weitergeleitet, die bei Book Affair mitmacht und geografisch am nächsten liegt. Je nach Buchhandlung wird das Buch geliefert, per Kurier oder Post, oder der Besteller kann es abholen. Auf diese Weise unterstützt der Nutzer den Buchladen um die Ecke, ohne auf die Online-Bequemlichkeiten verzichten zu müssen."
Archiv: Internet

Gesellschaft


(Rotherham Town Centre. Das Panoramafoto wurde unter CC-Lizenz von "Chris" bei Flickr publiziert.)

In der britischen Stadt Rotherham wurden über Jahre hinweg hunderte junge Mädchen von Männern zumeist pakistanischer Herkunft missbraucht, die sie als "weißen Abschaum" bezeichneten (mehr bei Spon). Die Behörden unternahmen nichts, weil sie Angst hatten, als rassistisch zu gelten. In der Zeit (original im Guardian) fragt Slavoj Zizek entsetzt, wie es dazu kommen konnte: "In der Debatte über die Leitkultur pochten die Konservativen darauf, dass jeder Staat auf einem tonangebenden kulturellen Raum gründet, den die Angehörigen anderer Kulturen, die im selben Raum leben, respektieren sollten. Statt die schöne Seele zu spielen und in solchen Aussagen die Vorboten eines neuen europäischen Rassismus zu sehen, sollten wir einen kritischen Blick auf uns selbst werfen und uns fragen, inwieweit unser eigener abstrakter Multikulturalismus zu diesem traurigen Stand der Dinge beigetragen hat."

Sascha Lobo bezieht sich in seiner jüngsten Kolumne auf Byung-Chul Han, der das Internet nur als eine weitere Machination des Kapitalismus ansieht, und beschreibt anhand des Beispiels Uber den "Plattform-Kapitalismus": "Das Problem mit der "Sharing-Ökonomie" ist nicht ein eklig agierendes Start-up wie Uber. Es ist die Transformation des digitalen Wirtschaftssystems zum Plattform-Kapitalismus und die mangelnde Vorbereitung von Politik und Gesellschaft darauf. Plattform-Kapitalismus verändert den Arbeitsbegriff, die Grauzone zwischen privater Hilfe und Schwarzarbeit, das Verständnis und die Regelung von Monopolen."

Außerdem: In der NZZ berichtet Mona Sarkis über richtige und eher fehlgeleitete Solidaritätsaktionen mit den Christen im Irak. In der Berliner Zeitung erklärt der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio im Interview, was er sich unter Gerechtigkeit vorstellt. Heinz Bude beklagt in der Zeit die Risikoscheu der Vierzigjährigen. Und Thomas E. Schmidt fragt sich, wie die digitale Boheme den Rücktritt von Klaus Wowereit verkraften wird. In der FAZ fragt Jürgen Kaube, wie Lehrer eigentlich noch unterrichten sollen, wenn sie von einer Reform in die nächste gejagt werden.
Archiv: Gesellschaft