9punkt - Die Debattenrundschau

Overhead an Daten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2014. Stoppt den Islamischen Staat!, ruft Navid Kermani in der Berliner Zeitung. Radikaler Pazifismus jetzt!, ruft dagegen Rupert Neudeck in der taz. Der New Yorker berichtet aus Ferguson, Missouri, wo sich die Polizei als Armee aufführt. Der Whistleblower Bill Binney erklärt im ORF, warum die Geheimdienste auf der Krim und im Irak  versagten. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2014 finden Sie hier

Politik

"Stoppt den Islamischen Staat! ruft Navid Kermani in der Berliner Zeitung: "Wenn wenigstens diejenigen Staaten, die in den Konflikt direkt verwickelt sind, sich auf ihr gemeinsames Interesse an Stabilität besännen, wäre gegen 20.000 noch so gnadenlose Kämpfer durchaus etwas auszurichten: die Vereinigten Staaten mit ihrem verheerenden Einmarsch in den Irak und ihrem leider ebenfalls falschen, weil verfrühten Abmarsch, Iran mit seiner schiitischen Klientelpolitik, die die sunnitische Bevölkerung ins Lager der Extremisten getrieben hat, die Golfstaaten mit ihrer milliardenschweren Unterstützung dschihadistischer Gruppierungen, die Türkei, die ihre südöstlichen Grenzen allzu lange für den "Islamischen Staat" offenhielt, Syrien, das einen Krieg gegen den größeren Teil der eigenen Bevölkerung führt, Russland, das zusammen mit Iran hinter dem menschenverachtenden Assad-Regime steht, und schließlich Europa..."

In Deutschland hat es nie eine richtige Friedensbewegung gegeben, schreibt Rupert Neudeck in der taz und fordert einen "radikalen Pazifismus": "Wir müssen den Frieden durch die Abschaffung der nationalen Heere, durch die Aufgabe der Rüstungsindustrie, durch die Einrichtung einer starken UN-Blauhelm-Armee als Weltpolizei zuallererst schaffen. Auch müssen wir die Gastfreundschaft in unseren Breiten stärken." (Und das hilft dann auch gegen den "Islamischen Staat""?)
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Überwachung

(Via Netzpolitik) Der NSA-Veteran und Whistleblower Bill Binney erklärt im Gespräch mit Erich Möchel vom ORF, warum die Geheimdienste bei den wichtigen Dingen (Voraussehen der Besetzung der Krim, Eroberung des Irak durch den "Islamischen Staat") versagen: "Die Geheimdienste haben sich selbst operativ ausgeschaltet, indem sie einen solchen Overhead an Daten sammeln, die wiederum einen Wildwuchs an Analysten, Technikern und Verwaltung zur Folge hatten. Für Geheimdienstarbeit braucht es dagegen ständige Fokussierung und die haben sie abgeschafft."
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Medien

Stefan Niggemeier lässt nicht locker bei seinen Recherchen über die Ranking-Schauen unserer so angesehenen öffentlich-rechtlichen Sender. Behauptungen der Sender, sie beruhten zum Teil auf repräsentativen Umfragen kann er nicht recht glauben, und er fragt sich, "wie diese bundesweite, repräsentative Umfrage abgelaufen sein soll, bei der zufällig ausgewählte Menschen sich entscheiden sollten, ob sie den Wintringer Hof in Kleinblittersdorf im Saarland schöner finden oder den Meierhof Rassfeld in Gütersloh oder das Gut Hesterberg in Neuruppin-Lichtenberg, das angeblich auf Platz 1 landete." Sollte man nun nicht den eigentlichen Skandal thematisieren - die Inflation des Genres Ranking-Schau im Milliardenfriedhof Öffentlich-Rechtliche?
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Europa

Sehr optimistisch äußert sich der Ökonom Sergej Gurijew in der Welt zur Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland: "Offenbar hat die Angst vor noch gravierenderen wirtschaftlichen Schwierigkeiten - beispielsweise eine weitere Kapitalflucht im Falle von Steuererhöhungen - eine offene Invasion der Ostukraine verhindert." Spiegel online meldet heute früh allerdings, dass "Russische Truppentransporter in die Ukraine vorgerückt sein sollen".

In der FAZ macht Bernard-Henri Lévy Vorschläge, wie Frankreich ehrenvoll aus dem noch anstehenden Waffendeal mit Russland herauskommen könnte (statt Russland kauft die EU die Waffen und gibt sie der Ukraine) und singt ein Loblied auf den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko: "Kriegschef wider Willen, Wächter eines Europas, von dem er inzwischen fast genauso überzeugt ist wie von der Ukraine, standhafter Gegner Putins in einer Zeit, in der sich viele Amtskollegen lieber ducken und Kompromisse mit dem russischen Präsidenten suchen, tritt Poroschenko heute in die Reihe historischer Figuren ein, die mich immer fasziniert haben."
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Gesellschaft

Jelani Cobb erzählt im New Yorker, wie die Polizei von Ferguson den Dialog mit der Jugend sucht, die protestiert, nachdem dort der Jugendliche Michael Brown von der Polizei erschossen worden war: "Was dann auf den Straßen geschah erinnert an eine städtische "Shock-and-Awe"-Aktion. Eine erste Welle von Blitzgranaten und Tränengas war Vorspiel zum Aufmarsch eines ungeheuer großen bewaffneten Fahrzeugs, das eine militärähnliche Kanone auf einem Gestell transportierte." Nalea J. Ko berichtet bei Gawker über Demonstrationen in vielen Städten der USA nach den Vorfällen von Ferguson. Ebenfalls bei Gawker erzählt Gabrielle Bluestone, dass in Ferguson Ruhe eingekehrt sei, nach dem die staatliche Polizei von Missouri die städtische Polizei ablöste.
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Stichwörter: Ferguson, Gawker, Kanon

Internet

Der Widerstand deutscher Autoren gegen Amazon müsste breiter ausfallen, meinen Corinna Visser und Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. Einen Grund dafür, dass hauptsächlich Autoren der Unterhaltungsliteratur, bisher aber zu wenig genuin literarische Autoren unterzeichnet haben, nenne bereits der offene Brief, den deutsche Autoren in Anlehnung an ein amerikanisches Vorbild verfassten (wir verlinkten): ""Viele Autoren und Autorinnen haben Amazon unterstützt, als es eine kleine Startup-Firma mit neuen Ideen war. Wir haben Amazon Millionen in die Kassen gespült, viele haben mit Amazon kooperiert und tun das noch heute. Viele von uns haben ihre Backlist bei Amazon, haben Rezensionen und Beiträge geschrieben. Diese Autoren und Autorinnen, uns, jetzt "in Beugehaft" zu nehmen, ist keine Art mit Geschäftspartnern umzugehen.""

In der FAZ erzählt Melanie Mühl am Beispiel eines Kinds mit Down-Syndrom, das von Adoptiveltern nach Entdeckung dieses Gendefekts im Stich gelassen wurde, wie schlimm dieses Internet als Hassgenerator funktioniert.


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Stichwörter: Amazon, Startup, Down-Syndrom