9punkt - Die Debattenrundschau

Hier drinnen herrscht der Biedermeier

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2014. Arno Widmann ruft in der Berliner Zeitung zur Demo gegen die neuen Antisemiten auf. Wolfgang Benz wiegelt im Kölner Stadtanzeiger ab. Zeruya Shalev sieht in der Zeit nur eine Chance für den Frieden, wenn die Palästinenser die Präsenz der Israelis anerkennen. Timothy Snyder schreibt in der NZZ zum Abschuss der MH17. Netzpolitik schildert den Kampf der Briten gegen Internetfilter. Stefan Niggemeier fahndet nach Selbstkritik beim Spiegel, findet aber keine. Die taz fordert eine Offenlegung der Google-Algorithmen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.07.2014 finden Sie hier

Europa

Nach MH17 hofft Timothy Snyder in der NZZ, dass die europäischen Staaten endlich einsehen, mit wem sie es zu tun haben: "Der Abschuss eines Passagierflugzeuges wird den russischen Propagandaapparat nicht in Verlegenheit bringen. Europäische und malaysische Leichen sind eine lediglich unwesentlich grössere Herausforderung für die russische Propaganda als die ukrainischen Toten. Präsident Putins Orwellsche Sprachregelung haben die Medien nur zu bereitwillig übernommen."
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Internet

Google weiß die Debatte um das "Recht auf Vergessen" durchaus gut für sich zu nutzen, schreibt Svenja Bergt in der taz. Denn die Diskussion um die Gefährdung der Pressefreiheit suggeriere, nicht Suchmaschinen an sich, sondern "Google ist wichtig für die Pressefreiheit". Berg sieht hier eine Gefahr, denn: "Bei der Debatte über eine mögliche Gefahr für die Pressefreiheit wird übersehen, dass die Suchmaschine bereits ohne persönliche Löschgesuche alles andere als transparent arbeitet. (...) Da werden Ergebnisse personalisiert, je nach Suchhistorie und anderen persönlichen Daten aus dem Google-Universum." Eine Offenlegung des Suchalgorithmus würde das Auffinden von Informationen nach nachvollziehbaren Kriterien ermöglichen, glaubt Berg.

Anna Biselli erzählt in Netzpolitik, wie sich Briten gegen Internetfilter wehren, die die Suchergebnisse von vornherein im Sinne der politischen Correctness filtern: "Dazu gehören neben Pornografie auch Inhalte zu Alkohol, Selbstmord, Magersucht und Politik." Und bald wahrscheinlich auch Schottland.
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Religion

Was Propaganda und was Realität ist, sei hinsichtlich der Zerstörungswut der radikal wahhabistischen Jihadisten des Isis nicht immer klar erkenntlich, meint Joseph Croitoru in der NZZ. Sicher ist, dass die "Vergehen an Kulturdekmälern" im Irak nicht nur Schiiten und Sufisten in Aufruhr versetzen, sondern über die Landesgrenze hinaus alarmieren."Nicht nur im Irak, wo zahlreiche Anhänger des Sufismus leben, ist die Entrüstung über den barbarischen Zerstörungsakt in Muhallabiya groß. Auch in Kairo... sorgte die Nachricht beim dortigen Rifai-Orden für Entsetzen. Hier ist man sich schon seit längerem der Gefahr bewusst, die vom salafistisch-wahhabitischen Lager für die sufistische Auslegung des islamischen Glaubens ausgeht."
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Stichwörter: Irak, Isis, Sufismus, Schiiten

Überwachung

Mit Interesse liest Lawblogger Thomas Stadler das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Klage des Anwalts Niko Härting, der wegen der pauschalen Registrierung von Mails durch den BND geklagt hatte. Zwar erklärte sich das Gericht nicht für zuständig, weil Härting keine konkreten Maßnahmen gegen sich nachweisen konnte, zugleich aber hält es fest: "Bereits die Erfassung von E-Mails - was sowohl die Inhalte als auch die Metadaten betreffen dürfte - durch den BND stellt einen solchen Eingriff dar, weil sie die Basis für den nachfolgenden Abgleich mit Suchbegriffen bildet. Schon die grundsätzliche Datenerhebung bewirkt also den Grundrechtseingriff und nicht erst die anschließende Auswertung bzw. Filterung."

Chinas Zensurpolitik wird nicht nur immer schlimmer, sondern auch abstruser, schreibt Inna Hartwich in der FR. Chinesische Journalisten dürfen nicht mehr außerhalb ihrer Provinz recherchieren, außerdem gilt seit Mittwoch die Devise: ""Reinigt das Internet!" Damit wollen die Beamten gegen "Gerüchte" und Pornografie im Netz vorgehen und so die Jugend schützen. "Haben sich die Jugendlichen diese vulgären Seiten im Internet erst angeschaut, werden viele von ihnen kriminell", sagte Pi Yijun, Professor an der Pekinger Universität für Politische Wissenschaften und Recht, der Zeitung Beijing Review. Nur harsche Methoden würden helfen."
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Medien

Ziemlich großartig setzt sich Stefan Niggemeier nochmal mit der Selbstgerechtigkeit der Spiegel-Redakteure in dem Titelgespräch mit Christian Wulff auseinander. Dies hier ist noch die harmloseste Erkenntnis: "Wulff räumt dabei, obwohl er sich weiter zutiefst ungerecht behandelt fühlt und als Opfer sieht - an vielen Stellen Fehler und Versäumnisse ein. Der Spiegel hingegen sieht kein Problem in seiner Berichterstattung und hat nichts falsch gemacht. Also: nichts. Im Sinne von: nichts."

Auch von Niggemeiers Aufmerksamkeit ausgelöst, diese Meldung bei turi2 und anderen Medien: "ZDF-Programm-direktor Norbert Himmler macht die Redaktion Team Event und Show dicht." Mehr unterm Stichwort ZDF. Bei turi2 und anderen Medien die Meldung, dass sich Regionalzeitungen gegen Reichweitenverlust behaupten, während die Überregionalen weiter schwinden. Und Le Monde empfiehlt die parodistischen Vogue-Cover des britischen Künstlers Scott King.
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Gesellschaft

Das Burkaverbot in Frankreich ist eigentlich gar kein Burkaverbot, sondern ein allgemeines Vermummungsverbot. Das möchte der Jurist und Blogger Maximilian Steinbeis in der SZ aber nicht akzeptieren: "Ich muss keine verschleierte Muslima sein, um diese Beschlagnahme eines Teils meines Körpers als Vergewaltigung zu empfinden. Mein Gesicht gehört mir. Ich bin es, der mittels des Gesichts mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt - oder auch nicht."

Til Biermann kommt in der Welt zu dem Schluss, dass das Verbot von Cannabis einfach unzeitgemäß und weitaus schädlicher für die Gesellschaft ist, als die Legalisierung der Droge: "Die Professoren, die vom Bundestag die Überprüfung des Betäubungsmittelgesetzes einklagen, kamen zu dem Schluss, dass die "strafrechtliche Prohibition gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch" sei. Ähnlich wie der gesprächige Drogendealer Hans, mit dem Biermann gesprochen, führten sie "gigantische Profite" durch den illegalen Drogenhandel an, die organisierte Kriminalität und den Schwarzmarkt begünstigen würden.

Die Schriftsteller Heinrich Steinfest und Wolfgang Schorlau testen für Kontext einen Mercedes der S-Klasse, also einen Wagen, der sonst von Schriftstellern eher selten gefahren wird. Steinfest schreibt: "Diese Sitze, wie auch die ganze Inneneinrichtung, stehen optisch in starkem Widerspruch zur schneidigen Außenhülle, hier drinnen herrscht der Biedermeier, herrschen Gemütlichkeit, konservative Werte, feine Verarbeitung, eher die rundliche Form als die eckige, und trotz Bordcomputer und durchtriebener Sitztechnik ereilt mich das Gefühl, in einer Kutsche zu sitzen."
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Politik

(Via Patrick Bahners) Antisemitisch? Islamophobie-Experte Wolfgang Benz empfand die Demonstrationen der letzten Tage allenfalls als ein bisschen israelkritisch, wie er im Gespräch mit Markus Decker im Kölner Stadtanzeiger erklärt: "In Berlin wurden am Rande einer antiisraelischen Demonstration antisemitische Parolen gerufen. Aber deshalb jetzt von antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland zu sprechen, halte ich für übertrieben. Es haben sich zum Teil seltsame Leute zusammengerottet, einige haben blödsinnige Parolen gerufen. Das wird von Interessenten mit großem Medienhall als Wiederaufflammen des Antisemitismus dargestellt."

Arno Widmann findet den Slogan "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein" dagegen nicht einfach blödsinnig und lanciert in der Berliner Zeitung einen Aufruf: "Es wäre gut, Bürger Berlins würden diesen brüllenden Antisemiten zeigen, dass sie keinen Juden allein bekommen werden. Wir sollten uns Freitag vor der Botschaft Israels, vor jüdischen Einrichtungen einfinden und uns vor sie stellen. Auch das wäre eine Demonstration." Am Freitag ist "Al Quds-Tag", an dem iranische Demonstranten tradtionell gegen Israel auf die Straße gehen.

Zeruya Shalev hält in der Zeit Rückschau auf den Konflikt zwischen Israelis und Arabern und wird dabei nicht froher: "Schließlich hat der Konflikt lange vor der Besatzung und vor den jüdischen Siedlungen angefangen, wie könnte man dann hoffen, dass er aufhört, wenn endlich die Besatzung aufhört und die Siedlungen aufgelöst werden. Solange die Palästinenser nicht bereit sind, die Anwesenheit der Juden in Eretz Israel zu akzeptieren, wird es keinen Frieden geben." Auf der Bangen & Zagen-Seite schildert der in Seattle geborene und jetzt an der palästinensischen Universität in Jerusalem lehrende Benjamin Balint angesichts des Konflikts seine Zerknirschung und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Kriegsparteien über "sich selbst hinauswachsen und nach Demut streben". Andrea Böhm auf Seite 1 der Zeit sieht die Schuld bei Israel.

Antisemitismus auch in der Türkei, angeheizt von Tayyip Erdogan höchstselbst. Gökay Sofuoglu gibt in der Jüdischen Allgemeinen ein Stimmungsbild: "Die türkische Sängerin Yildiz Tilbe twittert: "Möge Gott Hitler segnen, er tat sogar weniger, als nötig gewesen wäre." Sie bekommt Unterstützung von Ankaras Oberbürgermeister, der als Dauernutzer sozialer Medien gilt. Viele Fans bejubeln Tilbe als eine, "die endlich die Wahrheit sagt". Ein Parlamentsabgeordneter ruft in Richtung Juden: "Ihr sollt ausgerottet werden, euch soll der Hitler niemals fehlen."" (Mehr zu diesem Thema in der FR.)

Außerdem: Jens Bisky fragt sich in der SZ, wie lange die deutsche Politik eigentlich noch Krisen - etwa NSA, islamischer Fundamentalismus oder Putins gegen die EU gerichtete Ideologie - vertagen möchte. Im Gespräch mit Nils Minkmar in der FAZ sieht der Historiker Raphael Gross vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt die Gefahr einer neuen antisemitischen Koalition in Deutschland durchaus nicht unbegründet: "Aus Friedensdemonstranten werden im deutschen Kontext hassende Antisemiten. Ob sie das selber so erleben, ist unklar. Aber wir sehen es an der Parole, die Empörung mobilisieren soll: "Kindermörder Israel"." Und der Tagesspiegel druckt einen Essay von Bernard Avishai ab, in dem der Professor für Wirtschaft an der Hebrew University in Jerusalem über die Ausweglosigkeit des Krieges zwischen Israelis und Palästinensern, aber auch die Möglichkeit eines Gewaltausbruchs im Westjordanland schreibt.
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