9punkt - Die Debattenrundschau

Die schwäbische Version der Naturkatastrophe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2014. In der FAZ spricht Boris Pahor über die italienischen KZs im Zweiten Weltkrieg und das italienische Desinteresse an diesem Thema. Branchenblogs spekulieren, dass sich Amazon demnächst den Verlag Simon & Schuster kauft - um damit auch Zugang zu den physischen Buchläden zu bekommen. In Le Monde erklären die "Intermittents du Spectacle", warum sie das ganze französische Volk repräsentieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2014 finden Sie hier

Internet

(Via @steffenmeier) Amazon betreibt mit Amazon Publishing bereits eine Reihe verlagsähnlicher Imprints. Nun berichtet Michael Kozlowski im Branchenblog goodereader.com, dass Amazon womöglich den Verlag Simon & Schuster, einen der fünf großen Verlage, kaufen will. Das könnte die Buchbranche nochmals auf den Kopf stellen, meint er: "Wenn dieser Deal gelänge, hätte Amazon mit seinen Imprints Zugang zu den physischen Buchgeschäften." Jetzt online: Jan Brandts FAS-Artikel über den Amazon-Streit in den USA, über den noch ausführlicher die New York Times berichtete (unser Resümee).

Google Plus hat den Klarnamenzwang abgeschafft, berichtet Martin Weigert in Netzwertig. Daraus folgt für Weigert mehr: "Dass der Konzern selbst keine großen Ambitionen mehr für Google+ hat, zeigt die Abwesenheit seiner Erwähnungen auf der jüngst abgehaltenen Google-Entwicklerkonferenz I/O. Der "Vater" des Projekts, Vic Gundrota, verließ das Unternehmen jüngst." Mehr zum Thema bei Techcrunch.

Außerdem: In Netzpolitik stellt Andre Meister kurz den Dienst HiddenFromGoogle.com vor, der Inanspruchnahmen des "Rechts auf Vergessen" dokumentieren will. Lawblogger Udo Vetter dokumentiert einen Fall, wo Google einer Anfrage zum "Recht auf Vergessen" nicht stattgegeben hat, sondern sich auf öffentliches Interesse am Suchergebnis beruft. Pirat Christopher Lauer beschreibt in der FAZ, was ausländische Geheimdienste allein aus Google-Anfragen von Behörden oder Ministerien ablesen können. Ebenfalls in der FAZ warnt Melanie Mühl vor dem Zugriff Googles auf unsere Gesundheitsdaten. Johannes Boie berichtet in der SZ, dass Ministerien die Veröffentlichung heikler Dokumente auf Internetseiten nicht mit dem fadenscheinigen Hinweis auf das Urheberrecht verhindern können, wie im Fall der Seite FragDenStaat.de versucht.
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Geschichte



Der slowenisch-italienische Autor Boris Pahor, hundert Jahre alt, ist einer der letzten Augenzeugen der Lagerwelt im Zweiten Weltkrieg. In Neuengamme hat er einen Kranz niedergelegt und eine Ausstellung über die Lager der italienischen Faschisten in Slowenien eröffnet. Den Italienern wirft er im Gespräch mit Hubert Spiegel in der FAZ vor, sich überhaupt nicht mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: "Was damals in den italienischen Lagern geschah, ist schlimmer, als die Ausstellung zeigen könnte... Der Dichter Igor Gruden hat Gedichte darüber geschrieben, dass sterbenden Kindern im Lager das Essen weggenommen wurde, weil diejenigen, die es ihnen stahlen, weiterleben wollten. Mütter haben die Kadaver ihrer eigenen Kinder im Stroh versteckt, um deren Essensrationen zu bekommen." (Balcani Caucasos Foto von Boris Pahor ist unter CC-Lizenz bei Flickr eingestellt.)

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, sieht Christopher Clarks Weltkriegsbuch "Die Schlafwandler" in einem Strudel aus Schuldfrage und anti-europäischer Stimmung geraten, wie er in der SZ schreibt: "Unter der Oberfläche scheint das alte Trauma der Deutschen fortzuleben, in Europa nicht nur alleine zu stehen, sondern von missgünstigen Nachbarn auch noch eingekreist zu werden. Das wiese dann auf eine besorgniserregende Parallele zwischen 1914 und 2014 hin."
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Politik

Der Krieg zwischen der Hamas und den israelischen Truppen tobt vor allem abseits des eigentlichen Schlachtfeldes: nämlich in den Medien, erklärt der Historiker Joseph Croitoru in der NZZ. "Als Erfolg können die Islamisten für sich verbuchen, dass kaum ein israelisches Nachrichtenportal und auch nicht das Staatsfernsehen dieser Tage ohne ihre Propagandavideos auskommt. Dies ist wohl nicht nur der bitteren Konkurrenz auf dem israelischen Medienmarkt geschuldet. Ein weiterer Grund für die gestiegene Durchschlagskraft palästinensischen Propagandamaterials ist der Umstand, dass es nun dreisprachig, also neben Arabisch und Englisch auch in Hebräisch, aufbereitet ist."
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Ideen

In der Presse erinnert Thomas Kramar anlässlich einer Wiener Ausstellung an den Mathematiker und Logiker Kurt Gödel, der alle Versuche David Hilberts konterkarierte, die Mathematik als Paradies der reinen Logik aufzubauen: "Gödel hat, pathetisch gesagt, gezeigt, dass es dieses Paradies gar nicht gibt. Eine Desillusionierung, vergleichbar mit jener, die ein paar Jahre vorher die Quantentheorie der Physik gebracht hat: Man kann nicht zugleich genau wissen, wo und wie schnell ein Teilchen ist. So ist Gödel als großer Enttäuscher eine Figur, die bestens in die Postmoderne passt. Auch in seinem Gefühl, nicht verstanden zu werden. (Das oft, etwa im Fall von Ludwig Wittgenstein, zutraf.) Und in seiner Rätselhaftigkeit, seiner Schwäche."

Lorenz Jäger amüsiert sich in der FAZ darüber, wie Slavoj Zizeks Plagiat ans Licht kam (wir berichteten): "Es waren die Passagen in völlig transparenter, klarer Sprache, an denen der Blogger Deogolwulf am 9. Juli erkannte, dass sie unmöglich von Žižek stammen konnten. So viel zu der aktuellen Peinlichkeit."
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Gesellschaft

Am Ende hat sich durch den Gaucho-Tanz doch noch eine hässlich deutsche Note in den Siegestaumel geschlichen. Und das bei all dem PR-Training, das die armen Jungs durchmachen müssen. Musste das sein? Ganz klar nein, meint Malte Lehming im Tagesspiegel: "Sie haben es nicht böse gemeint. Das ist wohl so. Aber sie haben bewiesen, dass es auch im Fußball nicht nur Trottel gibt, sondern auch Riesentrottel."

Auch Frank Lübberding in der FAZ fühlt sich mit dem Gaucho-Tanz und -Gesang ("So gehen Gauchos, so gehen Deutsche") nicht gerade wohl: "Die seit Wochen zu hörenden Floskeln vom "neuen Deutschland", das sich im Spiel dieser Mannschaft verkörpere, werden zum Gespött geraten. Man muss die angebliche "Weltoffenheit" und "Toleranz" nur mit den "gehenden Gauchos" der Nationalspieler kontrastieren."

Charlotte Wiedemann erzählt in der taz die Geschichte des Lamido Sanusi, der - marxistischer Ökonom, jetzt Emir von Kano im Norden Nigerias - Oppositionsgeist mit feudalem Sufi-Islam verbinde: "Als reformwütiger Zentralbankchef wurde er im Februar vom Staatspräsidenten suspendiert, weil er Unterschlagungen in der staatlichen Ölgesellschaft offenzulegen begann. Es ging um Milliardenbeträge. Sanusi liebt die Provokation, er ist ein Paradiesvogel, aristokratisch, wohlhabend und so exzentrisch, wie jemand vermutlich sein muss, der in London und New York Wirtschaftswissenschaften und in Khartum islamisches Recht studiert hat. Beim Abendessen vor acht Jahren breitete er ungefragt sein polygames Leben aus. Drei Haushalte auf zwei Kontinenten, drei Frauen, zehn Kinder. Aber bitte: alle Gattinnen Akademikerinnen!"

Und in Österreich wird offenbar das geschlechtsneutrale großen Binnen-I auch im offiziellen Sprachgebrauch verwendet. Nun regt sich wieder der Widerstand der Sprachschützer, wie die Presse berichtet.
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Kulturpolitik

Bauen können die Schwaben offenbar genauso wenig wie die Berliner, die Sanierung des Stuttgarter Opernhauses soll statt der geplanten 18 Millionen doch 300 Millionen Euro kosten. Roman Deiniger schlägt in der SZ die Hände über dem Kopf zusammen: "Mit ein bisschen bösem Willen könnte man sagen: Fast alles, was so entstehen soll in Stuttgart, wird nie fertig - und dabei immer teurer. Die Kostenexplosion ist inzwischen so etwas wie die schwäbische Version der Naturkatastrophe." (Mehr dazu in der Stuttgarter Zeitung)

Mit großem Pathos wenden sich die "Intermittents du Spectacle" des Festivals von Avignon in einem offenen Brief (publiziert in Le Monde) an den französischen Präsidenten: "Wir sprechen hier über eine soziale Ungerechtigkeit, die die Welt des Spektakels dazu bewegt, die Fackel der Revolte aufzugreifen." Und das "Wir" wird auch beschrieben: "Wir sind Künstler, Techniker, Produktionsassistenten, Kommunikationsfachleute, Kartenverkäufer, Sekretärinnen, wir haben Werkverträge, Hilfsverträge, Praktika, und wir repräsentieren gerade darum einen großen Teil der französischen Arbeitnehmer." François Hollande, fordern sie, soll dafür sorgen, dass in Europa wieder soziale Gerechtigkeit herrscht.
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Medien

Christian Meier von Meedia spekuliert über die Schirrmacher-Nachfolge. Der Spiegel hat Florian Illies ins Spiel gebracht - auch Meier hält ihn für den besten Kandidaten. Nur aus Illies" eigener Sicht könnte einiges gegen den Posten sprechen: "Warum sollte er sich jetzt nach Frankfurt begeben? In einen Zeitungsverlag, der mit roten Zahlen zu kämpfen hat und in dem dieser Tage die Unternehmensberatung von Roland Berger ihre Kreise zieht? Allein das Herausgeber-Gehalt von einer geschätzten halben Million Euro im Jahr wird nicht den Ausschlag geben."

Sven Hansen meldet in der taz, dass in Birma drei Journalisten zu je zehn Jahren Haft verurteilt wurden, nachdem sie über den Bau einer Chemiewaffenfabrik mit Chinas Hilfe berichtet hatten.
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