9punkt - Die Debattenrundschau

Geliebte Charlotte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2014. Adieu offenes Netz. Leistungsschutzrechte werden eingeklagt. Blaue Briefe gehen raus. Alle bangen: Ähnle ich einer Suchmaschine? Irights.info berichtet. In der NZZ plädiert Tomasz Kurianowicz für unmittelbare Kommunikation unter Liebenden, das reduziert das Begehren. Die dänische Zeitung Information und The Intercept enthüllen das allergeheimste Geheimnis: Die NSA saugt mit 3 Terabit pro Sekunde die Glasfaserkabel ab, und die europäischen Geheimdienste sekundieren. Viele sind empört: Israel sucht nach entführten Israelis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.06.2014 finden Sie hier

Überwachung



In der dänischen Tageszeitung Information (in Kooperation mit The Intercept) berichten Anton Geist, Sebastian Gjerding, Henrik Moltke und Laura Poitras über ein Überwachungsprogramm namens RAMPART-A, mittels dessen die NSA den internationalen Datenverkehr über Glasfaserkabel absaugt, mit der atemberaubenden Datenrate von 3 Terabit pro Sekunde - und freundlicher Unterstützung anderer Länder, darunter Dänemark und Deutschland: "For any foreign government, allowing the NSA to secretly tap private communications is politically explosive, hence the extreme secrecy shrouding the names of those involved. But governments that participate in RAMPART-A get something in return: access to the NSA"s sophisticated surveillance equipment, so they too can spy on the mass of data that flows in and out of their territory. The partnership deals operate on the condition that the host country will not use the NSA"s spy technology to collect any data on U.S. citizens." Wem die 3 Tb/S als Einheit zu abstrakt ist, dem rechnet netzpolitik.org vor: es entspricht 362 Millionen CDs pro Tag.

Patrick Beuth und Kai Biermann haben sich durch die vom Spiegel veröffentlichten Snowden-Files (siehe auch unsere gestrige Debattenrundschau) geackert und präsentieren in Zeit digital ihre Ergebnisse. Fazit: Die Belege, dass der BND ziemlich genau wusste, was die NSA in Deutschland treibt, reichen zurück bis ins Jahr 2007. "Genug Material also für den Untersuchungsausschuss im Bundestag. Immerhin soll der auch klären, wie stark der BND an der Spionage der NSA und des GCHQ beteiligt war und ist."

Während die Universität Rostock noch über den Ehrendoktor für Edward Snowden streitet, hat der Akademische Senat der Freien Universität Berlin beschlossen, den Whistleblower zum Ehrenmitglied zu ernennen, meldet Anja Kühne im Tagesspiegel: "Zur Begründung hieß es, der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter habe sich "außergewöhnlich für Transparenz, Gerechtigkeit und Freiheit eingesetzt". Dies sei eine "in höchstem Maße mit den Grundsätzen der FU - Veritas, Iustitia und Libertas - konforme Haltung"."

Außerdem: In der FAZ warnt Melanie Mühl vor Apps, mit denen man
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Gesellschaft

"Wir erfahren eine Aufwertung der Schriftkultur", verkündet der Journalist und Literaturwissenschafter Tomasz Kurianowicz in der NZZ angesichts der Zunahme der Kommunikation über SMS, Chat und Email und warnt sogleich vor den Folgen, wenn sich der zwischenmenschliche Austausch, etwa bei Verliebten, ins Digitale verlagert: "Werther macht es vor: Anstatt seine geliebte Charlotte zu treffen, bleibt er zu Hause und schreibt Briefe an seinen Freund Wilhelm und berichtet diesem über seine ungestüme Liebe. Desto größer die Distanz, desto größer das Begehren. Wer den Liebenden nicht sieht, kann ihn sich nach freier Vorstellung formen... Jeder, der Whatsapp nutzt, anstatt anzurufen oder sich zu treffen, projiziert, so wie Werther, der sich am Ende konsequenterweise in die radikale Inkommunizierbarkeit, also in den Selbstmord, flüchtet, seine eigenen Gedanken in den Text. Heute wären "Die Leiden des jungen Werthers" ein Whatsapp-Roman."
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Internet

Wie gestern gemeldet, hat die VG Media Klage gegen Google eingereicht, weil man Geld für die Snippets in den Suchergebnislisten will. Doch bei Google bleibt es nicht, berichtet jetzt irights.info: "Bekannt ist, dass die VG Media derzeit Briefe versendet, in denen sie Internet-Unternehmen zu Verhandlungen über Leistungsschutz-Vergütungen auffordert und einlädt." Zugleich hat auch die VG Wort beschlossen, das Leistungsschutzrecht der ihr angeschlossenen Verlage wahrzunehmen.

Während der Axel-Springer-Verlag eifrig Politik gegen Google macht - europa- und deutschlandweit - beteiligt er sich gleichzeitig am Aufbau der französischen Suchmaschine Qwant, meldet Heise: "Qwant verspricht dabei neutrale Suchergebnisse, wer personenbezogene Resultate wünsche, könne ein Konto anlegen und sich einloggen. Im Unterschied zu Google verkaufe man keine Anzeigen, sodass die Interessen der Nutzer zu diesem Zweck nicht ausgespäht werden müssten."

Im März hatte sich die FAZ noch über die Dominanz putinfreundlicher Kommentare auf Nachrichtenportalen und in sozialen Netzwerken gewundert. Dank Veröffentlichungen im Blog der Gruppe "Anonymous International" besteht mittlerweile Gewissheit, dass es sich um ein Heer von russischen Trollen handelt, das von einem in Sankt Petersburg ansässigen Unternehmen namens "Agentur zur Untersuchung des Internets" bezahlt wird, berichtet Julian Staib: "Einige Mitarbeiter sind, so ist es in den E-Mails zu lesen, angewiesen, rund 50 Einträge pro Tag auf Onlineauftritten zu posten, sechs Facebook-Accounts zu betreiben und dort jeweils mindestens drei Einträge täglich zu verfassen." (Siehe auch unsere Debattenrundschau vom 17. Juni)
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Europa

Wladimir Putin verhält sich im Ukraine-Konflikt aufs Haar genau wie Milosevic in den Jugolsawien-Kriegen, schreiben Vera Mironova und Maria Snegovaya in der New Republic. Ein Beispiel: "Sowohl russische als auch serbische Propaganda setzten die alten Mythen des kroatischen beziehungsweise ukrainischen Faschismus ins Spiel."
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Politik

Sind die Deutschen wirklich nur aus Bequemlichkeit Pazifisten, wie Henryk M. Broder kürzlich in der Welt schrieb? Wolfgang Büscher ist damit, ebenfalls in der Welt, nicht einverstanden: "Die Forderung der Verbündeten an Deutschland hatte stets etwas von Doublebind: Seid reuig - und seid wehrhaft. Beides verständlich im Kalten Krieg, aber beides geht schlecht zusammen. Die Alliierten selbst verstanden das, sie gewährten uns Deutschen, jedenfalls bis zum Mauerfall und noch eine Weile danach, diese gewisse "exception allemande": Ihr müsst nicht so scharf ran wie wir."

René Wildangel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, ist entsetzt über die Suche der israelischen Armee nach den "mutmaßlich" entführten drei israelischen Jugendlichen. Dass die Hamas dafür verantwortlich sein könnte, hält er in der taz für unwahrscheinlich: "Gerade hatte man sich mit der Fatah auf eine Einheitsregierung geeinigt, um aus der seit 2007 bestehenden Isolation im Gazastreifen auszubrechen. Die neue Regierung hat auch die Bedingungen des Nahostquartetts akzeptiert, die unter anderem einen Gewaltverzicht verlangen. Eine geplante Entführung wäre ein kalkuliertes Ende der Einheitsregierung, das derzeit kaum im Interesse der Hamasführung liegen dürfte."

Ähnlich reagierte auf Spon Julia Amalia Heyer, die Netanjahu vorwarf, die Entführung zu Propagandazwecken auszunutzen: "Auf den tragischen Teil der Ereignisse, das Verschwinden der drei jungen Männer und die fieberhafte Suche nach ihnen, folgt der zynische Teil: die Tatsache, wie mit diesem Unglück Politik gemacht wird, und dass daraus der maximale politische Nutzen gezogen wird."

Im Deutschlandfunk musste sich der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsmann für die Suche nach den Entführten verantworten, schreibt Alexander Wendt in einem kurzen Kommentar auf Achgut: "Als Hadas-Handelsman rhetorisch zurückfragte, was Israel denn tun solle angesichts der Tatsache, dass seine Bürger entführt oder mit Raketen terrorisiert würden, machte Müller deutlich, dass er beim Deutschlandfunk nicht auf der Judenschul ist: "Herr Hadas-Handelsman, meine Aufgabe ist hier zu fragen. Sie antworten.""
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