9punkt - Die Debattenrundschau

Fahrlässig unbefugt gewählt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2014. Entsetzen nach den Triumphen des Front national und der Ukip. In Frankreich fordert Bernard-Henri Lévy gar eine Regierung der nationalen Einheit. Kenan Malik und viele andere sehen die Voten für FN und Ukip vor allem als Quittung für ein Versagen der Linken und des Sozialstaats. Giovanni di Lorenzo wird für seine Doppelvotum vermutlich nicht bestraft werden, meint der Jurist Henning Ernst Müller im Beck-Blog - der Chefredakteur der Zeit hatte halt keine Ahnung. Kaum ist die Europawahl vorbei, fordert Mathias Döpfner laut Welt Aktionen gegen Google.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.05.2014 finden Sie hier

Europa

BHL hat keine Scheu, sein Entsetzen nach den französischen Abstimmungen zur Europawahl zu bekunden. "Frankreich ist in Gefahr", schreibt er in Le Monde. "Ein Viertel unserer Landsleute haben für das Schlimmste gestimmt. Sie haben eine Partei gewählt, die nicht nur anti-europäisch, sondern anti-französisch ist." Politisch empfiehlt er einen politischen Brückenschlag demokratischer Kräfte: "Angesichts der doppelten Herausforderung durch die extreme Rechte und durch die Krise, die in der Tat unsere Landsleute betrifft, sollte eine Regierung der nationalen Einheit Männer und Frauen guten Willens versammeln, ob rechts oder links, die entschlossen sind, den Bruderkrieg der republikanischen Kräfte zu stoppen."

In der FAZ sieht Nils Minkmar schon ganz Frankreich faschistisch unterwandert, was auch mit der fehlenden Aufarbeitung der Geschichte zu tun habe: "Störende Episoden werden verschwiegen, nur eine korrekte, aber stark bearbeitete, gewissermaßen niedliche Geschichte des eigenen Landes wird verbreitet."

Micha Brumlik will den Rechtsextremismus in der taz dagegen mit mehr Sozialstaat heilen. Ähnlich sieht es der Anwalt Rupert Myers in einem Kommentar für den Guardian mit Blick auf die britische UKIP-Partei: "Dies ist keine Partei, die von Rassismus angetrieben wird, sondern eine, die das Gefühl der Desorientierung unter den weniger Wohlhabenden ausbeutet."

Ein ähnliches Erklärungsmuster fand bereits vor den Wahlen der britischen Publizist Kenan Malik, der sich nicht scheut, Front national und Ukip in einem Atemzug zu nennen: "Die neue politische Trennlinie in Europa scheidet nicht rechts von links, Sozialdemokraten und Konservative, sondern jene, die sich im postideologischen Zeitalter anpassen können, und jene, die sich aussortiert und ohne Stimme fühlen. Diese Art von Spaltung hat zwar immer schon exisitert. In der Vergangenheit aber konnte dies Gefühl der Enteignung und Einflusslosiskeit politisch durch die Organisationen der Linken und der Arbeiterbewegung ausgedrückt werden. Das war einmal."

Der Libération ist bei den Europawahlen ein kleines Missgeschick unterlaufen: Ihr Cover drückt nicht das Entsetzen über Le Pens Wahlerfolg aus, das es sicher ausdrücken sollte. Pascal Riché von Rue89 vergleicht den Titel auf Twitter mit dem Titel der für ihre fremdenfeindlichen Positionen bekannten Zeitung Valeurs actuelles. François Sergent, Chefredakteur der Zeitung, sieht sich gezwungen, das Cover online zu rechtfertigen: "Unsere Eins zu den Wahlen verstört und stellt Fragen."

Wenigstens eine Wahl, die Freude macht (und mit recht wenig Faschismus drin!) Inga Pylypchuk schreibt in der Welt: "Am meisten stolz macht mich aber die Tatsache, dass, unabhängig davon, wer Präsident wird, die Ukrainer viel wacher, viel bewusster, viel entschiedener geworden sind. Viel europäischer, könnte man auch sagen. Man kann nur hoffen, dass sie künftig nicht mehr alles mit sich machen lassen."
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Gesellschaft

"Neue Architektur hat in Berlin kaum eine Chance", klagt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel nach dem Berliner Volksentscheid gegen die Randbebauung des Tempelhofer Felds: "Sie muss erkämpft werden, wie auf der Museumsinsel, wo David Chipperfield erst nach langem Streit jetzt den Eingangsbereich realisieren kann. Hochhäuser am Alexanderplatz? Lieber nicht, es könnte zu viel Zugluft entstehen. Apropos: Wie lange wurde über den Hauptbahnhof von Meinhard von Gerkan gestritten? Das spukhässliche Kunsthaus Tacheles und die Investoren: eine schier endlose Geschichte. Die East Side Gallery - für viele Menschen offenbar der semiheilige Ort, wo 1989 die Mauer von David Hasselhoff geöffnet wurde. Also unbedingt zu erhalten, zu verteidigen, nicht zu bebauen, wie das gesamte Umfeld auf beiden Ufern der Spree."

Für Gerhard Matzig ist der Volksentscheid irgendwie symptomatisch - und nicht nur für Berlin: "Beinahe jede Kommune in Deutschland hat mittlerweile ihr Stuttgart-21-Problem, wobei es gelegentlich nur um die Verlegung eines Buswartehäuschens oder die Ansiedelung eines Flüchtlingsheims geht. Kann man aber auf Dauer davon leben, dass wir nichts tun wollen: dass wir keinen neuen Bahnhof wollen (oder diesen erst nach 20 Jahren Streit bei gefühlten 21 Jahren Heiner-Geißler-Mediation), dass wir keine Startbahn wollen, keine Stromtrassen, keine Umgehungsstraße, keine Hochhäuser... Soll alles bleiben, wie es ist? Wiese?"

Die Schriftstellerin Lola Shoneyin ist mit ihrer Familie von England nach Nigeria zurückgezogen. Die politischen Verhältnisse dort, bekennt sie im Interview mit der SZ, machen sie aber immer noch sehr zornig: "Es gab Zeiten, da konnte man ohne Beziehungen durch gute Leistungen in der Schule nach oben kommen, aber dieses System ist schon längst kollabiert. Da ist viel verfault und zusammengebrochen, weil unsere Führung das Potenzial der Menschen nicht sieht. Es wäre so viel möglich in Nigeria, aber dazu müssten Politiker andere Prioritäten haben, weg von ihren eigenen Interessen und ihren Bankkonten."
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Ideen

Sascha Lehnartz resümiert in der Welt einen Streit zwischen der Financial Times und dem neuen Superstar der Ökonomie Thomas Piketty, der in seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" Erklärungen für die immer größere Einkommensungleichheit sucht: "Die Kritiker der Financial Times sind überzeugt, dass Pikettys Kernthese, dass die Vermögensunterschiede sich wieder jenen drastischen Dimensionen annäherten, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg üblich waren, sich mit seinem Datenmaterial nicht belegen lässt." Auch die FAZ hat im Wirtschaftsteil zu diesem Thema berichtet, ebenso der Guardian, hier.
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Überwachung

Im Interview mit der NZZ beharrt Glenn Greenwald auf der Ansicht, dass unbescholtene Bürger nicht von ihrer Regierung überwacht werden sollten. "Ich setze nicht auf Obama. Das Reformgesetz wurde verwässert und trägt einen Namen, den es nicht verdient. Ich setze darauf, dass Bürger und Nutzer von Social-Media-Diensten Reformen einfordern. Da liegt unsere wirkliche Chance. Sie müssen Druck ausüben auf Internetfirmen und deren Dienste, denn Washington hört nicht auf einfache Bürger, sondern auf Internet-Milliardäre. ... Facebook, Google und andere störten sich nicht an der Überwachung durch die NSA, solange niemand davon wusste. Aber seit den Enthüllungen geraten sie in Panik und setzen die Regierung unter Druck. Aber am meisten verspreche ich mir davon, dass mehr Nutzer ihre Nachrichten verschlüsseln."

Außerdem: Im Interview mit der taz erklärt Greenwald, wie genau die Zusammenarbeit bei der Auswertung der NSA-Dokumente mit den Medien läuft.
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Internet

Die Kosten, die Bibliotheken von Wissenschaftsverlagen auferlegt werden, einfach ignorierend, mokiert sich Uwe Justus Wenzel in der NZZ über die Vorstellung, nur das Internet sei öffentlich zugänglich, die Bibliothek aber nicht: "Wie konnte es dazu kommen? Haben die Verantwortlichen zur Nachtzeit versucht, in die Universitätsbibliothek zu gehen, und glauben sie nun, da sie vor verschlossener Tür standen, das Haus sei nicht 'offen zugänglich'? Stören sie sich womöglich an der einmaligen Gebühr, die in Bern (aber nicht überall) fällig wird, wenn sie sich als Bibliotheksbenutzer registrieren lassen?" Vielleicht stören sie sich ja an den Tausenden von Franken, die sie an Wissenschaftsverlage zahlen müssen, deren Erzeugnisse eh schon mit Steuergeldern gefördert wurden?
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Medien

(Via Indiskretion Ehrensache) Giovanni di Lorenzo hat glaubhaft den Eindruck gemacht, keine Ahnung zu haben, und muss darum wegen seiner doppelten Abstimmung bei der Europawahl nicht mit Sanktionen rechnen, meint Henning Ernst Müller im Beck-Blog nach Diskussion mit einigen Kollegen: "Fraglich ist aber, ob er auch den subjektiven Tatbestand erfüllt hat. Wird 'unbefugt' als normatives Tatbestandsmerkmal aufgefasst, ist der Irrtum, unbefugt zu wählen, ein Tatbestandsirrtum, der den Vorsatz ausschließt. Das ist wohl die überwiegende Auffassung. Meinte also Herr di Lorenzo, er wähle 'befugt' zweimal (so jedenfalls der Eindruck derer, die die Sendung gesehen haben), dann hat er demnach nur (straflos) fahrlässig unbefugt gewählt - er wäre dann 'nochmal davongekommen'."

Kaum sind die Europawahlen gelaufen, fordert Springer-Chef Mathias Döpfner Aktionen gegen Google. Die Welt resümiert einen Vortrag, den Döpfner in Tübingen gehalten hat: "Medienmanager Mathias Döpfner hat der EU-Kommission vorgeworfen, die Branche nicht vor einer Wettbewerbsverzerrung durch Internet-Giganten wie Google zu schützen... Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia unternehme nichts dagegen, dass Google bei Suchanfragen seine eigenen Dienstleistungen gegenüber Angeboten von Konkurrenten bevorzuge. 'Ein solches Vorgehen nennt man Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung.'"
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Weiteres

Sieglinde Geisel war für die NZZ bei der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie. Der Theologe Bernhard Lang berichtet in der NZZ über die andauernde Kontroverse um einen Papyrusfetzen, der eine Ehefrau Jesu erwähnt. In der taz schreibt Arno Frank über das sechs Tage dauernde Philosophie-Festival Phil.Cologne in Köln. Und auf der Medienseite der FAZ berichtet Dirk Schümer von den Machenschaften des dänischen Klatschblatts Se og Hør, das Prominente und sogar das Königshaus ausspähte (mehr beim Guardian).
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