9punkt - Die Debattenrundschau

Die Droge der universellen Vernetzung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2014. Das kalte sowjetische Grauen packt die Autorin Elena Chizhova in der NZZ angesichts all der Putin-Groupies in Russland. Karl Schlögel bekennt dagegen in der Welt sein Entsetzen über die westlichen Putinisten in hiesigen Talkshows. In der taz fragen Micha Brumlik und Hajo Funke angesichts staatlicher Verstrickungen um das Zwickauer Mordtrio, ob wir inzwischen im "deep state" angelangt sind. Die FAZ wirft einen Blick auf die europäischen Krisenländer Italien und Frankreich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.04.2014 finden Sie hier

Europa

In einem beklemmenden Text in der NZZ schildert die russische Schriftstellerin Elena Chizhova die Hysterie, die Putin in Russland mit seinem politischen Obskurantismus ausgelöst hat. "Aus der Ferne mag man das Geschehen als Tragikomödie bezeichnen, aber uns, die wir in Russland leben, ist nicht zum Lachen zumute. In all diesen Reprisen, diesen Intonationen und Begeisterungsstürmen schwingt das kalte sowjetische Grauen mit, das in den letzten Jahren Schritt für Schritt seine früheren, vermeintlich von der Perestroika zerstörten Positionen zurückerobert hat."

Dass Europa dem auftrumpfenden Russland so wenig entgegenzusetzen hat, erklärt sich Martin Meyer in der NZZ (vom Samstag) auch damit, dass es sich in der Schuldenkrise hat auseinanderdividieren lassen: "Der Nächste wird plötzlich zum Fremden, und geografisch-kulturelle Vielfalt, wie sie Europa in unvergleichlichem Masse hervorbrachte, insistiert, nicht selten polemisch, auf der Differenz statt auf den Gemeinsamkeiten."

Karl Schlögel dagegen, einer der besten Russland-Kenner in Deutschland, wundert sich in der Welt über die stark proputinistische Besetzung deutscher Talkshows - am Beispiel der letzten Sendung von Maybrit Illner: "Ein Höhepunkt der Veranstaltung war die Wortmeldung von Matthias Platzeck, aus der Landespolitik aufgestiegen in die Leitung des Deutsch-Russischen Forums, wofür er sich offensichtlich dadurch qualifiziert hat, dass er 'gelernter DDR-Bürger' war und 'Russland nach wie vor liebt'. Er empfahl der Ukraine, auf die für den 25. Mai angesetzte Präsidentschaftswahl zu verzichten."

Die Ukraine-Krise führt nebenbei zu Post-68er-Scharmützeln. Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck bringt in der Welt einen offenen Brief an Götz Aly: "Herr Aly, ich bin keine Barrikadenbraut!" Aly hatte sie in einer Kolumne angegriffen, nachdem sie sich in einer privaten Mail über frühere Kolumnen beklagt hatte: Dort hatte Aly, die Ausdehnung der Nato beklagt, Partei für Wladimir Putin ergriffen, hatte gefragt ob die Ukraine überhaupt den Namen "Staat" verdient, und hatte vor der Idee der Selbstbestimmung der Völker gewarnt.

Dirk Schümer (FAZ) macht im italienischen Europa-Wahlkampf eine Menge deutschlandfeindlicher Parolen - nicht nur, aber besonders bei Berlusconi aus: "Der wohlfeile Rückgriff auf den Chauvinismus war aber gerade von Berlusconi zu erwarten, denn so gibt es erst gar keine Debatte über dessen Vorstrafe, die persönlichen Skandale oder sein eklatantes Scheitern als Regierungschef."

Im FAZ-Gespräch mit Olivier Guez sieht Robert Badinter, großer alter Mann der französischen Politik, das Hauptproblem Frankreichs in der Arbeitslosigkeit und einer Fixierung auf den Staat: "Ich glaube .., unsere Liebe zur beamtenartigen Arbeit - möglichst eine lebenslange Beschäftigung, die uns 'schützt' - wird uns zum Verhängnis. Das hat mit unserem Verständnis der Staatsaufgaben und mit unserem Verhältnis zum Staat zu tun, dem Staat, der immer noch unser Denken beherrscht."
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Politik

Ende März wurde Thomas R. tot aufgefunden, ein V-Mann des Verfassungsschutzes und Zeuge im NSU-Verfahren. Für Micha Brumlik und Hajo Funke ist klar, dass auch die Umstände dieses Todes im Dunkel bleiben wird. Sie sehen darin nur das weitere Anzeichen einer Staatskrise, wie sie bereits am Samstag in der taz schrieben: "Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates. Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem 'tiefen Staat' die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei."

In der taz von heute stellt die Ethnologin Friederike Stolleis fest, dass Bashar al-Assad nicht der Beschützer syrischer Minderheiten ist: "Er nutzt diese, um an der Macht zu bleiben. Dass manche Christen das Assad-Regime unterstützen, bedeutet nicht, dass das Regime die Interessen der Christen tatsächlich vertritt."
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Internet

Alles in allem war das mit dem Internet vielleicht doch keine so gute Idee, findet Thymian Bussemer in einer Rede, die bei Carta veröffentlicht ist - er rekurriert hier vor allem auf Kommentarthreads in Blogs und Medien: "Die Öffentlichkeit ist seit einigen Jahren in einem rauschhaften Zustand, und die Droge der universellen Vernetzung tut ihr nicht gut."
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Ideen

In einem interessanten kleinen Essay analysiert Wolf Lepenies in der Welt das Scheitern der arabischen Revolutionen vor dem Hintergrund von Hannah Arendts Idee der Revolution, in der sie eine scharfen Unterscheid zwischen "Befreiung" und "Freiheit" macht: "Anders als die Französische Revolution, so Hannah Arendt, war die amerikanische kein Versuch, die Misere der Massen zu lindern - sie war einzig und allein ein Akt zur Erringung der politischen Freiheit. Wo die Jakobiner wie später die Bolschewiki scheiterten, hatten die amerikanischen Revolutionäre Erfolg." Für die Araber hält Lepenies immerhin Arendts Trost bereit, "dass auch gescheiterte Revolutionen positiv erinnert werden und dadurch politisch wirksam bleiben können".
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Weiteres

Gabriele Goettle porträtiert in einer Großreportage in der taz die Medienpädagogin Sabine Schiffer, die unter anderem auch zur Brutalität von Computerspielen forscht: "Im Grunde genommen ist es eine bodenlose Frechheit, die Spieleindustrie macht Unmengen von Geld mit Gewaltverherrlichung, und die Folgen trägt die Gesellschaft."

Norbert Mappes-Niediek berichtet in der FR, dass sich um die Kirchenburgen im rumänischen Siebenbürgen jetzt eine evangelische Stiftung unter Schirmherrschaft von Joachim Gauck und Traian Besescu kümmern wird.
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