9punkt - Die Debattenrundschau

Unersättliches Interesse fürs Disparate

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2014. In der NZZ beschreibt Alexander Etkind das russische System aus Gier, Angst und Betrug, das nebenbei den Westen korrumpiert. In der Welt plaudert Alexander Kluge aus, woran Jürgen Habermas schreibt. In FAZ und Spiegel Online fordert Sascha Lobo die Datenhoheit der Bürger zurück. Netzwertig sagt zum Abschied der deutschen sozialen Netze von VZ bis wkw leise Servus. Und Le Monde staunt darüber, wie Libération ihren neuen Chef begrüßt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2014 finden Sie hier

Europa

Nicht die Logik des russischen Imperialismus treibt Wladimir Putin an, schreibt der in Florenz lehrende Kulturwissenschaftler Alexander Etkind in einem ganzseitigen Essay in der NZZ, sondern die Logik von Gier, Angst und Betrug: "Das System der postsowjetischen 'Eliten', aus dem eigenen Land Geld abzusaugen und es in westlichen Steueroasen zu bunkern, ist zu einer lukrativen Quelle des Profites und der Macht von Banken, Unternehmen und Rechtsanwälten in ganz Europa geworden. Nun hat es sich gezeigt, dass diese unselige Koalition anfängt, die Grundlagen der zivilisierten Weltordnung zu untergraben. Jeder wusste um Unterentwicklung, Übernutzung und Gesetzlosigkeit in Russland, in der Ukraine und in anderen postsowjetischen Staaten. Aber erst jetzt, wo Putin sich entschieden hat, die Krise seines Systems auszulagern, fängt die internationale Öffentlichkeit an, sich darüber Sorgen zu machen."

Deniz Yücel fordert in der taz eine härtere Gangart Europas gegenüber der türkischen Regierung Tayyip Erdogans, die aber aber bitte nicht die Bevökerung treffen darf: "Visa könnten bald wieder zum Thema werden. 'Bloß raus aus diesem Scheißland', war nach der Wahl die erste Reaktion vieler jüngerer Gegner der AKP. Falls Erdogan nun - oder nach einem Erfolg bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr - zum angekündigten Rachefeldzug ausholt, könnten viele tatsächlich das Land verlassen wollen oder müssen. Einreiseerleichterungen für diese Menschen entsprächen Einreiseverbote für die anderen."
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Geschichte

Anmutig mäandernd wie je stellt Alexander Kluge nach Auskunft der Welt die Frage, "wie die Zivilisation aus Paradies und Terror entstand". Nebenbei erfahren wir immerhin, woran Jürgen Habermas gerade arbeitet. Er beschäftige sich mit den Achsenzeiten zwischen 5000 und 3000 vor Christus und dann um 500 vor Christus und mit dem Entstehen von Städten: "Jürgen Habermas sieht diese Phänomene, für deren Entstehen er keinen dezidierten Grund weiß, als den Anfang einer weltbürgerlichen Gesellschaft, der bis heute weiterwirkt, auch wenn die damit verbundenen Projekte des Neuanfangs unterwegs verloren gingen oder zerstört wurden." Kluges Text entstand aus Anlass der Tagung "Stadt - Religion - Kapitalismus ", die ab morgen im Haus der Kulturen stattfindet.

In der SZ vermisst Joseph Hanimann schon jetzt den gestern gestorbenen Mittelalter-Historiker Jacques Le Goff: "Seine 1996 erschienene Biografie 'Ludwig der Heilige', wohl sein Meisterwerk, ist ein Buch, das in der Figur Ludwigs IX. das ganze 13. Jahrhundert aufrollt und wie in einem Prisma in seine Spektralfarben zerlegt. Nicht französische, sondern europäische Geschichte strahlt aus diesem Buch als eine vorzeitige Vision und bezeichnet das Feld, in dem Le Goffs Forschung stets stattfand: programmlos, aber mit klaren Begriffen und unersättlichem Interesse fürs Disparate." Thomas Régnier schreibt im Figaro: "Er hat ein geradezu physisches Verhältnis zu den Wörtern und seinen Forschungsgegenständen. Die Strenge des Historikers koppelt sich bei ihm mit der Kreativität des Schriftstellers. Man muss nur seinen monumentalen 'Ludwig der Heilige' lesen, diese 'totale Biografie', um auf seinen Sinn für pittoreske Anekdoten zu stoßen." In der FAZ schreibt Nils Minkmar den Nachruf. Hier der Nachruf Nicolas Truongs in Le Monde.
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Medien

Die Besitzer der Pariser Zeitung Libération wollen das Blatt in eine Lifestyle-Marke verwandeln, die nur noch von ferne an Journalismus erinnert - eigentlich geht es um eine Umnutzung der attraktiven Pariser Immobilie der Zeitung. Nun installieren sie den Fernsehmann Pierre Fraidenraich als neuen Geschäftsführer. Le Monde weist im Redaktionsblog auf ein Porträt hin, das vorgestern auf der Website von Libération veröffentlicht wurde. Feundlich ist es nicht: "Wer ist denn dieser Fraidenraich" ist es betitelt und sucht dann nach den professionellen Fehlern, die Fraidenraich in seiner Karriere so gemacht hat: Etwa dass er als Direktor der Fernsehnachrichten des Staatssenders France 3 das Nachrichtenstudio für Pseudonachrichten an Werbeteibende vermietete. Unterzeichnet ist das "Portrait au vitriol" (Le Monde) von den "Angestellten der Libération".

In ihrer taz-Kolumne sieht Silke Burmester in den Praktiken des Handelsblatts, gefällige Porträts für 5000 Euro an den Unternehmer zu bringen, einen klaren Auftrag an die Kollegen: "Schon öfters war in Kollegenkreisen das Wort auf Gabor Steingart gekommen und die angebliche bedenkliche Annäherung der Redaktion an die Wirtschaft unter seiner Führung. Da kann ich nur sagen: Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, nicht zu recherchieren, was in der Verlagsgruppe Handelsblatt an Deals eingefädelt wird."

Auf Spiegel Online verteidigt Geschäftsführer Mark Thompson das Vorhaben der New York Times, dem lahmenden Online-Anzeigengeschäft mit Native Advertising zu begegnen, das heißt, von Werbekunden bezahlte Texte zwischen den normalen Artikeln zu setzen: "Wir haben unser Native-Advertising-Produkt, es heißt Paid Posts, mit der vollen Unterstützung der Redaktion gestartet. Die Posts sind wirklich klar gekennzeichnet, es ist für jedermann absolut offensichtlich, dass es sich dabei um Botschaften von Marketingpartnern handelt."

Jürg Altwegg bringt in der FAZ dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld eine Hommage dar - er widmet sich bis heute dem Thema des Völkermords in Ruanda und der Rolle Frankreichs darin und brachte jüngst ein neues Buch zum Thema, "Englebert des Collines" (Gallimard).
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Internet

Zum zweiten Mal wählt Sascha Lobo die FAZ, um vor den Folgen der Digitalisierung zu warnen. Es geht unter anderem um Überwachung von Kunden per Algorithmus, so dass dem einen Kunden je nach Solvenz für eine bestimmte Ware mehr abgeknöpft wird als dem anderen - Google hat ein Patent darauf: "Ob man bestimmte Produkte überhaupt noch angezeigt bekommt, ob man eine Flugreise antreten darf, ob man einen Job bekommt, ob man als Mieter einer Wohnung taugt - das Modell kann quer durch die digitale Gesellschaft angewendet werden, der Konsument oder Bürger wird, den Wahrscheinlichkeiten folgend, in seiner Handlungsfreiheit beschnitten. Ohne dass er sich substantiell wehren könnte oder auch nur Einblick in die Profile und Berechnungen bekäme, die sein Leben bestimmen." In seiner neuen Spiegel-Online-Kolumne fordert Lobo, dass "die Datensammler den Anwendern die Hoheit über ihre Daten zurückgeben".

Mit der Ausnahme von Xing gibt es keine deutschen sozialen Netze mehr, konstatiert Martin Weigert in Netzwertig: "Holtzbrinck war nicht in der Lage, dem Abstieg der VZ-Netzwerke etwas entgegenzusetzen, ProSiebenSat.1 musste beim Niedergang seines ebenfalls im Zuge des Web-2.0-Hypes gekauften Dienstes lokalisten zusehen, und RTL konnte nichts dagegen machen, dass es für werkenntwen genauso dynamisch abwärts ging, wie das Angebot zuvor bestimmte Regionen Deutschlands mit viel Kraft einnahm. Ohne Schadenfreude ist festzustellen, dass die deutschen Medienkonzerne vollständig dabei versagt haben, etwas Nachhaltiges aus ihren Millionenakquisitionen zu machen."
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