Vorgeblättert

Leseprobe zu Zsuzsa Bank: Die hellen Tage. Teil 1

07.02.2011.
Zirkusmädchen

Ich kenne Aja, seit ich denken kann. Ich habe kaum eine Erinnerung an eine Zeit vor ihr, an ein Leben, in dem es sie nicht gegeben hat, keine Vorstellung, wie sie ausgesehen haben könnten, Tage ohne Aja. Aja gefiel mir sofort. Sie sprach laut und deutlich und kannte Wörter wie Wanderzirkus und Schellenkranz. Zwischen anderen sah sie winzig aus, mit ihren kleinen Händen und Füßen, und als müsse sie dem etwas entgegensetzen, sprach sie in langen Sätzen, denen kaum jemand folgte, als wolle sie beweisen, dass sie laut reden konnte, ohne Pause und ohne Fehler. Sie zog in dem Jahr zu uns, in dem für uns Kinder nichts lustiger war, als unsere Namen rückwärts aufzusagen und uns laut Retep oder Itteb zu rufen. Aja hieß immer nur Aja.

Wir fanden uns, wie sich Kinder finden, ohne zu zögern, ohne Umstände, und sobald wir unser erstes Spiel begonnen, unsere ersten Fragen gestellt hatten, verbrachten wir unsere Tage miteinander, fädelten sie auf wie an einer endlosen Kette, und hielten jede Unterbrechung, mit der andere uns trennten, für eine Zumutung. Wenn Aja zu mir kam, öffnete sie unser Hoftor lautlos. Niemand konnte unser Tor lautlos öffnen und schließen, weil es ein großes Tor auf Rollen war, das jeden Besuch vor den letzten Schritten zur Haustür ankündigte, und dessen Geräusch wir bis unters Dach und bis in die hintersten Winkel des Gartens hören konnten. Nur Aja öffnete unser Tor so leise, dass es niemandem auffiel, auch nicht, dass sie über den Hof lief, und ich wunderte mich, wie still sie sein, wie unbemerkt sie kommen und gehen konnte.

Wir müssen uns im Sommer begegnet sein, im Sommer, der Aja umgab, als gehöre er ihr, als gehörten sein Licht, sein Staub, seine langen hellen Abende ihr, und durch den sie sich ohne Jacke und Schuhe, mit einem gelben Hut, den sie im Schrank ihrer Mutter gefunden hatte, bewegte wie durch ein großes, lichtes Haus, dessen Zimmer ohne Türen ineinanderliefen. Wir küssten und umarmten uns schnell, wie Mädchen es häufig tun, auch wenn es Aja sonst mit niemandem tat, auch später nicht, und wir ließen nicht mehr voneinander, auch wenn ich nicht weiß, warum Aja ausgerechnet mich aussuchte, mich einlud und in ihr Leben bat, ein Leben, das anders war als alles, was mir zuvor begegnet war, anders als alles, was ich kannte, und das mir fern erschien, größer und weiter als meines, und sich abspielte an einem Ort ohne Zeit und Grenzen. Ich weiß nicht, was es war, das sie in meine Nähe drängte, an anderen vorbei zu mir schob und an mich band, was es überhaupt sein kann, das uns dazu bringt, uns füreinander zu entscheiden. War es meine Art, über Wiesen zu springen, einen Stein übers Wasser zu werfen, ein Lied zu singen, oder war es nur, weil es sonst niemanden gab, der den Platz neben Aja hätte einnehmen können, in diesen Tagen, an diesem Ort? Sind wir bloß zusammengeblieben, weil auch später niemand kam, der mich hätte ablösen können? Ich habe Aja nie danach gefragt, und heute spielt es keine Rolle mehr. Heute sind wir, wer wir sind, und wir fragen nicht danach, wir suchen nicht nach Gründen.

Das Seltsamste an Aja aber war ihre Mutter. Sie war nicht so wie die Mütter, die ich kannte, die in unserer kleinen Stadt, in den schmalen Straßen rund um den großen Platz, im langen spitzen Schatten des Kirchturms lebten, mit ihren bunten Autos und bunten Einkaufsnetzen, die jeden Morgen am Zaun in ihre Briefkästen sahen, während Ajas Mutter die Post an der Tür entgegennahm. Das Erste, was mir an ihr aufgefallen war, waren die lackierten Fußnägel gewesen, weil sie auch die Haut bemalt hatte, als habe sie mit Lack nicht sparen und einen violetten Streifen auf ihre Zehen setzen wollen. Sie war größer als andere Frauen, sogar größer als die meisten Männer, und Aja schien neben ihr zu verschwinden. Sie hatte lange, schmale Beine, von denen sie sagte, wie Holzbeine sähen sie aus, und es stimmte, ein bisschen sahen sie aus wie die Beine des Küchentischs, den sie im Sommer hinaus in den Garten trug, unter die Zweige der Birnbäume, die ihr Geflecht aus Schatten auf die schmutzige Tischplatte warfen. Hinter einem Maschendraht hielt sie Hühner, die ihr jemand überlassen hatte, und Aja und ich durften jedes Mal eine Handvoll Mais ins Gras streuen und die schmale Tür öffnen, bevor Ajas Mutter auf ihren flachen Schuhen hinging und ein Huhn schnappte, seinen Hals umdrehte und dann später, wenn sie es langsam rupfte, weiße und braune Federn ins kniehohe Gras segeln ließ.

Aja lebte mit ihrer Mutter in einem Haus, das kein Haus war, nur ein Häuschen, gehalten von Brettern und Drähten, eine Hütte, an die neue Teile geschraubt wurden, wenn der Platz nicht mehr reichte, wenn es zu eng geworden war, selbst für die wenigen Möbel, die Ajas Mutter gehörten, für die Schachteln und Kisten, die sie stapelte, und die Schuhkartons, die sie sammelte, für die vielen Briefe, die sie darin aufbewahrte. Wie Spinnennetze zogen sich Kabel und Klebeband durch zwei kleine Zimmer, eine winzige Küche und einen schmalen Flur, für die Lampen, die auch tags brannten, selbst wenn die Sonne schien und Licht in alle Ecken des Hauses drang. Damals wusste ich nichts von Häusern, nichts davon, wie sie zu sein, wie sie auszusehen und wo sie zu stehen hatten, dass sie eine Straße und Nummer brauchten und es nicht reichte zu sagen, hinter Kirchblüt steht es, dort, wo die Felder beginnen und die Kieswege sich kreuzen, nicht weit vom Bahnwärterhäuschen, und es sieht aus, als würde es schweben. Ich wusste nicht, dass es jemand erlauben musste, zu hämmern und Hühner halten zu dürfen, dass irgendwer verfügte und entschied über das, was Ajas Zuhause war, und ich ahnte nichts von den Vormittagen, die Ajas Mutter in den Gängen vor den Amtsstuben verbrachte. Für mich war Ajas Haus ein Haus mit allem, was es dazu brauchte, auch wenn es kein Türschloss hatte und Aja deshalb nie einen Schlüssel bei sich trug. Ajas Mutter ließ das schiefhängende Gartentor offen, auch die Tür zum Haus, und wenn jemand wissen wollte, ob sie keine Angst habe, vor Einbrechern, vor Dieben, musste sie lachen, auf ihre Art, ein bisschen zu spät, ein bisschen zu leise, als sei sie erst jetzt auf etwas gestoßen worden, das ihr nie in den Sinn gekommen wäre. Was, sagte sie, soll man bei uns schon holen?

Manchmal überfiel Ajas Mutter der Schlaf, bevor sie einen Satz zu Ende gesagt, einen Gedanken ausgesprochen hätte, und nachts, wenn Aja wach wurde und für ein Glas Wasser in die Küche ging, saß sie neben dem Lichtkegel einer Lampe, als warte sie auf den Morgen, jedenfalls erzählte es Aja so. Ihre Mutter hatte Schrammen an den Händen, grüne Flecken an Knien und Schienbeinen und sah komisch aus mit ihren schmutzigen Pflastern und Verbänden, die sie aus Stoffresten zusammenknotete. Beim Zwiebelschälen schnitt sie sich mit einem Messer, das sie hoch an einen Haken gehängt hatte, damit Aja es nicht nehmen konnte, sie stieß sich den Kopf an den Schränken, verfing sich in Kabeln und riss etwas mit, das dann zerbrach und das sie zu anderen Scherben und Splittern in einen Eimer legte, die sie nicht mehr zusammenfügen konnte. Sie ging durch ihr Haus, ihren Garten und durch alle Straßen der kleinen Stadt, als gebe es keine Hindernisse, als könne nichts in ihrem Weg stehen, als müssten ihr die Dinge weichen und nicht umgekehrt. Als könne sie auch keinen Gedanken dar-an verschwenden, als seien ihre Gedanken zu kostbar, als habe sie zu wenige und müsse mit ihnen sparsam sein.

Bevor ich mich am Abend aufmachte, bevor wir uns trennten, um uns wiederzusehen, spätestens am nächsten Tag, am nächsten Morgen, schlugen wir zum Abschied ein Rad. So wie andere sich die Hände reichten und umarmten, schlugen wir am schiefhängenden Tor ein Rad, dort, wo der Rasen flachgetreten war und der Löwenzahn zwischen die Latten drängte, Aja und ich mit der gleichen schnellen Bewegung in die eine, und Ajas Mutter zwischen uns in die andere Richtung. An manchen Abenden blieb sie weiter weg, als könne sie uns stören, als wolle sie uns noch Zeit lassen, als hätten wir nicht genug gehabt davon, als brauchten wir diese eine Minute, diese wenigen Augenblicke noch, bevor ich gehen würde. Wenn ich den schmalen Weg hinab-lief und mich umdrehte, sobald ich das Bahnwärterhäuschen sehen konnte, hatte sich Aja am Zaun hochgezogen, die Knie zwischen die Latten geschoben und winkte mit beiden Händen, als wolle sie sagen, vergiss nicht, morgen wiederzukommen.

Obwohl ihr Haus keine Anschrift hatte, bekam Ajas Mutter Briefe, die in einem dicken Umschlag aus Packpapier steckten, auf dem unter ihrem Namen nur Kirchblüt stand, in kleinen schiefen Buchstaben, und der Postbote brachte sie an die Tür, schon weil es immer Briefe gab, für die sie ihre Unterschrift leisten musste. Auch als schon ein Kasten aus Blech am Zaun hing, mit einem Schlitz, in den er die Post hätte werfen können, blieb er dabei, sie in ihre Hände zu legen und ihren Namen zu sagen, als müsse er sich jedes Mal aufs Neue vergewissern, wer sie war, ob wirklich die, für die der Brief gedacht war. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen wir ihren ganzen Namen hörten. Sonst bestand Ajas Mutter darauf, von allen Evi genannt zu werden, nicht Eva, und schon gar nicht Frau Kalocs. Auf dem Amt würde man sie so nennen, sagte sie, das reiche, und nur dem Briefträger erlaube sie noch, ihren ganzen, ihren vollen Namen zu sagen. Wenn er sein Fahrrad an den Pfosten lehnte, das schiefhängende Tor aufschob und Licht in der Küche sah, wenn er ein Geräusch, ein Klappern hörte, klopfte er ans Fenster und wartete, bis Evi die wenigen Schritte zur Tür gelaufen kam und ihre Post entgegennahm, in Packpapier gewickelte Briefe in federleichten blauen Kuverts, die sie dann tagelang auf dem kleinen Tisch neben dem Fliegengitter liegenließ, wo Aja und ich sie viele Male hochnahmen und drehten und wendeten, und weil Aja glaubte, sie könne riechen, von wo der Brief geschickt worden war, roch sie an ihm. Sie hielt ihn an ihre Nase, an meine, sie wedelte damit und fächelte uns Luft zu, und wenn ihre Mutter uns entdeckte und fragte, nach was riecht er, dieser Brief, sagte Aja, nach Amerika, er riecht nach Amerika.

Teil 2