Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Teil 1

29.10.2012.
Prolog: Ein namenloses Wissen

Enzyklopädien sind Nachschlagewerke, die man konsultiert, um Informationen zu erhalten oder Zusammenhänge zu verstehen. Niemand will Enzyklopädien wirklich lesen, außer vielleicht gelehrte Narren, über die man schon im 18. Jahrhundert lachte.(1) Allgemeinbildende Nachschlagewerke sind seit dieser Zeit alphabetisch geordnet, wobei kaum ein Artikel mit dem vorherigen oder dem folgenden sachlich verbunden ist. Philosophen haben das bedauert, aber die Leser der letzten Jahrhunderte und die Nutzer von Online-Enzyklopädien heute kommen damit gut zurecht.
     Enzyklopädien bieten Text, in den man hineinspringen kann, um anschließend wieder heraus zu springen, zurück in die eigene Welt. Um das Hinein- und Herausspringen erfolgreich zu gestalten, müssen Enzyklopädien aktuell gehalten werden. Veraltete Informationen sind vielleicht historisch interessant, nützen aber nichts. Aktualität macht die Attraktivität von Enzyklopädien aus, auch weil die Fragen der Nutzer sich in ihrer eigenen Sprache hier und heute beantwortet finden. Aktualität im Wissen bedeutet also Sachlichkeit im Wissen und Verständlichkeit in der Auskunft darüber.
     Aktualität ist darum für die Enzyklopädisten ein Fluch. Alles an ihrer Tätigkeit wird davon berührt. Der Fluch bestimmt noch ihr Verschwinden in die unendlichen Weiten abgelegter Kenntnisse, von denen das Besserwissen jeder neuen Generation sich abhebt. Enzyklopädisten riskieren viel, und die Geschichte ihrer Werke weist zahllose Buchruinen auf, die niemanden mehr interessieren. Zu allen Zeiten gilt, dass die gewaltige Menge toter Wissensgebäude, in denen kein Leser mehr zu Hause ist, von einer großen Zahl neu errichteter Wissensgebäude überschattet wird, die links und rechts nützlich sein wollen. Enzyklopädien haben eine Geschichte: Es ist die von Kämpfen um die beste Textfassung des Wissens und um die größte Nähe zur Neugier der Leser.
     Noch immer ist die Welt aufgeteilt in diejenigen, die Wissen anbieten, und diejenigen, die Wissen suchen. Die einen nennen es bürgerliche Gesellschaft, die anderen Aufklärung, was uns historisch in diese Arbeitsteilung zwingt. Wissenslücken sind unvermeidlich, trotz Schule und Wissenschaft; sie müssen auch außerhalb der Bildungsinstitutionen behoben werden. Das ist die Aufgabe des Enzyklopädisten, der die Lücken stopft, der ganze Bibliotheken abkürzt und zusammenfasst.
     Die Kommunikation des Wissens ist selber nicht Bildung und schon gar nicht Wissenschaft. Man wird durch das Studium einer Enzyklopädie nicht zum Gelehrten und kann den Status des Experten auf diesem Wege nicht erreichen. Daher der Spott, der solche Versuche immerdar begleitet: Man denke an die tragikomischen Figuren von Bouvard und Pécuchet Gustave Flauberts aus dem 19. Jahrhundert oder an die traurige Romangestalt des Autodidakten in Jean-Paul Sartres Der Ekel im 20. Jahrhundert.(2) Enzyklopädien zerstückeln das Wissen zu sehr, um klug zu machen.
     Im Lächerlichen aber liegt die Wahrheit, auch hier: Es ist das unbedingte Bedürfnis nach artikelweise präsentiertem Sachwissen, das Enzyklopädien über Jahrhunderte hat erfolgreich werden lassen. Die Nutzer enzyklopädischer Werke suchen kein Wissen zur professionellen Fortbildung, sondern Definitionen, Informationen, Hintergrundwissen im Allgemeinen. Diese unspezifische und zugleich generelle Neugier existiert seit dem Zeitalter der Aufklärung. Und seit eben dieser Zeit gibt es das enzyklopädische Schreiben in moderner Form.
     Mit der allgemeinen Neugier, die Sachen und Wörter als etwas ansieht, das man wissen kann, erhält das enzyklopädische Schreiben seine eigentliche Herausforderung, Wissen aus den verschiedenen Expertensprachen herauszulösen. In der Aufbereitung des Wissens in Form von allgemeinverständlichen Texten gewinnt das enzyklopädische Schreiben zugleich seine spezifische Qualität: Es wird namenlos. In den Prozessen seiner Produktion und Distribution besitzen weder Autor noch Adressat individuelle Bedeutung.
     Das namenlose Sachwissen kennt keinen Urheber, nur die Sache. Was Experten ausführen, muss durch die Enzyklopädie in eine vermittelbare Auskunft übersetzt werden. Die Sprache des enzyklopädischen Schreibens wirkt daher neutral, orientiert an der Neugier der Leser und nicht an der Terminologie ursprünglicher Verfasser. Sie geht unspezifisch auf etwas, was man wissen kann, und zwar in unbestimmten Kontexten. Eine Enzyklopädie muss bereit sein, alle möglichen Fragen zu beantworten, und zwar in der gesamten Breite aller Wissensbereiche. Was die Leser des "Brockhaus" oder "Meyer", der "Encyclopaedia Britannica" oder der "Wikipedia" suchen, ist Sachwissen in einer redigierten Form, keine einzelne Meinung. Das moderne enzyklopädische Schreiben ist deshalb namenlos, weil es Autoren, Verleger und Redakteure nur als Agenten der Texterstellung einsetzt, für den unbekannten Leser. Was ein Enzyklopädieartikel sagt, stellt eine Antwort auf eine Frage dar. Das enzyklopädische Schreiben gestaltet insofern einen einseitig ausformulierten Dialog mit den Lesern.
     Den Einsatzpunkt dieses Schreibens markiert ein außergewöhnliches Werk, das Universal-Lexicon, publiziert in Leipzig von 1732 bis 1754. Diese damals umfangreichste Enzyklopädie um fasste 68 Folianten und enthielt etwa 284.000 Artikel, dazu noch etwa 276.000 Verweisungen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war es die größte abgeschlossene allgemeine Enzyklopädie überhaupt. Seine schiere Größe hat bis heute verhindert, dass es als das bedeutendste Monument des enzyklopädischen Schreibens im Zeitalter der Aufklärung gewürdigt werden konnte. Inzwischen ist das Universal-Lexicon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler im Internet recherchierbar (www.zedler-lexikon.de) - dennoch ist vieles daran unbekannt. Tatsächlich aber ist es das für die Wissensgeschichte der modernen europäischen Enzyklopädien zentrale Werk.
     Die französischsprachige Welt bewundert bis heute die Encyclopédie der großen Aufklärungsdenker Diderot und D'Alembert, deren wirkungsmächtiges Dictionnaire raisonné des Arts et des Sciences ab 1751 erschien. Die englischsprachige Welt schätzt den pragmatischen Sinn ihrer bis heute aufgelegten Encyclopaedia Britannica, die ab 1768 in Schottland herausgegeben wurde. In der deutschsprachigen Welt aber ist die größte und modernste Enzyklopädie der Neuzeit weitgehend unbekannt, obwohl sie in der Verlagsgeschichte Epoche machte und als fulminanter Anfang einer Enzyklopädiebewegung gelten kann, in der wir immer noch befangen sind.(3)
     Im Unterschied zur Tradition des enzyklopädischen Schreibens vor dem 18. Jahrhundert ist das Universal-Lexicon das erste Werk, das ein Sachwissen auf allen Gebieten der Kenntnis ohne Autornennung präsentiert. Es ist das erste kollektiv erstellte enzyklopädische Druckwerk und zugleich das erste, das die Leser an der Texterstellung beteiligt. Als eines der denkwürdigsten Buchprojekte des Zeitalters der Aufklärung ist das Universal-Lexicon die erste bedeutende Enzyklopädie einer danach immer weiter ausgreifenden, wirklich öffentlichen Wissenskultur.
     Das Universal-Lexicon ist modern auch darin, dass es rasch veraltete, wie etwa die Herausgeber der Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste 1818 nachdrücklich feststellten.(4) Wie es durch den Prozess der Redaktion eine ganze Reihe von früheren Fachenzyklopädien überflüssig machte, so erlag das Universal-Lexicon selbst der fortschreitenden Aktualisierung und Verarbeitung des Wissens. Wissen wurde hier - mitten im 18. Jahrhundert - so sehr in die Kommunikation mit dem allgemeinen Publikum investiert, dass es darin sowohl seine größte Wirkung wie auch eben die Vergänglichkeit erfuhr, die für die Gattung typisch ist. Das erste große Alphabet dessen, was gewusst werden konnte, wandelte sich nach seiner Vollendung sehr rasch zum Dokument einer nicht mehr aktuellen Wissensrepräsentation.
     Das Universal-Lexicon hat das Sachwissen in eine unübersehbar große - namenlose - Gestalt gegossen; Anlage, Durchführung und Vermarktung stellten alles in den Schatten, was im Buchgeschäft vorher üblich war.(5) Der Fluch der Enzyklopädisten traf hier doppelt, denn es ist kein Archiv erhalten, keine Konzeption bekannt. Die Absicht auf Vollständigkeit war wohl durchaus ernst zu nehmen, denn man hatte rasch das Alphabet über die 12 zuerst geplanten Bände hinaus auf schließlich 64 (mit den Ergänzungsbänden insgesamt 68) strecken können. Im Durchschnitt wurden jedes Jahr 4.000 Folio-Seiten gedruckt bzw. vier Bände ausgeliefert. Bezeichnend für die Anlage war, dass neben wissenschaftlichen Artikeln (ca. 93.000) auch geographische (ca. 72.000) und biographische Artikel (ca. 120.000) prominent behandelt wurden. Diese Mischung war neu - vorausweisend auf das 19. Jahrhundert und den Erfolg der Konversationslexika in den europäischen Kulturen.
     Das Universal-Lexicon war nicht das Produkt einer Gruppe von Aufklärern, die außerhalb davon sich einen Namen machten, sondern es war ein Organ der Aufklärungsepoche, das ein namenloses Wissen exponierte, wie es zuvor nie exponiert wurde. Dieses Dokument des 18. Jahrhunderts ist ein Monument der Bemühung, Wissen als Einsicht, Kenntnis als Erkenntnis zu formulieren. Es ist das erste Werk des modernen enzyklopädischen Schreibens.
     Die Wissensgeschichte der Enzyklopädien lässt sich ausgehend vom Universal-Lexicon neu schreiben. Man sieht klarer den Bruch mit der Tradition gelehrter Enzyklopädien, und man erkennt deutlicher den Unterschied zu meinungsbildenden Werken wie der französischen Encyclopédie. Noch in den Schwächen der Realisierung des Universal-Lexicon wird eine Arbeit am Wissen sichtbar, deren Voraussetzungen und Effekte auch unsere sind.

zu Teil 2