Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparros: Wir haben uns geirrt. Teil 1

26.07.2010.
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Ich war ausgesprochen überrascht, als er mich von seiner Sekretärin anrufen ließ, seiner "persönlichen Assistentin", wie sie sich ausdrückte. Und erst recht, dass er mich dringlich bat - "Der Herr Doktor sähe Sie gerne", sagte sie -, so schnell wie möglich in seinem Büro im Ministerium vorbeizukommen, diesmal ohne Lokal, ohne Mittagessen, ohne sich an den regulären Zeitplan zu halten, völlig außerhalb des gewohnten Rahmens. Und am Ende nahm die Sekretärin auch noch ohne Murren meinen Terminvorschlag für den frühen Nachmittag des darauffolgenden Tages an.
     Doch einiges von dieser Überraschung löste sich jetzt im Vorzimmer von Juanjos Büro in der Hitze der Warterei auf.
     An den Wänden hingen Porträts, wohl Juanjos Vorgänger, und es gab einen großen dunklen Teppich und Holzverkleidungen aus der Zeit vor der Reihe von Schiffbrüchen. Die Sekretärin im Nachbarzimmer ignorierte mich, vermutlich passte mein Erscheinungsbild nicht zu jemandem, den ihr Chef so dringend zu sehen wünschte. Ich weiß, dass ich inzwischen niemandem mehr gefalle, lange Zeit hatte ich das Gegenteil geglaubt oder glauben wollen; jetzt interessiert mich nur noch, wann und warum das aufhörte - sofern es je so war.
     "Carlos, komm rein."
     Sagte Juanjo in der Tür seines protzigen Büros, in tadellosem Hemd mit Manschettenknöpfen und Krawatte. Es klang wie komm, mach hin, als hätte er es sehr eilig, und ich würde das nicht kapieren und ihn unnötig aufhalten. Ich wollte ihm nicht sagen, dass doch er derjenige war, der mich herbestellt hatte, ohne einen Grund zu nennen, und mich dann in einem verschlissenen blauen Samtsessel hatte warten lassen.
     "Warst du schon mal hier?"
     "Nein, warum sollte ich."
     "Keine Ahnung, ich lass dich schließlich nicht überwachen. Ja, dachte ich mir, dass du noch nie hier warst."
     Sagte Juanjo und schwieg, er wartete, dass ich meine Meinung zu der Kulisse kundtat. Ich schwieg ebenfalls. Für mich war es komisch, ihn in diesem riesigen Ledersessel hinter dem ehrwürdigen Schreibtisch sitzen zu sehen, die Nationalflagge in der einen, die der Provinz in der anderen Ecke, mit dem Porträt von San Martin in Uniform und dem Foto des Präsidenten im Hintergrund. Aber mit seinen manikürten Fingernägeln passte er perfekt dort hin.
     "Ich will dir nicht die Zeit stehlen, Colo. Bestimmt hast du dich gewundert, dass ich dich gebeten habe, in mein Büro zu kommen."
     In der Tat, seit gestern fragte ich mich, was er wohl wollte. Vi«elleicht wollte er mir einen Job anbieten, die Andeutungen und beiläufigen Bemerkungen in ein konkretes Angebot münden lassen. Merkwürdigerweise freute ich mich über die Vorstellung, und kurz dachte ich sogar darüber nach, ob ich das Angebot nicht annehmen sollte. Am Ende beschloss ich, es nicht zu tun, es wäre eine gute Gelegenheit, meine Prinzipientreue unter Beweis zu stellen.
     "Also, das hat mir einfach keine Ruhe gelassen. Als erstes muss ich mich tausendmal bei dir entschuldigen. Ich meine das ernst, es kommt von Herzen: Was ich da über Estela gesagt habe, war hundsgemein, das hätte niemals über meine Lippen kommen dürfen."
     Sagte er und versuchte betrübt auszusehen, was ihm nicht gelang. Ich versuchte ihm zuzulächeln, um ihn zu beruhigen, was mir auch nicht gelang. Es fiel uns schwer, die eingespielten Rollen zu verlassen. Doch er fand schnell wieder zu seiner zurück: Noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, hob er seine feiste Hand, um mir Einhalt zu gebieten. Er sagte, ich solle nichts sagen, es sei seine Schuld und er würde dazu stehen, er habe lange darüber nachgedacht, wie er sich entschuldigen und mich dafür entschädigen könnte, und dann sei es ihm eingefallen.
     "Im Rahmen unseres Einsatzes für die Menschenrechte haben wir Zugang zu vielen Informationen. Ich habe jemanden darauf angesetzt, und gestern rief er an, um mir mitzuteilen, er sei auf jemanden gestoßen, der sie in dem geheimen Gefängnis getroffen hat."
     Im ersten Moment verstand ich nicht, worauf er hinauswollte - ich wollte es nicht verstehen. Juanjo merkte das.
     "Jemand kann dir etwas von Estela im Lager erzählen, Colo, er kann dir helfen, einen Teil ihrer Geschichte zu rekonstruieren."
     Juanjo wusste, dass ich ihre "Geschichte" nicht "rekonstruieren" wollte, das hatte ich ihm oft genug gesagt. Aber das passte zu ihm: Um sein Gewissen zu beruhigen, um das Gefühl zu haben, er mache seine vermeintlich brutale Entgleisung wieder gut, präsentierte er mir ein Geschenk, das ich nie hatte haben wollen. Ich war kurz davor, es ihm ins Gesicht zu sagen, doch ich konnte nicht: Jetzt hatte ich die Chance, in Erfahrung zu bringen, wie meine Frau - meine Frau? - gestorben war oder wie sie nicht gestorben war, und wenn ich sie nicht nutzte, würde ich als Feigling oder Verräter dastehen. Sicher war ich das auch, aber ich wusste nicht, wie ich es ihm hätte sagen können.
     "Einer unserer Mitarbeiter, Giovannini, wird dich anrufen und das Treffen arrangieren. Wenn es dir lieber ist und es dich beruhigt, kann er dich begleiten. Das wäre vielleicht sogar besser, oder?"
     "Nein."
     "Was ist los, Colo? Bist du wegen dieser Bemerkung immer noch sauer auf mich?"

Diese Version war nicht die einzig denkbare, es gab noch viele andere. Das Haus buecher.demit den Waffen konnte genauso gut von einem anderen Widerstandskämpfer verraten worden sein, und das eröffnete eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten. Die banalste war zugleich die tragischste. Estela wollte - konnte - in dieser furchtbaren Lage keine andere sein, das ging über ihre Kräfte. Sie hat ihre früheren Überzeugungen - Überzeugungen von der Welt und sich selbst, diefolter hatte sie noch nicht in eine andere verwandelt - aufrechterhalten und sich in den Stolz ihrer Vorstellung von korrektem Verhalten geflüchtet: in das Schweigen. Sie hat verächtlich - vielleicht auch traurig - die echten oder nur vorgetäuschten Angebote ihrer Peiniger auf eine Erlösung ihres Körpers, den sie ihr mehr und mehr entfremdeten, abgelehnt, und man hat sie nach stunden- oder tagelangem Bemühen schließlich getötet. Oder sie hat die Adresse ein wenig zu spät verraten, als es nichts mehr nutzte. Oder sie hat sich bei der Adresse vertan, sie hat sich - verloren in all dem Leid - nicht mehr richtig erinnern können. Oder sie hat sie ihnen gegeben, und ihre Herren befanden, das sei kein Grund, ihr das Schicksal der meisten ihrer Genossen zu ersparen, und sie einige Stunden später getötet. Vielleicht auch erst Tage oder Wochen oder Monate später, die Zeit war nicht ihr Problem. Die Zeit war eindeutig auf ihrer Seite: Sie hatten gewonnen, und wer gewinnt, braucht sich um die Zeit keine Sorgen mehr zu machen. Wer verliert, leidet darunter. Ich wollte mir dieses Warten nicht vorstellen: Ich wollte mir Estela nicht dabei vorstellen. Aber es bestand auch die Möglichkeit, dass sie einen Fehler gemacht hatten; dass sie, verleitet von dem unbändigen Stolz, ihre Untertanen den sehr schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlang wandern zu lassen, ein paar Volt zuviel genommen, sie ein wenig zu lange untergetaucht, ein paar Zentimeter zu tief gestoßen, geschnitten hatten; dass sie Estela unabsichtlich getötet hatten und sie nun einging in die Fehlerstatistik wie sie ein jeder Risikoberuf hat.
     Es gab unzählige Möglichkeiten, keine Tatsache - keine Geschichte, keine Leiche - schloss sie aus oder bestätigte sie, und ich wollte nichts wissen. Ich kann mich noch genau erinnern: Monate später, ich war geflohen, hatte mich in die relative Ruhe der neuen Distanz geflüchtet, es war eine sehr feuchte Nacht, da fasste ich den Entschluss, dass ich nichts wissen wollte: Zu wissen, dachte ich damals, hieß schreckliche Hypothesen bestätigt zu finden. Es konnte in jedem Fall nur bedeuten, eine neue Form des Grauens kennen zu lernen, und ich zog es vor, die Augen zu verschließen.

Dieser Geruch, dieser Geruch.

Als hätte ich mich vor langer Zeit, als es noch nicht die heutigen Kommunikationsmöglichkeiten gab, auf eine Reise begeben, und mein Vater wäre gestorben. Als wären vier Tage vergangen, bis man mich ausfindig gemacht hätte, um mir die Todesnachricht zu überbringen. Während dieser vier Tage hätte mein Vater für mich weitergelebt: Ich hätte an ihn gedacht, ihn verdrängt, hätte mit ihm gefühlt und gebangt wie immer, er wäre für mich lebendig gewesen wie immer. Ich wusste, das galt nicht für ihn - er hatte nicht gelebt, er hatte sich in diesen vier Tagen nicht bewegt, nicht geatmet, gedacht gegessen gehofft länger zu leben den Tod vergessen. Das hätte ich gewusst, unbestreitbar, und doch hätte er für mich weiter gelebt.

Vielleicht hatte tatsächlich alles mit diesem Geruch angefangen.

Zwei Tage später rief dieser Giovannini mich an.
     "Ist da Carlos? Mann, war das schwierig, Sie an die Strippe zu kriegen. Der Minister hat mir Ihre Handynummer nicht gegeben. Apropos, geben Sie sie mir doch für?s nächste Mal."
     "Ich habe kein Handy."
     "Ach, so, tschuldigung. Also, ich wollte Ihnen vorschlagen, dass wir uns morgen um sechs mit Velarde im Cisne, an der Ecke Belgrano und San Martin treffen."
     "Mit Velarde?"
     "Ja, klar, der Mann, von dem Ihnen der Minister erzählt hat."
     Ich hatte zwei Tage auf diesen Anruf gewartet, darauf, dass er käme und dass er nicht käme, ich hatte gewartet, ohne zu wissen auf was eigentlich. Zwei Tage war mir immer wieder diese Geschichte im Kopf herumgegangen, die ich vor langer Zeit hinter mir gelassen hatte, oder von der ich das zumindest glaubte. Und jetzt, kurz vor dem Schluss, war sie wiederauftaucht und ließ mir keine Wahl: Ich konnte nicht länger wegschauen. Nach diesen zwei Tagen hatte ich es nicht über mich gebracht zu ihm zu sagen, nein, Giovannini, vielen Dank, aber sagen Sie dem Minister, ich kann diesen Mann nicht treffen, sagen Sie ihm, ich kann einfach nicht. Nein, ich hatte ja gesagt, im El Cisne, einverstanden, aber er möge bitte gehen, sobald ich da sei, er solle mich mit diesem Verlarde allein lassen.
     "Nehmen Sie es nicht persönlich. Die Angelegenheit macht mich ein wenig nervös und ich würde lieber allein mit ihm reden, das ist alles. Ich bin Ihnen sehr dankbar, glauben Sie mir."
     "Sind Sie sicher? Vielleicht ist das nicht gut für Sie."
     "Doch, Giovannini, ich bin mir sicher. Machen Sie sich keine Gedanken, wirklich, danke."

Ich wollte glauben, dass es das Böse war. Ich wollte glauben, dass es das Böse war, nicht das Geschenk, Juanjos Not, sondern das Böse. Oder, besser gesagt: Ich weiß nicht, ob ich das glauben wollte, aber es fiel mir schwer etwas anderes zu glauben, und seit geraumer Zeit glaubte ich lieber an Dinge, bei denen mir das nicht allzu schwer fiel. All diese Jahre - müßig das näher zu präzisieren, es ist klar, um welche es sich handelt; schon demütigend, ja traurig, wie ein paar wenige Jahre meines Lebens sich so deutlich vom Rest abheben, dass sie es nach wie vor definieren, all diese Jahre hatte ich also damit verbracht, an Dinge zu glauben, an die man aus damaliger Sicht unmöglich glauben konnte. Jetzt wollte ich lieber an das glauben, was mir glaubwürdiger erschien, oder anders gesagt, was offenkundig war: Als ich hörte, dass das Böse in mir war, entschied ich, dass ich es nicht länger aufschieben durfte.
     Sagen wir, am Ende ließ ich das Wissen zu.

Teil 2