Vorgeblättert

Leseprobe zu Laszlo Vegel: Sühne. Teil 1

12.04.2012.
Nach Berlin …

Du bist angekommen. Streifst zu Fuß durch die Straßen, umkreist immer wieder die bekannten Plätze, jagst dir selbst hinterher, bis zur Atemlosigkeit, bis die Beinmuskeln brennen: hartnäckig kontrollierst du deine inneren Bilder, willst wissen, ob sie dich täuschen, ob du dich täuschst. Stellst Fragen an deine neuen Bekannten, versenkst dich in Zeitungen, denkst an vor langer Zeit gelesene Bücher voller Notizen an den Rändern. Überprüfst deinen Traum, der Europa ist. An das du aus der Ferne mit respektvoller Rührung gedacht hast, jahrzehntelang, in schuldbewusster, naiver Hoffnung. Die Opfer, die du für diese Hoffnung gebracht hast, zählst du nicht. Du konntest dich dem Einfluss des Einparteiensystems, dessen Kind du bist, nie entziehen, es bestimmte dich stets, selbst dann, wenn du ihm die Stirn botest. Es hat sich in all deine Poren eingenistet, dich zu seinem Komplizen gemacht, auf Irrwege geführt, auf denen du den Illusionen namens glückliche Zukunft nachjagtest. Der utopische Weg wurde zum Damaskus-Weg. Mit dem Gefühl dieses Fiaskos erkundest du Berlin, mit diesem nicht wiedergutzumachenden Schuldbewusstsein eines sich Verschwendenden.
     Du wolltest nie etwas anderes sein als ein neugieriger Reisender - in Berlin begreifst du, du bist nicht willkommen. Bist ein Eindringling, einer aus dem Randgebiet, halte dich vom Zentrum fern, so lautet die Losung; bisher kanntest du nur das erbärmliche Gezänk der kleinen Nationen, jetzt erlebst du den vornehmen Egoismus der großen. Du bist doch nur ein Stiefkind, man lässt es dich spüren, eine vergnomte Menschenart des Barbaricums, irreparabel. Lerne die Sprache der großen europäischen Nationen, mache dir ihre Kultur zu eigen, das könnte, wenigstens teilweise, deine Geburtsfehler wettmachen. Sprich nicht über das Barbaricum, die Kenntnisse von deiner Welt sind hier unwichtig.
     In einem heruntergekommenen Stadtteil, in dem du dich plötzlich wiederfindest, dringen vertraute Worte an dein Ohr; hier leben Asiaten, Leute vom Balkan, Gastarbeiter aus den Donaugebieten des Ostens. In billigen Kaschemmen stehen sie herum, erfüllt von der Sehnsucht nach der Heimat und der Angst, eines Tages hinauskomplimentiert zu werden. Freiwillige europäische Sklaven, die sich, wenn nichts schiefgeht, in der Heimat einst einen Garten Eden von ihren Ersparnissen werden kaufen können. Diese Sklaverei ist zur letzten sozialistischen Utopie geworden. Sie sprechen deine Sprache, du aber verschweigst deine Herkunft, aus Scham, dass du letzten Endes genauso bist wie sie, ein seelischer Sklave. Du schlägst die Richtung zur Stadtmitte ein, die Nutten am Ende des Kurfürstendamms sprechen ungarisch, serbisch, polnisch, tschechisch miteinander. Wenn Polizeiwagen auftauchen, schlüpfen die Mädchen unter die Arkaden. Trunkene Einheimische taumeln zwischen ihnen herum, wollen feilschen, das Barbarenfleisch kostet, sie fluchen wegen des zu hohen Tarifs. Einzig der pechschwarze Berliner Himmel bietet den Mädchen Schutz. In den Salons plaudern vom Sozialismus enttäuschte Intellektuelle aus Prag, Budapest, Belgrad und Zagreb in bußfertigem Ton über die Vergehen der Linken, sowohl nationalistische als auch lorbeerbekränzte Dichter und Denker des Einparteiensystems gerieren sich als Oppositionelle. Das Bier schäumt in den Gläsern, die Klagen der Barbaren ermuntern die Zivilisierten: sieh an, wir haben mit unserer Einschätzung richtig gelegen! Sie klopfen den reuigen Sündern auf die Schultern, die dann erleichtert darüber, die Wahrheit gesprochen, die Pflicht erfüllt zu haben, die Heimreise antreten.
     Hier im Westen, in der Wiege des Individualismus, wird deine Persönlichkeit wie die Wurst an der Imbissbude verzehrt. Lass alle Illusion fahren; jahrzehntelang träumtest du im Barbaricum, das sich von allem isolierte, von deinem eigenen Europa, hegtest sorgsam deine Illusionen, weil du nicht den Mut hattest, auszubrechen. Kein äußerer Zwang hat dich am Fortgehen gehindert, sondern die Angst, für immer mit dir, mit deiner Vergangenheit zu brechen. Die Jahre vergingen und die Hoffnung, dein Europa je zu Gesicht zu bekommen, schwand, doch dann, mit beinahe fünfzig, standest du plötzlich mittendrin - ein spätes Geschenk, das dir keine Freude mehr bereiten konnte.
     Du bist unter einer Glocke aufgewachsen, du kanntest nur diese eine Welt, die mal spöttisch-bitter, mal begeistert sozialistisch genannt wurde. Im Nachhinein kannst du sie verurteilen, verleugnen, dir ständig versichern, dem kommunistischen Abenteuer niemals freiwillig gedient zu haben. Dein Gewissen aber lässt sich nicht in die Irre führen, schließlich war es dieses Abenteuer, das dein Leben bestimmt hat und von dem du dich nicht lossagen kannst. Es wird dich dein Leben lang verfolgen, in deinen Reflexen weiterleben, dein Gedanke sein, wenn du aus dem Schlaf hochfährst. Du wälzt dich im Bett, dein Atem geht schwer, du stehst auf, tappst im Dunkeln umher, trinkst ein Glas Limonade, beißt in den Apfel, der auf dem Stuhl neben dem Bett gelegen hat. Lauschst den nächtlichen Geräuschen. Ein wenig Zeit ist dir noch geblieben. Die Tage werden immer kürzer, die Nächte länger. Du begreifst, dass du keine Sache je wirklich zu Ende gebracht hast.
     Diese Nachtstille von damals stellt sich jetzt wieder ein, in dem billigen Berliner Zimmer, in dem du abgestiegen bist und gegen das Heimweh ankämpfst. Du grübelst über die vielen, die in der noch sozialistischen Welt bald den Clown geben werden, wenn sie selbstgewiss hinausschreien, sie seien schon immer im Bild gewesen, hätten schon immer alles gewusst und sich keiner Macht je gebeugt, am allerwenigsten dem kommunistischen Dämon; frischgebackene postsozialistische Propheten, die ihre Hände in Pilatusscher Unschuld waschen. Tödliche Clowns, die ein Leben lang Charakterstudien von dir angefertigt haben, darüber befanden, ob du dich für die Welt eignest, und die nun auf die Fahnen spucken, die sie zuvor noch inbrünstig geschwenkt haben, und dir dabei triumphierend auf die Schulter klopfen: Sieh, wir haben alles zum Einsturz gebracht. Doch die Ruinen trösten dich nicht, du bist vorsichtig, auf diese Truppe der Unbeirrbaren wird die nächste folgen, und man kann nie wissen, was sie für dich bereithalten. Dergestalt bedrängt dich in Berlin das Heimweh, ein Heimweh, das an keinen Ort gebunden ist. Du lehnst die neue Heuchelei ab, verzichtest auf das Spektakel, bei dem jeder jedem Ehre bezeugt. Zwischen den Ruinen gibt es kein Glück. Du schnappst nach Luft, drohst zu ersticken. Wie seit jeher, schleppst du auch jetzt noch, im Alter, deinen Hang zur Selbstquälerei überallhin mit, diese melancholische Erkenntnis macht dich in den Straßen Berlins noch mehr zu einem Verstoßenen. Hier soll dich dein Gewissen, das Wissen um deine Vergangenheit noch mehr quälen. Die Diagnose lautet, du leidest an einer unheilbaren Krankheit. Man sagt es dir offen ins Gesicht und erwartet von Dir zugleich Dankbarkeit für die schmerzlindernden Mitteln, mit denen man dich vorübergehend versorgt, aus Dankbarkeit sollst du zudem darüber schweigen, dass sie es waren, die die Krankheit in dir ausgelöst haben: Mit zwei Skalpellen wurde an der Wunde von Jalta geschnitten, das eine blitzte in der Hand des Westens. Aus den Jahrhunderte währenden Streitigkeiten, den Weltkriegen, dem geschichtlichen Roulettespiel ist stets der zivilisierte Westen als Sieger über seine schlafsüchtigen Randgebiete hervorgegangen.
     Du hast aus diesen Niederlagen nichts gelernt. In den geheimnisvollen Labyrinthen des Einparteiensystems steigerte sich deine Nostalgie für den schuldig gesprochenen Westen sogar noch; die unwirkliche Welt lag weit weg von der Falle, in der du saßest. Auch wenn dich Schuldgefühle überkamen, bliebst du, redetest dir ein, du könntest nicht in der Fremde leben. Du hast dich abgefunden, deine selbstgewählte Last auf dich genommen und dich überhoben. Schöne deine Vergangenheit nicht, deine unerklärlichen Irrtümer, diesen düsteren Zickzackkurs hast du selbst gewollt. Nichts spricht dich frei, auch nicht die Tatsache, dass du gezwungen worden wärest, mit dem Strom zu schwimmen, wenn du dich gegen ihn gewandt hättest. Du bist ein Davongekommener, doch das allein ist keine Entschuldigung. Die Macht gab sich großzügig, gewährte dir, bevor sie dich zum Schweigen brachte, etwas Vorsprung, spielte mit dir Katz und Maus, ließ dich in dem Glauben, du seist ein tapferer Oppositioneller, während du nur ihr Spielzeug warst.
     Es brennt dir im Körper, du ringst um Erkenntnis. In Berlin geht dir mit einem Mal auf, wie sehr du belogen worden bist, wie sehr du dich belogen hast, dein Wissen um die Dinge war falsch und überflüssig. Zur Begeisterung, zur Freude bist du nicht fähig. Du bist angekommen, und nun kannst du prüfen, ob sich die Wirklichkeit mit dem Bild deckt, das du dir im Überlebenskampf gemacht hast, dem Bild von der westlichen Welt, dem offiziellen Feindbild deiner Kindheit, das du dir im Geheimen und mit nicht geringem Schuldbewusstsein zum Komplizen gemacht hast, ohne die Pflichtlektüre zu vernachlässigen. Allmählich klärt sich das. Um besser zu sehen, schließt du die Augen. Die Orientierung fiele dir leichter, wenn dich nicht die gegenständliche Welt umgäbe. Bei der Kontrolle deiner Phantasie steht dir die Wirklichkeit im Weg, du bist ihr nicht gewachsen. Die Spuren deiner Träume lassen sich nicht verwischen, doch bist du selbst ohne jede Spur. Die Gegend, aus der du gekommen bist, gilt hier bloß als Phantom. Deine Sorgen sind wie eine ansteckende Krankheit, du bist ein gefährlicher Bazillenträger, den man regelmäßig desinfizieren muss.
     Europa ist für die Sieger zu klein, für die Verlierer zu groß. Nach diesem Prinzip suchen beide ihren Platz. Je besser du Europa kennenlernst, umso demütigender ist es, ein Verlierer zu sein. Du begreifst, dass du gleich nach Übertretung der magischen Landesgrenze selbst den Kotau gemacht hast: Mit gesenktem Kopf wartetest du, dass der Grenzer deinen Pass abstempelt; dieser Moment deines Ausgeliefertseins steht dir vor Augen, während du taktvoll die Gesichtszüge deiner neuen Bekannten studierst. Du möchtest in sie, in ihre Welt hineinblicken, willst alles von ihnen wissen. Du unterhältst dich mit ihnen, fragst sie aus, ob sie sich ihres geschichtlichen Verrats bewusst sind, und der Jahrhunderte, in denen sie dich geopfert haben, um ihre eigene Haut zu retten. Das wollen sie nicht hören, Anklagen unehelicher Kinder sind sie nicht gewohnt. Tölpel sollen schweigen. Sie haben keinerlei Empathie, im Laufe der Unterhaltung stellst du fest, dass es zwischen dir und ihnen kaum Verständigung geben kann. Sie bedauern dein Schicksal, kennen es aus den Zeitungen, haben in den Illustrierten von deinem Leid gelesen, die Interviews mit Dissidenten interessiert verfolgt, ja, den Sport natürlich auch, und unbewusst befürchteten sie, der bolschewistische Virus könne bis zu ihnen vordringen. Sie klopfen dir auf die Schulter, du warst ein guter Grenzposten, hast sie mit deinem Körper geschützt, endlich ist der Sturm vorüber, die Gefahr abgewendet, ruh dich aus, sagen sie, und blättern in der Zeitung zu den Sportnachrichten. Sie tragen keine Mitschuld. Sie sind nicht begierig zu wissen, was dir, dem braven Grenzposten, unter der Haut brennt. Deine zaghaft vorgebrachten zweideutigen Anspielungen finden sie ein wenig sonderbar, und obschon sie dir ihr Mitgefühl für das mittelosteuropäische Debakel bekunden, wahren sie taktvoll Distanz: gehen dir taktvoll aus dem Weg, als littest du an einer Seuche. Gelegentlich loben sie dich, da du doch einstweilen von der Pest genesen bist, wissen aber, dass du nie endgültig gesunden kannst. Der Bettelstab ist ein abstoßendes Symbol. Halte du dich als freiwilliges Opfer unter dem Seziermesser weiterhin bereit für das Experiment an der Geschichte. Deine Monologe könntest du beliebig fortsetzen, sie wären auch dann nicht zu verstehen, wenn deine Zuhörer ernsthaft zuhörten. Ein paar skandalöse politische Dinge haben sie freilich in Erinnerung behalten, ja, sie wüssten Bescheid über die kommunistische Diktatur, sagen sie, und damit ist die makabre Zeitanalyse von der Tagesordnung. Zu mehr fühlen sie sich nicht verpflichtet, lassen dich aber spüren, dass du ihnen etwas schuldig bist. Nach Berlin … seufzt du resigniert. Du bist ein Paria, eine problematische Natur, einer vom Randgebiet. Du kommst von dort, wo sich der Balkan mit der pannonischen Landschaft trifft, ein verdächtiger Europäer, der dem jederzeit kreditwürdigen Europa Verantwortung schuldet. Du wirst dich dein Leben lang beweisen müssen. Sie, lauter eingeborene Europäer, meinen es gut mit dir. Ihr Interesse an dir ist marginal, es steht fest, du bist Europas Bastard, doch selbst diese Bezeichnung musst du dir erst einmal erarbeiten.
     Du leidest an geschichtlicher Schizophrenie, Europas geknebeltes Gedächtnis ist dir ein unheildrohendes Zeichen. Das lebenserhaltende Element deiner Erinnerung ist nicht das Leben, sondern die Kultur. Europa verstummt, sobald es seine Schuld gegenüber der Kultur, der Peripherie eingestehen soll. Du willst die Erinnerung wachhalten, kämpfst täglich von Neuem für sie, rettest die Kultur vor dem Leben. So hoffst du manches zu bewahren, während die Ideologen des Lebens dich schadenfroh verspotten, weil du deine Zuflucht im Nebligen suchst. Die Worte deiner Zensoren hallen in deinem Ohr wider. Deine Wirklichkeit, so hieß es einst, soll einfühlsam beschrieben sein, diskret klassenkämpferisch, und dann - als diese Worte sich verbraucht hatten - wurdest du verpflichtet, sorglos mit den Worten zu spielen, schlanke Sätze in der vom Elend gezeichneten Welt zu Papier zu bringen, während in den Salons die Kommissare an der Zigarre zogen und die Schönheit lobten. Dann verbrauchte sich auch das, unter den Mächtigen der Randgebiete erbebte die Erde, und nun solltest du die Nation lobpreisen, so befahlen es ihre Retter und gesegneten Führer. Wo du auch hinblicktest, überall falsche Propheten, die Menschen hungerten und sehnten sich nach einer anderen Welt, die Propheten aber schossen wie Pilze aus dem Boden. Das war die Geschichte. Nicht der eine oder andere Gedanke in ihr war falsch, sondern restlos alles, das ganze Leben, die ganze Wirklichkeit. Was konkret und erfahrbar war, ist Irreführung und Lüge geworden. Die Massen haben sich verschworen, der Bruder soll den Bruder, die eine Nation die andere massakrieren, verfolgen, hassen, für immer verdammen. Das größte Blendwerk des blutigen Mysteriums an der Donau ist in der Tat die Realität gewesen. Noch jetzt fordern die hochdekorierten Diener der Lüge von dir Rechenschaft über die Realität. Dass deine Wirklichkeit jenseits alles Sichtbaren und Spürbaren liegt, jenseits des Opiums für den kollektiven Wirklichkeitsgenuss, spielt keine Rolle. In Mittelosteuropa ist die größte Lüge gerade die Wirklichkeit, an die du nicht glaubst, an der du nicht interessiert bist; du möchtest dich an dem festhalten, was sich über ihr befindet, was dich wie eine nicht benennbare Kraft führt und was du, aus Angst, den reinen, von allem abstrahierenden Gedanken nennst. Die Angst ist es, die dir die letzte Gnade, Erlösung bringen kann.
     Du sitzt in der S-Bahn-Linie 2, Potsdamer Platz, Unter den Linden, Friedrichstraße, Nordbahnhof, der Zug rast weiter, an diesen Stationen hält er nicht, schwarze, leere Räume, nur da und dort sickert etwas Licht durch; in den dunklen Fluren huschen Schatten vorbei, du denkst, es seien Soldaten. Am Humboldthain hält die Bahn, die Menge drängelt sich herein, du wirst ruhiger, blickst vor dich hin, als hättest du einen Albtraum überstanden, die anderen Fahrgäste aber wirken gleichgültig, die unerwartete Stille, die durch die dunklen Tunnel entsteht, scheint ihnen nichts auszumachen. Die Szene birgt jedoch unheilvolle Erinnerungen. Die Berliner Bürger vergessen nicht. Es ist nur Schein, denkst du - die zweigeteilte Stadt, Europas größter Schmerz, der deine Geschichte schicksalhaft bestimmt. Jahre später erreicht dich in der Nacht die Nachricht: Die Mauer fällt, du aber weißt, dass deine persönliche Geschichte davon grundsätzlich unberührt bleibt. Du denkst an jene Momente, als du dich mit deinen Berliner Freunden in die Nähe der Mauer verirrtest und ihren verstohlenen, Unheil witternden Blick zur Mauer erhaschtest, dann ihren Blick zum Himmel, als wollten sie von den Rachegöttern Hilfe erbitten. Doch die an den Himmel gerichtete Bitte sprachen sie nicht aus, sie sagten nur ganz sachlich, es handele sich um die größte menschliche und politische Ungerechtigkeit, die einer Nation widerfahren kann. Von göttlicher Rache war keine Rede. Für sie begann die europäische Ungerechtigkeit dort, wo die Mauer begann - und dort endete sie auch.
     Die unsichtbaren europäischen Mauern, an denen immer wieder kleinere Feuer aufflammen, wurden nicht niedergerissen. In Europas Randgebieten sind die Mauern unbezwingbar. Die Kriege, die Mächtigen haben Völker und Städte aufgeteilt, Flüsse zweigeteilt, in der europäischen Geschichte bedeuteten die Siege schon immer das Spiel der Großen mit den Kleinen, um - wie es hieß - ihrer eigenen Sicherheit willen. Schon immer haben die Großen leichtfertig ihre unehelichen Kinder geopfert. Du beobachtest die Gesichter deiner Berliner Freunde, du verstehst sie, nur sie dich nicht. Aber mit welchem Recht forderst du auch Verständnis? Mit einem Mal geht es dir auf: Die leidenschaftlichsten Europäer kommen an Europas Rändern auf die Welt; es ist der Komplex der Bastarde, dem dein Europabewusstsein entspringt. Sie ahnen das und finden es deshalb nur natürlich, dass du Risiken auf dich nimmst für Ideen, deren Nutznießer sie sind.
     Den Kindern der großen Nationalstaaten bist du eine dubiose Figur, sie mustern dich unsicher, können sich keinen Begriff von dir machen; würde man dich in ein Museum stellen, würde dir beste Pflege zuteil, doch in der Wirklichkeit bist du ein Störfaktor. Sie verstehen deine Geschichte nicht, die ihre Väter erfunden und die sie geerbt haben. Du bist Teil dieses Erbes. Weshalb sie dich gern los wären, wie eine unangenehme Erinnerung an die eigene Hurerei. Eifrig argumentierst du, wiederholst dich, die ständige Wiederholung macht dich lächerlich. Du zählst nicht. Bist ein nützliches Übel, ein im Randgebiet Vergessener, verwahrlost, halb barbarisch, halb zivilisiert.
     Du, ein europäischer Indianer, ein Barbar auf Westreise, schämst dich für deine Vergangenheit, für deine blutige Geschichte, für den Hass, in dem du aufgewachsen bist, schämst dich für den Albdruck, der dir eingeimpft wurde, für das Schweigen aus Angst. Berlin mit und ohne Mauer. Landschaftsbild unter fernem Blitzlicht. Gepflegte Rasenflächen. Die fremden Barbarenhände sind billige Arbeitskräfte, sie mähen Gras, kümmern sich um Blumenbeete, säubern die Straßen. Putzen Fenster. Die glänzende Fontäne vor dem Europahaus schießt in den Himmel. Wunderschöne gelbe und rote Rosen drumherum. Europa leuchtet. Hier ist alles sicherer als dort, wo du hergekommen bist. Du seist Europäer, beteuerst du verkrampft, ohne Heimat auf deinem eigenen Kontinent.
Vielleicht ist es diese Heimatlosigkeit, die dich zum Gefangenen einer imaginären Heimat macht. Blind irrst du in Berlin umher. Nun kennst du den kleinen Fleck imaginäre Erde unter deinen Füssen, und es wird für dich nur natürlich, auszuweichen, den Weg zurück ins Dunkel zu gehen, nach Europa, das nicht ist.

zu Teil 2
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