Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
22.02.2006. "Wir alle bestehen aus nuklearem Abfall": Arno Widmann lernt mit Martin Rees Astrophysik, reist mit Lus Pavao in die Fado-Lokale Lissabons, vertieft sich in christliche und jüdische Märtyrererzählungen und lauscht Cy Twomblys Gesängen von Thyrsis.
Fado - wie eine Zeitreise

Wer den Band flüchtig durchblättert, wird die Fotos für viel älter halten. Dabei entstanden sie zwischen 1981 und 1986 und zwischen 1992-1995. Es sind Aufnahmen aus Fado-Lokalen im Bairro Alto Lissabons. Sie zeigen die Sängerinnen und Sänger und die Bewohner des Viertels, die Männer in ihren Jacketts aus dicken Stoffen und die Frauen mit ihren nur übergehängten schwarzen Wolljacken, die Holzgrills in den engen Gassen. Die Fotos hätten auch gleich nach dem Krieg entstanden sein können. Die Mantelkragen wären vielleicht breiter gewesen. Das Schwarz/Weiß, nein, das kunstvolle Changieren im Grau gibt den Aufnahmen eine einnehmend melancholische Patina. Es gibt Genrebildchen darin, bei denen ich den Eindruck hatte, ich hätte sie als Siebenjähriger in Lissabon exakt so gesehen: Ein ebenerdiger Raum, im Vordergrund kartenspielende Männer, hinten ein kleines großäugiges Mädchen, dessen Strümpfe die Beine hinunter gerutscht sind, das einen auf einem abgebrochenen Marmortisch stolzierenden Vogel anbläst, dahinter die Tür, in der ein Mann mit engem Anzug und im Nacken gelocktem Haar steht. Es sind Aufnahmen wie aus einem neorealistischen Film. Es ist schön zu wissen, dass man diese Szenen noch immer - vergangenes Jahr war ich wieder dort - sehen kann, dass das Geschäft mit dem Fado es noch nicht geschafft hat, die Lust daran zu töten.

Neben den Fotos von Lus Pavao gehören zu dem Band vier CDs mit mehr als 50 Fado-Liedern, gesungen von mehr als zwanzig Sängern und Sängerinnen, dazwischen immer wieder ein paar Gitarren-Soli. Man erfährt nichts über die Künstler, man bekommt sie nicht einmal zu sehen. Die Texte werden nicht übersetzt. Das überlässt einen ganz der Stimmung. Sentimentale Naturen werden das als einen Gewinn betrachten. Kühlere Zeitgenossen wüssten schon gerne, womit und von wem sie so mitgenommen werden.

"Fado Portugues". Fotos und Text von Lus Pavao. Earbooks bei Edel Classics. 120 Seiten, 95 s/w und farbige Fotos, 4 Musik CDs, 30 Euro. ISBN 3937406271.


Sternenstaub

Auf der rückwärtigen Innenseite des Umschlags von "Das Rätsel unseres Universums" sieht man einen höchst eleganten Herrn in einem leuchtend weißen Hemd mit prächtigen Manschettenknöpfen. Er lächelt. Ein gewitzteres Lächeln kann man lange suchen. Martin Rees, geboren 1942, ist Königlich-Britischer Hofastronom und zählt - so der Klappentext - "zu den angesehensten Astrophysikern der Gegenwart". Jedenfalls zählt er zu den ganz wenigen Autoren seines Berufsstandes, deren Bücher ich zu Ende gelesen habe. Das ist kein Vorwurf an die Autoren, sondern ein Eingeständnis nicht nur meiner Ignoranz, sondern meiner Verständnislosigkeit. Es ist blamabel, auch hundert Jahre nach der Relativitätstheorie nicht zu verstehen, was sie besagt. Es ist blamabel, einfach nicht zu begreifen, was mit Sätzen wie diesem gemeint ist: "Es ist der Raum selber, der sich ausdehnt und dabei die Galaxien mit sich nimmt." An einer anderen Stelle erklärt Rees, es sei falsch von einem Multiversum zu reden, nur weil es sein könnte, dass, was wir bisher als Universum betrachteten, nur eines von vielen sei, denn dann habe sich schließlich nur herausgestellt, dass unser Universum nicht das Universum war.

Das verstehe ich und denke: vielleicht ist es beim Raum genauso. Aber das scheint falsch zu sein. Mit anderen Worten auch Rees ist es nicht geglückt, mir das Einmaleins der modernen Physik bei zu bringen. Dafür aber habe ich andere Abschnitte seines Buches nicht nur begeistert verschlungen, sondern, so hoffe ich, sogar verstanden. Manche Passagen sind große Erzählungen. Würden sie in viertausend Jahren als Einziges übrig bleiben vom Wissen unserer Zeit, man würde Rees für unseren größten Dichter halten, der uns in fantastischen Mythen Anfang und Ende der Welt ausgemalt habe. "Unser kosmischer Lebensraum gleicht einem Ökosystem. Die Abfallprodukte der einen Sternengeneration werden in der folgenden Generation wiederverwertet. Schnellbrennende schwere Sterne wandeln den anfänglichen Wasserstoff in Kohlenstoff, Sauerstoff, Eisen und die anderen Elemente des Periodensystems. Diese Verbrennungsrückstände werden in den Weltraum zurückgeworfen, entweder als stellarer Wind oder bei der abschließenden Supernova-Explosion. Ein Sauerstoffatom eines massiven Sternes kann für viele hundert Millionen Jahre durch den interstellaren Raum geirrt sein. Irgendwann fand es sich vielleicht in einer dichten Wolke wieder, die sich unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammenzog und zu einem neuen Stern wurde, der von einer Staubscheibe umgeben ist. Dieser Stern könnte unsere Sonne gewesen sein und dieses bestimmte Atom könnte auf der Erde gelandet sein und eines Tages seinen Weg durch eine menschliche Zelle nehmen. Wollen wir unsere eigene Herkunft begreifen, müssen wir die Entwicklung der Sterne verstehen, die vor langer Zeit in den entfernten Teilen unserer Milchstraße existiert haben. Wir alle sind Sternenstaub - oder, um es noch prosaischer auszudrücken, wir alle bestehen aus dem nuklearen Abfall der Verbrennungsprozesse, die Sterne leuchten lassen."

Ein großflächigerer Blick auf uns und die Welt ist zurzeit nirgends zu bekommen. Man geht in die Knie vor so viel Größe. Aber nicht aus Demut, sondern aus Neugierde. Man will es genauer wissen, jeden einzelnen Abschnitt dieser makro- mikrokosmischen Evolution möchte man verstehen. Dass das Allergrößte mal das Allerkleinste war und es wieder werden wird und dann wieder das Allergrößte, das ist ein prächtiges Schauspiel, in dem Milliarden und Abermilliarden Atombomben gesprengt werden, in dem alles zerstört wird, aber nichts verschwindet. Dann setzt sich mit entsprechenden Folgen zusammen, was zusammengehört und auch das, was nicht zusammengehört. Eine neue Etappe beginnt, die, wenn Zeit ist und noch ein paar andere Bedingungen zutreffen, einen Kosmos entstehen lässt, Leben vielleicht und vielleicht sogar mit Leben, das nachdenkt über das Leben.

Rees hatte aus seiner Zusammenfassung schon die mathematischen Gleichungen entfernt und auch die Gesetzmäßigkeiten der Physik allenfalls anklingen lassen. In meiner Verballhornung ist man schließlich nur noch einen halben Schritt von dem entfernt, was indische Philosophen sich schon vor dreitausend Jahren hatten einfallen lassen. Das desavouiert nicht die Erkenntnisse, die durch Teilchenbeschleuniger und Riesenteleskope generiert werden. Es sagt nur etwas über die verblüffenden Reichweiten menschlicher Fantasie. Sowie wir freilich die Zahlen hinzufügen, wird uns klar, wie winzig unsere Vorstellungskraft ist im Vergleich zu dem, was sich in und um uns abspielt.

Im Anhang zu seinem Buch bringt Martin Rees ein paar Sätze, die wir auswendig lernen sollten. Wir hätten dann immer ein Bild von unserer - schelersch gesprochen - Stellung im Kosmos: "Jeder von uns besteht aus 10 hoch 28 bis 10 hoch 29 Atomen. Die sichtbaren Galaxien umfassen rund 10 hoch 78 Atome. Die wirkliche Spannweite der Skalen ist mit Sicherheit noch größer." Die Liebhaber bedeutungsträchtiger Koinzidenzen, Beobachter des Zeitgeistes also, werden zu schätzen wissen, dass Martin Rees seinen Aufsatz "Der Kollaps des Universums: eine eschatologische Studie" im Jahre 1968 veröffentlichte und dass im selben annus mirabilis der Begriff "Schwarzes Loch" geprägt wurde.

Ach, ich möchte meinen Lieblingssatz aus diesem wunderbaren Buch noch zitieren: "Innerhalb von 10 hoch 36 Sekunden - dem billionstel Teil des billionsten Teils einer billionsten Sekunde - konnte ein mikroskopischer Fleck zu einer Größe heranwachsen, der unser gesamtes beobachtbares Universum umfasst."

Martin Rees: "Das Rätsel unseres Universums". Hatte Gott eine Wahl? C.H. Beck Verlag, München 2003. 219 Seiten mit Grafiken, gebunden, 19,90 Euro. ISBN 3406509002. Bestellen.


Tohuwabohu

Daniel Boyarin ist Professor für Talmudic Culture an der University of California in Berkeley. Sein Buch "Dying for God" beschäftigt sich mit der Rolle des Märtyrertums bei der Herausbildung von Christentum und talmudischem Judentum. Man greift zu einem solchen Buch derzeit natürlich nicht nur aus historischem Interesse. Fast täglich bekommen wir vor Augen geführt, dass als Glaubenszeuge zu sterben keine Sache der Vergangenheit ist. Es ist schade, dass Boyarin die islamischen Märtyrererzählungen ganz beiseite lässt. Verständlich ist es, denn die meisten der ihn interessierenden Quellen entstanden Jahrhunderte vor der Entstehung des Islam. "Dying for God" beschäftigt sich mit den christlichen Märtyrerakten und mit jüdischen Märtyrererzählungen, wie sie zum Beispiel im babylonischen oder im palästinensischen Talmud überliefert vorliegen.

Boyarin arbeitet die erotische Besetzung des Märtyrertodes in beiden Überlieferungen heraus. Der Leser denkt an die jungen Islamisten, die heute sich und andere in den Tod jagen, in der fiebrigen Erwartung jenseitiger sexueller Erregungen. Auch den Tod als die notwendige Erfüllung der Liebe zu Gott zu betrachten, ist keine muslimische Errungenschaft, sondern spielt schon bei den großen Vorbildern Mohammeds, in Christen- und Judentum eine zentrale Rolle. Dass der für seinen Glauben in den Tod Gehende, Ungläubige mitreißt und tötet, kommt in den Märtyrerakten kaum vor. Hier geht es fast immer darum, dass ein Bekenntnis zu Christus verlangt wird. Der Märtyrer liefert auch unter schwersten Qualen dieses Bekenntnis und erlangt darum ewige Seligkeit. Ähnlich verhält es sich bei den jüdischen Märtyrern. Es gibt Fälle, bei denen auch bei einer aufmerksamen Lektüre der überlieferten Texte es unmöglich ist, zu entscheiden, ob es sich um einen jüdischen oder um einen christlichen Märtyrer handelt. Der Grund ist nicht, so Boyarin, die schwierige Quellenlage, sondern die damalige Wirklichkeit selbst.

Man denke an den "Fall Berger". Nachdem der Mann fast dreißig Jahre lang Professor für neutestamentliche Theologie an einer evangelischen Fakultät war, behauptet jetzt die evangelische Kirche, dass er eigentlich Katholik sei. Der Professor akzeptiert den Unterschied für sich nicht. Wenn nach fünfhundert Jahren wechselseitiger Vernichtung und Definition so etwas möglich ist, wie unwahrscheinlich ist dann die an den Schulen gelehrte Vorstellung von einer frühen strikten Trennung von Juden und Christen? Zudem noch in einem so riesigen Raum wie dem des Römischen Reiches? Es gab, muss man sich vorstellen, weder Juden noch Christen, sondern Hunderte, vielleicht Tausende unterschiedlicher Gemeinden, mit unterschiedlichen Überlieferungen, die sich ganz unterschiedlich unterschiedlich vorkamen. Das sich herausbildende talmudische Judentum entstand ja ebenso in der intimen Auseinandersetzung mit der jüdischen Sekte Christentum, wie dieses mit jenem.

Boyarin entwirft kein weites Panorama. Er analysiert einzelne Texte. In ihnen und ihren Widersprüchen findet er und mit ihm der Leser die vertrackte, verwirrende Realität einer Welt, in der, was später säuberlich - das heißt blutig - getrennte Religionen wurden, noch vermischt und offen war für andere Zukünfte und Vergangenheiten. Man wird um den Gedanken nicht herumkommen, dass auch zwei-, dreihundert Jahre später bei der Herausbildung des Islam vielerorts die Fronten noch nicht viel klarer gewesen waren.

Daniel Boyarin: "Dying for God". Martyrdom and The Making of Christianity and Judaism. Stanford University Press, Stanford California 1999. 247 Seiten, broschiert, 27,50 Euro. ISBN 0804737045.


Die liebliche Stimme des Thyrsis

So schön der Band ist, von der Schönheit der Bilder des 1928 geborenen amerikanischen Malers Cy Twombly transportiert er fast nichts. Zum Beispiel das Triptychon "Thyrsis" aus dem Jahre 1977. Im Buch sind es drei glatte weiße, leicht ins Bläuliche schillernde Flächen mit ein paar Klecksen und ein wenig Schrift. In Berlin, im Museum Hamburger Bahnhof steht man vor 300 x 198 cm, 300 x 412 cm und 300 x 198 cm. Das ist mehr als ein Größenunterschied. Bei vielen der Arbeiten von Cy Twombly geht es ganz wesentlich um die Bewältigung einer einzigen Aufgabe: So groß und gleichzeitig so leicht zu sein, wie es nur geht. Die Größe seiner Leinwände konkurriert mit denen Makarts und Pilotys. Er hat den gleichen Hang zum Übermächtigen. Aber die Herausforderung liegt für Twombly gerade darin, übermächtig zu sein und doch eine schwebende, heitere Leichtigkeit zu erreichen, die den Dimensionen seiner Leinwände alles Gewaltige oder gar Gewalttätige nimmt. Bleistift und Kohle, nicht etwa schwere Ölfarben, machen das Bild. Sie machen es auch insofern, als hier nichts abgebildet wird, sondern wirklich das Bild aus nichts als Leinwand, Bleistift und Kohle besteht.

Es ist so sehr ein Bild und ein so schönes Bild, dass ich - so oft ich davor stand - niemals auf die Idee kam, die Bleistiftschrift zu lesen. Es wäre mir lächerlich, nein blasphemisch vorgekommen angesichts einer so immens dekorativen Schönheit, wie man sie sonst nur aus China und Japan kennt, darüber nachzudenken, was durch die Schrift vielleicht als Bedeutung noch hinzugefügt werden soll. Es war die Erfahrung einer Schönheit, der man sich ausliefern, die man nicht analysieren möchte.

Der Band transportiert diese Schönheit nicht. Er reißt einen nicht mit in die Höhe. Hier liest man die Bilder, wie man die Holländer des goldenen Zeitalters zu lesen gelernt hatte. Alles hat eine Bedeutung. Man muss genau hinsehen, die Quellen heranziehen, dann begreift man auch die wuseligsten Bilder. Hier also nun groß und nicht zu übersehen auf dem Mittelteil des Triptychon der Text: "I am Thyrsis of Etna blessed with a tuneful voice". Natürlich hatte ich diesen Text auch im Hamburger Bahnhof gesehen und gelesen, aber er erschien mir angesichts des Wunders dieser übermächtigen Leichtigkeit, die einen wie in einem Akt der Elevation in die Höhe zu heben schien, gleichgültig. Der Schriftzug sah so schön aus, dass ich nicht auf die Idee kam, er könne etwas bedeuten. Jetzt weiß ich: Es ist ein Zitat aus der ersten - "Thyrsis" genannten - Idylle des Theokrit. Mörike übersetzt diesen Vers so: "Thyrsis vom Ätna ist hier, und die liebliche Stimme des Thyrsis".

Theokrits Gedicht ist ein Dialog in der Mittagshitze zwischen Thyrsis, dem Schäfer und dem Geißhirt. Der verspricht Thyrsis die schönsten Geschenke, wenn er ihm die Geschichte erzählt, sie ihm singt, die er im Wettkampf mit dem Libyer Chromis sang. Thyrsis beginnt sein Lied mit den von Twombly auf die 3 mal 4 Meter große Leinwand geschriebenen Worte. Es hat die letzten zweieinhalbtausend Jahre so groß noch nirgends gestanden. Und ich hatte es sehend übersehen! Das Lied, das Thyrsis singt, erzählt vom Hirten Daphnis, dem Erfinder der bukolischen Dichtung. Er soll gestorben sein, weil er einer Nymphe Treue versprochen hatte, sie aber nicht halten konnte. Thyrsis singt schön vom schönen Daphnis und schöner noch von seinem Tod. Dann wendet er sich an den Geißhirt und verlangt seine Geschenke. Mörike kostet den Kontrast aus zwischen dem bittersüßen, wehmutsvollen Gesang und der direkt sich anschließenden Einforderung der Gage. Theokrit lässt den Geißhirt - in der Übersetzung Mörikes - antworten: "Honig, o Thyrsis, fülle den reizenden Mund dir, es füll ihn lauterer Seim!"

Diese Verse zitiert Twombly auf dem letzten Bild des Triptychons. Ich lese diese alten, vielfach gebrochenen Geschichten. Ich lese sie gerne. Die Leinwand, die ich jetzt, da das Buch vor mir liegt, nicht sehe, scheint mir jetzt auch die Geschichte des Thyrsis zu erzählen und die des Daphnis, und ich rätsele, was Twombly in ihnen las. Ob er ihren englischen Klang, denn er zitiert eine englische Übersetzung, so mochte wie ich den Mörikes oder ob er durch die die Leinwand überziehenden Worte die Mittagshitze beschwören möchte, die er nicht malte, deren flirrendes Licht aber mir jetzt in der Erinnerung die Leinwand zu beherrschen scheint?

Richard Leeman: "Cy Twombly - Malen, Zeichnen, Schreiben". Die große Monographie. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Wolf. Schirmer/Mosel, München 2005. Format: 24.5 x 31 cm, 304 Tafeln, davon 291 in Farbe, gebunden, 324 Seiten, 98 Euro. ISBN 3829601611. Bestellen.


Von der Liebe zu sich selbst

Manche Bücher liest man in der falschen Situation. Die Briefe Martin Heideggers an seine Braut und spätere Ehefrau Elfride zum Beispiel las ich im Urlaub. Ohne Heideggers Bücher zur Hand zu haben. Dabei geht es in diesen Briefen fast ausschließlich um seine Arbeit. Von 1915 bis 1970 immer nur ein Thema: seine Arbeit und die Herstellung seiner Arbeitsfähigkeit. Leider sind die Briefe Elfride Heideggers nicht erhalten. Was vor uns liegt ist der Inhalt einer Holzkiste, deren Schlüssel Heideggers Ehefrau am 13. Januar 1977 ihrer Enkelin übergab. Im Alter von 98 Jahren starb Elfride Heidegger am 21. März 1992. Im Herbst 1999 begann die Enkelin sich mit dem Inhalt der Holzkiste zu beschäftigen. In diesem Jahr erschien eine Auswahl - ein Siebtel - der Briefe und Postkarten Heideggers an seine Frau. "Mein liebes Seelchen" ist sie betitelt, und so begannen auch fast alle seine Briefe vom zweiten bis zum letzten.

Viele der frühen Briefe sind peinlichster Jugendstil. Heidegger wirft die grässliche Kitschmaschine an, die wir von den Feldpostkarten jener Jahre kennen. Im Dezember 1915 schreibt er: "sind meine Hände heilig genug um die Deinen bebend zu umfassen, ist meine durch alle Schauer des Zweifels hindurchgepeitschte Seele der würdige Schrein, um Deine Liebe in Ewigkeit drin wohnen zu lassen."

Wie sehr das Zitat von Gefühl spricht und wie wenig es gefühlt ist, sieht man schon daran, dass er im Glück, so schön formuliert zu haben, das doch unbedingt nötige Fragezeichen am Ende vergisst. Heidegger ist ein Literat, ein schlechter, einer, der keine eigenen Worte findet, sondern stolz auf die bereit liegenden effektvollen zugreift. Elfride war damals dreiundzwanzig Jahre alt, Heidegger siebenundzwanzig. Das sind nur vier Jahre Unterschied, dennoch doziert er in fast jedem Brief. Aber er tut es voller Enthusiasmus. Er ist ganz unschuldig in seinem Überlegenheitsgefühl. In jenem Brief vom 13.12.1915 erzählt er seinem "Seelchen" seine Lebensgeschichte. Er erzählt sie in einem bei Rilke abgehörten Ton, der ganz nahe an dem der kleinen Broschüren ist, die man in katholischen Kirchen findet und die vom Leben der Heiligen erzählen. Heidegger schreibt seine eigene Legenda aurea. Man kann diesen Brief nicht lesen ohne über den eitlen Burschen den Kopf zu schütteln und ohne ihn gern zu haben - trotz seiner Selbststilisierung oder vielleicht nach einer Weile auch gerade darum.

Der unglaubliche Narzissmus, mit dem schon der junge Heidegger sein kostbares Selbst einspinnt ins Große, Bedeutungsvolle ist vielleicht eine noch stärkere Triebkraft als sein hermeneutischer Verstand, als sein Hunger nach der Aufdeckung der letzten Fragen. Es wäre schön, diesen Brief zu vergleichen mit den Texten, an denen er damals arbeitete. Wie es wichtig wäre zu sehen, ob die Affären der späten Jahre tatsächlich seine philosophische Kreativität, wie er gegenüber Elfride betont, oder nur seine Eitelkeit förderten. Man könnte auch von Selbstbewusstsein sprechen und davon, dass nach "Sein und Zeit" (1927 erschienen) kein vergleichbares Werk mehr seinen Schreibtisch verließ, dass er vielleicht auch darum und nicht nur aus Altersgründen an jugendlicher Selbstsicherheit verlor und sich immer schwerer tat mit der Beendigung seiner Manuskripte.

Am 8. Februar 1920 schreibt er in einem Brief, den er mit "mein herzallerliebstes Seelchen!" beginnt: "ich sehe immer wieder deutlich - woran ich immer fest glaube u. vertraue - dass unsere Ehe etwas ganz Reiches u. Starkes bedeutet wenn auch vielleicht die Liebe fehlt, von der ich mir allerdings keine rechte Vorstellung machen kann. Aber Grenzen sind überall -"

Die beiden waren damals drei Jahre verheiratet. Ein Jahr zuvor war ein Sohn geboren worden und Elfride war jetzt schwanger mit dem Sohn Hermann. Dessen leiblicher Vater war allerdings - ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis - ein Jugendfreund der Mutter, der Arzt Friedel Caesar, der Hermanns Patenonkel wurde. Als Hermann 14 Jahre alt war, wurde er über die wahren Verhältnisse aufgeklärt. Öffentlich machte er sie erst in einem kurzen Nachwort zu diesem Band. Man wird die Bedeutung der Idee des "Enthüllens" in der Heideggerschen Philosophie, wenn man diese Geschichte kennt, vielleicht aus ihrer griechisch-altphilologischen Verankerung herausnehmen und hineinstellen müssen in Heideggers Leben.

Dass die Wahrheit verborgen ist, ist keine bloße Ansicht Heideggers. Spätestens seit den dreißiger Jahren lebte Heidegger ständig auch mit anderen Frauen zusammen. Immer heimlich und immer wieder gestand er es seiner Frau. Das waren peinliche, aber dann auch großartige Momente, wenn Elfride ihm das Gefühl gab, dennoch niemals aufzuhören, für ihn da zu sein. Man müsste nachlesen, ob der Augenblick, in dem in der Heideggerschen Philosophie die Wahrheit aufscheint, nicht doch auch diesem Moment abgeluchst ist, in dem ein weinendes Paar mitten in der Lüge sich seiner Liebe versichert. Ein Paar, das mehr getrennt als zusammen war.

Heidegger konnte zu Hause nicht schreiben. Er fand dort nicht die Ruhe und nicht die Abwechslung, die er zum Lesen und Schreiben brauchte. Er schrieb in der Hütte. So wusste ich das. Was mir dieser Band erst klarmachte: Heidegger schrieb auch sehr gut und je älter je lieber an den Orten seiner Geliebten. Manchmal unter den Augen des Gatten, manchmal ohne diesen Dritten, der ja eigentlich ein Vierter war. Denn Elfride ist immer dabei. Er schreibt ihr in manchen Perioden täglich. Er schreibt ihr auch von seinen Affären. Manchmal kann der Sechzigjährige den Stolz auf seine Attraktivität nicht unterdrücken. Da erinnert er wieder an den jungen Mann, der seiner Bedeutung so sicher und gleichzeitig seiner selbst so unsicher war.

Gertrud Heidegger hat die Briefe mit erläuternden Anmerkungen versehen, in denen sie Heidegger stets Martin nennt. Das irritiert zunächst, bis man entdeckt, wie sehr dieser kleine Trick uns hilft, den großen Heidegger auch als Martin, als einen Mann zu sehen, der einen Anspruch darauf hat, dass wir seine Schwächen nicht strenger betrachten als unsere eigenen. Womit wir bei der Politik sind. Die Herausgeberin schreibt, sie habe alle Briefe der Jahre 1933 bis 1938 in die Sammlung aufgenommen. Allerdings spricht die Tatsache, dass es zwischen dem 19. März 1933 und dem 24. September 1938, nur sieben Briefe gibt, dafür, dass wahrscheinlich die den Nationalsozialisten nahe stehende Elfride Heidegger einiges beseitigt hatte.

Der Eindruck, den die überlieferten Briefe vermitteln, ist der eines Mannes, der zunächst von den Nazis gerade für das Wesentliche seiner Philosophie viel erhoffte, der sich dann enttäuscht abkehrte, weil sie da versagten, der aber zum Beispiel niemals Anstoß nahm - nicht einmal das - an der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Heidegger erhoffte so viel von den Nazis, weil sie Feinde der Demokratie waren, weil sie sich brutal reaktionär, anti-modern gaben. Die Abkehr von den Nazis fand schnell statt. Aber sie bedeutete keine Zuwendung zu Demokratie und Humanität. Im Gegenteil, um der Radikalität seines Antimodernismus willen wandte er sich von Nazis ab. Er war aus Beharren auf dessen Idealen zu einem Gegner des realexistierenden Nationalsozialismus geworden.

"Mein liebes Seelchen!" Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 1915-1970. Herausgegeben und kommentiert von Gertrud Heidegger. Mit s/w Abbildungen. Deutsche Verlagsanstalt, München 2005. 415 Seiten, gebunden, 22,90 Euro. ISBN 3421058490. Bestellen.