Virtualienmarkt

Der Staat, das Internet und Europa

Von Rüdiger Wischenbart
16.12.2009. Wenn es um die Kultur im Internet geht, dann soll es meist der Staat als Großer Regulator richten. Genauer gesagt der Nationalstaat. Vor allem Europa scheint sich von den einstigen universalistischen Vorstellungen des WorldWideWebs zu verabschieden.
Dass 2009 wohl zum Schwellenjahr für die Digitalisierung von Büchern werden könnte, zeichnete sich früh ab und war an dieser Stelle schon im Frühjahr zu lesen.

Wer damals jedoch vorausgesagt hätte, dass dieses Jahr mit ebenso lauten wie vielstimmigen Rufen nach dem Staat als Großem Regulator enden würde, dem hätte wohl manch ein Chefredakteur schlicht in die Tasten gegriffen.

Doch so ist es paradoxerweise gelaufen. Google - die Jahresgestalt des Bösen - ist daran gewiss nicht unschuldig. Aber was sich hier ankündigt, ist ein viel tieferer Bruch als wir uns vielleicht auszumalen bereit sind.

Als vor rund zehn Jahren das WorldWideWeb seinen Siegeszug begann, geschah dies unter dem Vorzeichen einer grenzenlosen digitalen Welt. Damals prägten ein neuer Universalismus die geopolitische wie auch die geistige Lage nach dem Fall verschiedenster eiserner Vorhänge, der Konvertierung von Kommandowirtschaften in das Versprechen auf Glück und Wohlstand für jeden, sowie den monatlich im Magazin Wired ausgerufenen Verheißungen von schier unendlichen Wachstums- und Machbarkeitsphantasien.

Das Gegenteil brennt sich heute auf den geistigen Orientierungskarten ein: Googles - noch aus der damaligen Vorstellungswelt stammender - Anspruch, das "Wissen der Welt" organisieren zu wollen, erscheint nun als ebenso frivole wie zynische Teufelsgeburt, die "unserer" Kultur ans Leder will.

Interessant ist, wie dabei auch die Wertigkeiten mit Blick aufs Publikum umgekrempelt wurden. Der Leitsatz der 1980er Jahre, "Kultur für alle", also die Forderung nach möglichst niedrigschwelligen Zugängen zu kulturellen Werken, wurde ersetzt durch die breite Denunziation von Leuten, die nicht bereit sind, für kulturelle Werke ordentlich zu bezahlen, während parallel, wie aus dem Bilderbuch der Kultursoziologie, die "Piratenpartei" sich als jugendkulturelle Protestbewegung aufstellen konnte.

Zwischen diese Fronten soll nun der Staat treten, mit Macht und in vielfacher Gestalt. Das ist einigermaßen originell.

Da ist erst einmal der Staat als Ordnungskraft. Das klingt noch vertraut wie auch naheliegend. Wenn innerhalb weniger Jahre ein neues Verkehrssystem, so wirkungsmächtig wie ein zentrales Nervensystem, durch den Gesellschaftskörper wächst, wenn unser Haus gleichsam von Grund auf neu verkabelt wird, dann braucht es verbindliche Verkehrsregeln und eine Bauordnung, damit die neuen Zuordnungen mit den alten Werten nicht unkontrolliert in Konflikt geraten.

Wenn massenweise Kinderpornografie angeboten und, was aufgrund der neuen Vertriebsmöglichkeiten nahe liegt, in großem Stil extra dafür produziert wird, dann braucht es Schranken und Sanktionen. Dass dafür jedoch Filtertechnologien zur Anwendung kommen sollen, die erlauben, ungewünschte Inhalte nach Belieben zu blockieren, mit frei variablen Tabu-Begriffen, je nach Ziel und Einstellung von den zuständigen Behörden flexibel wählbar und einstellbar, das macht den Vorgang politisch hoch explosiv. Denn es sind dieselbe Technik und dieselbe technisch gesteuerte, pragmatische Vorgehensweise, die in China Webseiten über Tibet unerreichbar machen oder in Dubai aus Gründen der Sozial- und Moralsteuerung alle "Dating" Seiten blockieren.

Es klingt auch erst einmal logisch, gegen Plattformen und Leute vorgehen zu wollen, die - mit oder ohne kommerziellen Hintergrund - Inhalte anbieten und massenhaft verbreiten, obgleich dies von den Eignern dieser Inhalte nicht zugelassen wird. Wenn ich aber ein Gesetz beschließe, wonach solche Missetäter vom Zugang zum Internet für eine bestimmte Zeit "ausgeschlossen" werden sollen, dann sage ich doch, dass der Cyberspace dem realen Raum gleichgestellt wird, ja beide Räume geradezu identisch seien. Und ich führe auch noch ein zwar in den USA verbreitetes, in Europa jedoch weitgehend fremdes Sanktionssystem ein: Bürgern - etwa Stalkern - bestimmte Dinge zu verbieten und dies öffentlich zu kommunizieren, was dem alten, in Europa längst aus gutem Grund auch abgeschafften Pranger sehr nahe kommt.

Ich bin weder Jurist noch Philosoph, sondern ein gelernter Textklempner. Aber auch als solcher frage ich mich, ob hier nicht reihum und ziemlich abenteuerlich wie bedenkenlos auf gewachsenen Rechtsbeständen, fragilem ethischen Konsens und zwischen völlig unterschiedlichen Textwelten freihändig rumgebastelt wird, vorwiegend anlass- und aufgeregtheitsbezogen, so als hätte es ein 20. Jahrhundert voller Mahnungen gegen solch populistische Beugehaft bei unbequemen Interessenskonflikten nie gegeben.

Denn um Interessenskonflikte - um Abwägungen zwischen Beteiligten - handelt es sich doch in den meisten Fällen, die unter dem großen Hut "das Internet" zurzeit verhandelt werden.

Dass Verleger- und Autorenverbände dagegen protestieren, wenn über die globalen Umgangsformen bei der massenhaften Digitalisierung von Buchbeständen nur vor einem New Yorker Gericht nach amerikanischen Rechtsnormen geurteilt wird, die noch dazu nicht linear auf Europa übertragbar sind, dann ist das ein nachvollziehbarer Streit. Aber er verdeckt den zumindest ebenso komplexen Interessenskonflikt zwischen den Verlagen und den Autoren sowie allen anderen am Buchgeschäft Beteiligten, wie nun Kosten, Einnahmen und Spielregeln in künftigen digitalen Verwertungskomplexen zu betrachten seien.

"Wer darf was und bekommt wie viel, bei welchem Einsatz und Risiko", das ist die eigentliche, ziemlich unphilosophische, vielmehr kaufmännische Frage, die in den europäischen Debatten tunlichst ausgeblendet bleibt.

Deshalb das aktuellste Beispiel dazu aus den USA: Der zur westfälischen Bertelsmann Gruppe gehörende Verlag Random House, immer noch, trotz rückläufiger Umsätze, der weltweit größte Publikumsverlag, hat dieser Tage von New York aus amerikanische Literatur-Agenturen angeschrieben, also die Vertreter der Wirtschaftsinteressen aller in den USA erfolgreichen Autoren. Man gehe davon aus, so der digitale Sprengsatz in dem Brief, dass Random House aufgrund ziemlich pauschal gehaltener Bestimmungen in alten Autorenverträgen heute alle elektronischen Verwertungsrechte besitze, selbst wenn E-Books zum Zeitpunkt des Vertrags noch gar nicht existiert oder wenigstens keine Rolle gespielt haben. Nur einen Tag später sah sich die britische Tochter von Random House veranlasst zurückzurudern. Auf Britannien sei dies nicht gleichermaßen anwendbar.

Wir lernen aus der Anekdote: Alles ist ungewiss, aber es wird jetzt erst einmal ganz hoch gepokert. In Europa waren sich bislang Autoren und Verlage in ihrer Ablehnung von Pauschalregelungen a la Google Settlement einig. Doch die Frage, wie allfällige Einnahmen aus nicht zuordbaren Werken (darum geht es in dem Schriftsatz im Kern) zwischen Autoren und Verlagen aufzuteilen sein werden, die blieb bislang außen vor. Auch dieser Konflikt wird demnächst aufbrechen.

Und nun rufen alle nach dem Staat! Denn der soll es, mitten im Getümmel, richten.

Wird da nicht unversehens eine Büchse der Pandora aufgemacht? Oder genauer: Ein Labyrinth, wobei aber nicht ganz klar ist, wer tatsächlich die zu opfernden Jungfrau darstellt, und wer der Minotaurus ist (Google? Oder Amazon? Oder bald auch Apple, wenn über iTunes bald auch Buchpreise, und nicht nur Preise für Musik eingeebnet werden?) Vor allem aber: Wer ist dabei die Ariadne, und was, wenn sich ihr Faden gleich am Eingang schon verheddert? In Europa stets ein realistisches Szenario, seit der griechischen Mythologie!

Wir haben keine Ahnung, wie sich das digitale Lesen entwickeln wird. Aber der Ruf erschallt, dass der Staat strengere Regeln rund ums Urheberrecht verordnen soll! Das ist, mit Verlaub, nicht sehr seriös.
Überhaupt das Lesen. Die gesamte Debatte wird bislang ausschließlich von den Produzenten und den Händlern betrieben, und das im Innovationsumfeld des Internet, das wie kaum ein anderes "User" getrieben ist. (Dabei meine ich digitale wie analoge "User", also Nutzende, Lesende, auch Kaufende, nicht vorrangig Piraten).

So lautstark herbeigerufen tritt der Staat, genauer: Europa, auch schon vor, artig und einem alten Reflex gehorchend, in Gestalt von Frankreich plus Deutschland, und wirft mächtig viel Steuergeld in die Waagschale. In Deutschland beschließt das Bundeskabinett, dass "die Datenbanken von 30.000 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) miteinander vernetzt und allen Bürgern in einem Internetportal zugänglich gemacht" werden" (zitiert nach FAZ).

Aus seinem großen nationalen Finanztopf von 35 Milliarden zur Bewältigung der Krise spendiert Frankreich 750 Millionen Euro für die Digitalisierung des kulturellen Erbes, davon 150 Millionen für jene von Bibliotheken. Das alles werde unter dem Dach der Europeana zusammenlaufen (nach Livres Hebdo).

Das wirft ein paar kleine Fragen auf.

Wie soll dieses Geld denn ausgegeben werden, wenn nicht, unter anderem, durch eine Anpassung des Urheberrechts auf die neuen Anforderungen, wie ohne Interessensverhandlungen über die Abgeltung zwischen Autoren, Verlagen, Übersetzern, Illustratoren und anderen Urhebern, und letztlich ohne die Einrichtung eines Fonds zur Verwaltung und Verteilung der Ansprüche für all die zigtausend Titel, deren Rechteeigentümer nicht zügig zu klären sind - also eine europäische Variante a la Google Settlement? Und wenn man tatsächlich zu Google eine europäische Alternative schaffen will, wird man diese Klärungen und Abstimmungen ziemlich zügig, also auch großzügig, nicht kleinkariert angehen müssen.

Aber das ist noch nicht alles. Schon jetzt zeigt sich das Internet Portal Europeana zunehmend als Spielplatz nationaler Eitelkeiten, wo in vielen Fällen vorgestellt wird, was die jeweils nationalen Vorstellungen am besten bedient, und in etlichen Fällen werden da sowohl professionelle Qualitätsstandards für Digitalisierungen missachtet wie auch Urheberrechte (für Belege siehe Virtualienmarkt).

Aus den üppigen öffentlichen Krisentöpfen Geld für Kultur, Literatur, Bücher und Digitalisierung zu widmen, ist eine gute Sache. Daraus ausgerechnet nationale Großprojekte zu schustern, zeigt jedoch nur, wie sehr hier anlassbezogen und populistisch, nicht politisch souverän gehandelt wird.

Bei allem Respekt vor den kulturellen Aufträgen nationaler Großinstitute wie etwa Nationalbibliotheken sollten doch ein paar simple Fragen gestellt werden: Wofür sammeln Bibliotheken eigentlich Bücher? Hatte es nicht ganz gute Gründe, dass sich Verlage und Autoren seit dem 19. Jahrhundert Selbstbestimmung und Freiheiten erkämpft haben? Wen wollen Autoren erreichen, wenn sie schreiben? Und vor allem: Was nützt am besten den Lesern?

Ausgerechnet an die Nationalstaaten zu appellieren, um im Internet die Kultur zu retten, ist eine ziemlich absurde Idee. Aber es macht den Klimawechsel - nicht nur in Sachen Internet - mehr als deutlich, vom WorldWideWeb der späten 1990er Jahre hin zu den Fragmentierungen und zur Neuen Nationalstaaterei heute. Das ist kein spezielles Problem des Internet, aber sehr wohl ein Problem für Europa.

Rüdiger Wischenbart