Tagtigall

Alltägliche Abwesenheit

Die Lyrikkolumne im Perlentaucher. Von Marie Luise Knott
10.06.2014. "Keine Rede wird je wiederholen, was das Stammeln mitzuteilen weiß": Esther Dischereit widmet den Ermordeten des Zwickauer Terrortrios acht Klagelieder.
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Immer wieder wird die Entpolitisierung der Literatur beklagt. Gerade in Zeiten wie heute, in denen unsere Köpfe mit Wörtern, Phrasen und Symbolen kolonisiert werden, heißt es, brauche man die Literatur, weil sie hörbar machen kann, was wir selbst noch nicht in Worte fassen können. Und tatsächlich: Wo Politik und Medien in unsere Köpfe hineinreden, brauchen wir die Künste zuallererst, um uns Bilder und Begriffe zurückzuerobern, in denen wir unsere Selbstgespräche führen.

Niemand bedauert so recht das Ende der "engagierten" Kunst, doch es gibt jenseits politischer Parteinahme auch andere politische Wirkkräfte der Poesie. Die in Berlin lebende Dichterin, Essayistin, Hörspielautorin Esther Dischereit hat in den Jahren 2012/ 2013 regelmäßig im NSU-Untersuchungsausschuss gesessen und aus diesem Schrecken heraus ein Radio-Hörstück in Form eines Opern-Librettos komponiert. "Blumen für Otello", lautet der Titel - auch in Anspielung an Shakespeare. Doch gemeint ist hier nicht der eifersüchtig mordende Ehemann, sondern der Mohr, der am subtilen, intriganten Rassismus seiner Zeit und Gesellschaft irre wird und zugrunde geht.

Dem Libretto vorangestellt hat die Autorin acht Gedichte, die sie "Klagelieder" nennt, Hier das sechste Gedicht in Auszügen:

Ich sag dir mal die Wahrheit
er war ein kleiner Gauner
und ein Betrüger
manchmal hat er an der Uhr gedreht
da war es doch ein wenig mehr
was er berechnet
...

und ich dachte
er lässt sich gehen
und viel zu viel Fleisch
und Dunkin" Donuts
wann gehst du zum Friseur
hab ich ihn gefragt
und er hat nicht geantwortet

...
ich meine, er war schwierig
wenn Sie verstehen
was ich meine
aber jetzt ist er
ist er ich meine er ist
warum ist er jetzt

Ich wär hingegangen
und hätte ihm gesagt
wir fahren weg
das tut dir gut
da nimmst du ab
und "ne neue Hose
gute Schuhe
verstehen Sie
aber jetzt ist er
ist er ich meine er ist
warum ist er jetzt


Klagelieder scheinen so alt wie die Welt. Traditionell priesen sie Anmut oder Heldentum der Toten, haderten mit Gott und der Welt und rangen im Angesichte der Zerstörung um das Fortbestehen des Erhabenen. Anders bei Dischereit. "Er war ein kleiner Gauner" beginnt das Gedicht. Keine Verherrlichung, keine Transzendenz, viel Sehnsucht, gehalten im Konjunktiv. Man erfährt nicht, wer der hier genannte "er" ist, und erst der Untertitel des Buches - "Über die Verbrechen von Jena" - gibt Hinweise auf den Kontext.

Dischereits Klagende hadern stammelnd mit der spektakulär-unspektakulären alltäglichen Abwesenheit der Ermordeten. Manche Sätze fangen mittendrin an, manche hören unvermittelt auf, als versuche die Sprache verzweifelt, Brücken über das Nichts zu schlagen. Dischereit will nicht über die Ermordeten reden, sie will auch die Angehörigen nicht selber in ihrer Sprache reden lassen; nein, sie will von ihnen reden, damit wir von ihnen reden, untereinander und miteinander ins Reden kommen über ihr Fehlen: sie will "die Betroffenen und die Getöteten sichtbar werden lassen", wie sie sagt. Ihr Anliegen geht auf, denn die Gedichte animieren, nicht über Tat und Täter, und nicht über politisch korrekte Positionen, sondern zuallererst gemeinsam über den Verlust der Toten zu klagen.

Mit ihrem Sprechgesang stellt Dischereit etwas her, was mit der Ausgrenzung durch Worte wie "Döner-Morde" verloren gegeben war: eine gemeinsam geteilte Welt und eine gemeinsam geteilte Trauer über die abwesenden Ehemänner, Väter und Freunde, Änderungsschneider, Lebensmittelverkäufer und Internet-Cafébetreiber.
Das "Ich", das im Gedicht stammelnd spricht, steht offensichtlich noch unter emotionaler Überwältigung. "Keine Rede wird je wiederholen, was das Stammeln mitzuteilen weiß," formulierte einst Martin Buber. Ob tatsächlich in unvollständigen, sich wiederholenden Satz- und Wortfragmenten manchmal mehr Imagination angestoßen wird? Wer stammelt, sagt etwas, was er nicht benennen kann, was aber vehement bedrängt, ja Gewalt ausübt. Er ringt nach Worten, die dem Denken und Fühlen adäquaten Ausdruck geben könnten.

aber jetzt ist er
ist er ich meine er ist
warum ist er jetzt

Trotzig verteidigen diese Zeilen das "er ist". In aller Unaussprechlichkeit des Verlustes bleiben die Toten gegenwärtig, und in der Klageform erhält sich die Lücke, die sie unter uns hinterlassen.

Esther Dischereit: Blumen für Otello - Über die Verbrechen von Jena. Klagelieder. Libretto. Dokumentation. Mit einem Interview von Insa Wilke. Gebunden ohne Schutzumschlag. In deutscher und türkischer Sprache. Übersetzung aus dem Deutschen ins Türkische: Saliha Yeniyol, 216 Seiten, Secession Verlag, 29,95 Euro

Hier zwei Links zum Bbuch:
- Zum Hörstück
- Ein Interview mit Esther Dischereit auf Dradio Kultur.

Marie Luise Knott