Efeu - Die Kulturrundschau

Teil einer Situation

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28.04.2020. Die FAZ lernt mit dem Fotografen Akinbode Akinbiyi, langsam wie ein Dieb durch die Straßen von Lagos, London und Berlin zu streifen. epd-Film erinnert an die große, aber angemessene Verzweiflung bei Rainer Werner Fassbinder. Die taz blickt auf die Lücke, die das virtuelle Theatertreffen markieren wird. Zum Tod von Suhrkamps Cheflektor Raimund Fellinger schreiben Andreas Maier in der FAZ und Ralf Rothmann in der SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2020 finden Sie hier

Kunst

Akinbode Akinbiyi, Lagos Island, Lagos, 2004. Bild: Gropius-Bau / Berliner Festspiele

In der FAZ trifft Maren Lübbke-Tidow den britisch-nigerianischen Fotografen Akinbode Akinbiyi zum Rundgang durch seine Schau "Six Songs, Swirling Gracefully in the Taut Air" im Gropius-Bau, die erstmal nur online zu sehen ist. Zu einzelnen Songs, aber auch etwas durcheinander arrangiert, zeigt die Ausstellung Bilder aus Lagos, Berlin, Johannesburg, Bamako und Chicago. Ist das nun Dokumentar- oder Straßenfotografie, fragt Lübbke-Tidow den Fotografen: "Er schüttelt entschieden den Kopf: Er habe großen Respekt vor Dokumentarfotografie, etwa dem Ehepaar Becher. Aber er sei weder an einer objektivierenden Darstellung interessiert noch an der Perspektive des Flaneurs. 'Ich beobachte einfach sehr genau und möchte Teil einer Situation werden. Früher waren die Menschen mir gegenüber oft misstrauisch, weil ich mich sehr langsam bewege. Sie dachten, ich sei vielleicht ein Dieb. Heute ist es einfacher, weil ich älter geworden bin und es niemand mehr komisch findet, wenn ich stehen bleibe und schaue."

Weiteres: Tagesspiegel-Autor Andreas Austilat stößt mit den Kuratoren der Staatlichen Museen auf Keilschriften und Papyri, die von den Epidemien der Antike erzählen. Im Blog Museum and the City berichtet die Kuratorin Julia Eule ausführlich, wie pragmatisch etwa in Mesopotamien die Sicht auf Seuchen war: "Die Babylonier und Assyrer glaubten, dass die Ursache einer Erkrankung im göttlichen Zorn lag. Offensichtlich konnte man sich aber auch durch direkten Kontakt bzw. Speise und Trank einer Person, die den göttlichen Schutz verloren hat, anstecken." Bettina Wohlfahrt bedauert in der FAZ, dass François Pinaults neues Museum in der Bourse de Commerce in Paris, einem Gebäude aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, nun doch erst nächstes Jahr eröffnet werden kann: Es wäre natürlich das Kunstereignis des Jahres gewesen.
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Literatur

Raimund Fellinger, der Cheflektor des Suhrkamp Verlags, ist gestorben und mit ihm ein Stück Suhrkamp-Kultur: Denn in ihm konzentrierte sich "die Suhrkamp-Geschichte gleich mehrerer Jahrzehnte", schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Thomas Bernhard, Peter Handke, Christoph Hein und Uwe Johnson - das sind nur einige der großen Literaten, deren Texte über Fellingers Tisch gingen, schreibt Cornelia Geißler in der FR: Neben der Fachkenntnis, war für Fellingers Arbeit auch viel "diplomatisches Geschick" vonnöten. Hier Fellingers Beiträge zum Logbuch Suhrkamp.

In der FAZ schreibt der Schriftsteller Andreas Maier einen sehr persönlichen Nachruf auf Fellinger: Noch vor wenigen Tagen hatte er von ihm eine Seite über Thomas Bernhard erhalten, dessen Werk er pflegte. Diese letzten Sätze waren "merklich ein Vermächtnis, als hätte er eine Summe auch über sein und unser Leben geschrieben. Es sind Sätze über Bernhard, in denen die Äquilibristik zwischen wohlfeilem Apologetentum und kritischer Geschmacksdistanz gewahrt bleibt. Ich kenne niemanden, der je so über Bernhard geschrieben hätte. Als reichte Fellinger Bernhard die Hand auf Augenhöhe. Verfasst von seinem Lektor, dem Literaturdiener Raimund Fellinger, dem getreuen Eckart, dem Giganten im Schatten der Berühmteren, seiner Autorinnen und Autoren, denen er absoluten Vorrang einräumte. Bedingungslosen Vorrang." In der SZ wiederum erinnert sich der Schriftsteller Ralf Rothmann an einen Lektor, der sich ganz in den Dienst der Autoren und der Sache der Literatur stellte: "Niemand kann ein guter Lektor sein, der im Innersten nicht auch ein Dichter ist. Immer wieder verblüffte mich die Genauigkeit seiner Lektüre, das Gespür für die Echoräume und Unterströmungen eines Textes. ... Was er sich abverlangte war nichts weniger als absolute Geistesgegenwart in jedem Augenblick seines Tuns, und Routine kam darin nie vor."

In der FR rät Arno Widmann zur Lektüre von Upton Sinclairs Lanny-Budd-Reihe. Denn diese zeige auf über 7400 Seiten, "dass auch einem so sehr an der Veränderung der Wirklichkeit arbeitenden Autor wie Upton Sinclair, wenn er denn ein wirklicher Autor ist, die Wirklichkeit viel zu wichtig ist, um sie durch eine Traumwelt zu ersetzen. ... Budd ist ein Held, der mit den furchterregendsten Abenteuern fertig wird. Aber der Held tötet nicht. Der Held kommt, und die Drachen morden weiter. Der Held ist nicht ein Held, weil er Schluss macht mit Elend und Gewalt. Er bringt nicht den Frieden. Der Held ist ein Held, weil er überlebt, weil er in der Lage ist, sich durch alle Vernichtungen hindurch zu erhalten."

Weitere Artikel: Für die NZZ wirft Marion Löhndorf einen Blick auf die Karriere des Thriller-Autors Lee Child. 54books bringt die elfte Lieferung seines kollektiv geführten Corona-Tagebuchs. In der FR unterhält sich Shirin Sojitrawalla mit der Schriftstellerin Eva Menasse über die aktuelle Lage und über die Einschränkung der Grundrechte, die für sie aber derzeit kein Thema sind, "weil ich überhaupt nicht den Eindruck habe, dass da in Deutschland oder in Österreich etwas schiefgeht. Wo es entgleist, das sehen wir: in Ungarn zum Beispiel." Der Seuchenroman der Stunde ist für sie übrigens "Das Glück der anderen" von Stewart O'Nan.

Besprochen werden unter anderem Abbas Khiders "Palast der Miserablen" (Zeit), Irvine Welshs "Die Hosen der Toten" (taz), Cécile Wajsbrots "Zerstörung" (SZ), Wilma Stockenströms "Der siebte Sinn ist der Schlaf" (NZZ) und Simon Ravens "Almosen fürs Vergessen" (FAZ).
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Bühne

Lili Hering überlegt in der FAZ, wie digitales Theater möglich wird, was es für die Interaktion mit dem Publikum braucht und ob Klatsch-Emojis echter Applaus sind oder debil: "Ist das alles bloß Erfahrungssurrogat, bis das eigentliche Theater wieder aufmacht? Wer die große Geste vermisst, die Gemeinsamkeit und die Gegenwart, kann die aktuelle Situation als Plädoyer für das Theater danach lesen. Wenn die Säle wieder öffnen, ist das digitale Theater hoffentlich nicht reine Zwischenlösung geblieben."

Ab Freitag wird das Berliner Theatertreffen virtuell stattfinden, aber auch wenn in Workshops und Gesprächsrunden die "Digitale Praxis im Theater" oder "Körperliche Praxis und Digitalität" anstehen, ahnt Katrin Bettina Müller in der taz, dass die zehn Inszenierungen nicht für das Format gemacht sind: "So wird das 'virtuelle Theatertreffen' wohl mehr zu einer Markierung der Lücke, die den Ausfall des realen Festivals bedeutet." Dass ausgerechnet das erste quotierte Festival ausfällt, erscheint Müller obendrein ärgerlich.

Im Tagesspiegel hört sich Patrick Wildermann unter Berliner Regisseuren um, wie sie sich auf ein Theater unter Corona vorbereiten. Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier zum Beispiel fragt die Kollegen, die schon in den Startlöchern stehen, um mit Masken und Abstandsmessern den Betrieb hochzufahren: "Was reitet Euch eigentlich?" Im Standard hält Staatsoperndirektor Bogdan Roščić an seinem Plan fest, im Herbst den Betrieb wieder aufzunehmen: "Für die Endproben mit Orchester und Chor, also Ende August, Anfang September, können die zuletzt zirkulierenden Beschränkungen nicht mehr gelten, ansonsten kann das nicht stattfinden."

Weiteres: Im Standard hofft Helmut Ploebst auf frischen Wind für das Wiener Staatsballett unter dem neuen Chef Martin Schläpfer. Im Tagesspiegel schreibt Gunda Bartels um Tod des Schauspielers Otto Mellies. ZeitOnline meldet, dass Katharina Wagner die Leitung der Bayreuther Festspiele bis auf Weiteres wegen Erkrankung niederlegt. Und last but not least der Online-Spielplan der Nachtkritik.
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Architektur

Das Virus, mitten in der Stadt: Der visionäre Entwurf der Architekten Peter Cook und Colin Fournier. Foto: Kunsthaus Graz

In der SZ erkundet Till Briegleb, wie in der Geschichte der modernen Architektur die einzelne Zelle zum Schutzraum gebauter Zukunftsvisionen wurde: "Das Kunsthaus in Graz von Peter Cook sieht mit seinen Noppen wie ein Coronavirus aus. Auch die Allianz-Arena von Herzog de Meuron muss man nicht unters Mikroskop legen, um in dem Ring einen Zelldurchschnitt zu erkennen. Zurück geht die Begeisterung für die Zellblase in der modernen Architektur vermutlich auf die berühmten geodätischen Kuppeln, die der amerikanische Stammvater des Organo-Techs, Buckminster Fuller, ab den Vierzigern für Weltausstellungen und neue Habitate entwarf. Die meist durchsichtigen Riesenkugeln aus Dreieckselementen schufen stark suggestive Vorbilder für die sprudelnden Einfälle späterer Generationen."
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Film

Für epdFilm umkreist Georg Seeßlen das Filmschaffen Rainer Werner Fassbinders, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte. Seine "Filme sind allesamt gewalttätig und schmerzhaft. Das Schlimmste ist nicht die dargestellte Gewalt und Verzweiflung, auch nicht die durch die Filme selbst ausgeübte Gewalt und die mit den Zuschauern geteilte Verzweiflung, sondern die bizarre Angemessenheit. ... In aller Regel bot das neue deutsche Kino seinen bevorzugten Helden, den Außenseitern, Verlierern und misfits, eine cineastische Erhöhung, man machte sie schön, elegant, klug und irreal. Fassbinder dagegen zeigte sie genau dort und genau so, wie es in der Wirklichkeit war. Das utopische Potenzial der Befreiung steckte nicht in der Oberfläche der Bilder, sondern in der Interaktion mit dem Publikum, und das heißt auch, dass Fassbinder-Filme im Nachhinein keinen nostalgischen Glanz annehmen, keinen Requiem-Charakter haben wie viele Hollywoodfilme, die sich mit den Außenseitern zu solidarisieren scheinen, sich nicht in der Wehmut eines Songs auflösen lassen."

Außerdem meldet der Guardian, dass ein Zusammenschluss von mehr als zwanzig internationalen Filmfestivals - darunter Cannes und die Berlinale - in Zusammenarbeit mit YouTube ab 29. Mai ein zehntägiges Online-Filmfestival veranstalten werden. Mit der Premiere aufgeschobener Großproduktionen, die üblicherweise auf den A-Festivals Premiere feiern, sei allerdings nicht zu rechnen.
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Musik

In der FAZ zeigt sich Max Nyffeler ziemlich angetan von Wittens Kammermusikfestival, das coronabedingt im Netz stattfinden musste: "Viele Aufführungen ließen das Saalerlebnis schlicht vergessen. In der medialen Sphäre offenbarten die Instrumente völlig neue Klangqualitäten. ... Weil es die ausfallende Live-Attraktion durch eine attraktive Präsentation im Netz und im linearen Rundfunk ersetzte, könnte dieser gelungene Versuch - man darf ruhig von einem Medienereignis sprechen - eine Blaupause für weitere Unternehmungen dieser Art abgeben."

Weitere Artikel: Karl Fluch erinnert im Standard an das vor 40 Jahren erschienene Debütalbum von The Feelies. Jan Kedves schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Motown-Drummer Hamilton Bohannon.

Besprochen werden das neue Dirty-Projectors-Album "Windows Open" (taz), Waxahatchees Album "Saint Cloud" (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Bach-Aufnahme des Petersburger Geigers Sergey Malov: "Durch und durch grandios", schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ. Einen kleinen Eindruck der Aufnahme bietet dieses animierte Video:

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