Magazinrundschau

Aurale Zwischenposition

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.09.2014. Vanity Fair erklärt, warum gerade die schnelle Hilfe die Verbreitung des Ebola-Virus begünstigt hat. La vie des idees schildert die ungleiche Behandlung von Muslimen und Juden in Frankreich. Medium begleitet freiwillige Rettungshelfer durch Aleppo. Der Guardian versinkt in der Korruption Timbuktus. IndieWire analysiert den komplexen Signifikanten in Steven Soderberghs Mini-Serie "The Knick". Die Financial Times fragt sich, ob Firmen-PR der neue Journalismus ist. Die New York Times weiß, wann Politiker zu Promis wurden.

Vanity Fair (USA), 01.10.2014

Jeffrey E. Stern verfolgt den Weg des Ebola-Virus in Guinea und lernt dabei eine bittere Lektion: Gerade die prompte internationale Hilfe säte Misstrauen und so trug zur Verbreitung des Virus bei. Einheimische behaupteten, "die Ausländer steckten hinter der Epidemie. Diese Logik folgte einem Muster: Das Virus war nie zuvor in Guinea aufgetaucht. Dann kamen die weißen Leute und in diesem Moment begann das Gerede von "Ebola". Die Ausländer waren so schnell gekommen, dass sie praktisch ihre eigene Botschaft überholten: Lastwagen voller Ausländer in gelben Raumanzügen fuhren durch Dörfer und sammelten Menschen für die Isolierstation ein, bevor diese überhaupt begriffen hatten, warum Isolation nötig war. ... Die Dörfler begannen zu flüstern: Sie stehlen unsere Organe, sie stehlen unsere Gliedmaßen."
Archiv: Vanity Fair
Stichwörter: Ebola, Guinea, Epidemien, Epidemie

La vie des idees (Frankreich), 18.09.2014

In Frankreich hat man sich angewöhnt, die schwierigen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen des Landes als Widerspiegelung des Nahostkonflikts anzusehen, aber es gibt auch wichtige historische Faktoren, sagt die Historikerin Maud Mandel im Gespräch mit Jean-Philippe Dedieu von La Vie des Idées. Der wichtigste ist die Dekolonisierung und der Algerienkonfilkt. Ein wesentlicher Riss entstand, "als die französische Regierung den Juden Anfang der sechziger Jahre erlaubte, die französische Staatsbürgerschaft, die ihnen 1870 durch die Loi Crémieux verliehen worden war, zu behalten und sich in Frankreich als Bürger des Landes niederzulassen. Zu gleicher Zeit erkannte sie den algerischen Muslimen die Staatsbürgerschaft ab und machte aus ihnen faktisch Immigranten. Die Juden wurden in die Gruppe der Europäer aufgenommen oder wieder aufgenommen, und die Muslime in Immigranten verwandelt, obwohl die französische Politik doch über ein Jahrhundert behauptet hatte, sie seien Teil der französischen Gesellschaft."

Medium (USA), 15.09.2014

In die Nachrichten schafft Aleppo es schon lange nicht mehr - seit über zwei Jahren ist die Stadt heftig umkämpfter Schauplatz im syrischen Bürgerkrieg. Für seine eindrucksvolle Reportage hat Matthieu Aikins eine Woche lang eine Gruppe von freiwilligen Rettungskräften begleitet, für die der Ausnahmezustand längst zum Alltag geworden ist: "Wenn sie eine Explosion hören, springen sie in den Wagen, drängen sich zu zehnt und mehr auf seine beiden Sitzbänke und rasen los auf der Suche nach der Einschlagstelle. Mit seiner ausgeleierten Federung brettert das Fahrzeug über die Krater und Schlaglöcher und schüttelt seine Passagiere durch wie Kleingeld in einer Blechdose. Manchmal sehen sie einen Krankenwagen und heften sich an seine Fersen, oft sind sie als erste zur Stelle. Während der Fahrt lehnen sie sich hinaus und fragen Fußgänger, wo die Bombe eingeschlagen ist. An ihren Reaktionen können sie erkennen, ob sie der Stelle näher kommen. Erst ist es nur ein zeigender Arm oder Schulternzucken, doch wenn sie sich nähern, werden die Umstehenden immer verstörter, bis man in ihren Augen schließlich den Schock der Begegnung mit dem Tod oder die Panik über einen verschütteten Nachbarn sehen kann."
Archiv: Medium

Guardian (UK), 16.09.2014

In einer aufwändig bebilderten Reportage führt uns Alex Duval Smith nach Timbuktu, das in Wüstensand und dem politischem Chaos Malis zu versinken droht: "Bouna sagt, der Menschen- und Drogenhandel würde von "anderen Leuten" betrieben. Aber der 23-Jährige kennt detailliert die Preise, die bezahlt werden müssen. "Es ist der Wilde Westen hier. Die Korruption ist total. Ob es bewaffnete Banditen sind, Bürgermeister, Dorfvorsteher, uniformierte Polizisten, Soldaten oder Zöllner - jeder hält die Hand auf und will Bares. Mali hat keine Autorität über sein eigenes Territorium, es überrascht also nicht, das andere eingefallen sind. Hallé Ousman, der acht Jahre Bürgermeister von Timbuktu war, sagt, er bekomme kaum Hilfe aus der Hauptstadt Bamako. "Wir überleben vor allem dank einiger internationaler Spender und vier unserer Partnerstädte: Hay-on-Wye (UK), Sainters (Frankreich), Tempe (Arizona) und Chemnitz."

Außerdem: Sarfraz Manzoor stellt ein neues Buch über afro-amerikanisches Kino und Plakatkunst vor.
Archiv: Guardian

Full Stop (USA), 20.09.2014

Ein fazinierendes Gesprräch führt Tyler Malone mit Paul Holdengräber, dem Leiter des Veranstaltungsprogramms der New York Public Library, über die Kunst des Gesprächs - Holdengräber moderiert in der NYPL eine höchst renommierte Reihe meist auf eine Person beschränkter Unterhaltungen. "Ein Gespräch ist nicht wie Sport, obwohl es durchaus etwas sehr Körperliches, Athletisches hat. Oft sage ich, dass ich auf der Bühne meinen Körper einbringe. Aber es geht nicht um Punkte. Ich versuche nicht einmal, einen Punkt zu machen. Ich versuche zu sehen, was passiert und wie lange wir das Ding am laufen halten können, aber ich versuche nicht zu gewinnen, zu beweisen, vorzuführen. Ich möchte im sokratischen Sinne eine Hebamme sein, ein Porte-parole (wie die Franzose sagen), die Person, die das Wort bringt, die es hervorbringt, entstehen lässt."

Als sein bestes Gespräch betrachtet er seine anderthalb Stunden mit Mike Tyson:


Archiv: Full Stop

IndieWire (USA), 18.09.2014

Steven Soderberghs neue Mini-Serie "The Knick" über ein Krankenhaus im New York des späten 19. Jahrhunderts beschäftigt die US-Medien auch weiter. Insbesondere Cliff Martinez" kontraintuitiv gesetzte musikalische Untermalung in Form wabernder Synthesizerflächen gibt vielen Kommentatoren Rätsel auf. Für den Englischprofessor und Experten viktorianischer Kultur Jed Mayer liegt darin gerade ein Kniff der Serie, wie er schreibt: "Zu den größten Herausforderungen dieser Serie zählt die Art und Weise, wie sie uns über das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart nachdenken lässt. Der Soundtrack unterstützt dies. Der Synthesizer ist selbst ein komplexer Signifikant: Im Film fand er lange Zeit Verwendung, um Zukunftsklänge und -visionen heraufzubeschwören, doch hat ihn die Assoziation mit dem Progressive Rock der 1970er Jahre und Disco eine Retro-Patina ansetzen lassen. Martinez" Soundtrack arbeitet mit dieser Disjunktion, indem er von seinem typischen Minimalismus in kühnere Gefilde abwandert, um so wechselnd die Klangflächen des Berlins der 70er Jahre und der britischen Ravekultur der 90er aufzurufen. Es sagt auch viel aus, dass eines von Martinez" typischsten Instrumenten eine geheimnisvolle Konstruktion namens "Cristal Baschet" ist, dessen Klänge sich aus vibrierenden Stangen und Fiberglas-Becken bilden. Mitte des 20. Jahrhunderts von Komponisten der Avantgarde als Instrument der Zukunft angesehen und genutzt, klingt es heute eher wie ein Relikt in einer Ausstellung aus einer schon lange verlorenen Welt. Martinez" Musik besetzt eine ähnlich aurale Zwischenposition."
Archiv: IndieWire

London Review of Books (UK), 25.09.2014

Zwei neue Elvis-Biografien verleiten Ian Penman dazu, ausgiebigst in Anekdoten vom King of Rock"n"Roll zu schwelgen und über die bizarreren Aspekte von dessen späterem Karriereverlauf nachzudenken. Mächtig ins Staunen gerät er über die Ausmaße der Drogen-Cocktails, die sich Presley in seinen letzten Lebensjahren täglich verabreicht hat. "All dieser schillernde späte Elvis-Kram (...) würde ihm schlussendlich zu einer späten, dunklen Semi-Hipness verhelfen. Punk, weit davon entfernt Presley in die Tonne zu kloppen, brachte ihn als eine Art negativen Toten zurück. Er versinnbildlichte das schlechte Amerika. Er versinnbildlichte dekadente Rockmusik. Er versinnbildlichte, wie krank und entfremdet die Mainstream-Gesellschaft hinter den Vorhängen wirklich war. Mit seiner höhnischen Fassade stellte Punk die letzte geplatzte Blase jugendlicher Aufrichtigkeit dar, einen Aufschrei echter Verwirrung, Schmerzen und Wut. Weit davon entfernt, die altehrwürdige Rockmusik-Geschichte abzulehnen, handelte es sich dabei dennoch um den letzten Halt auf der Linie. Punk und Elvis mögen zwar nicht miteinander in die Kiste gestiegen sein, doch lag in den schleimigen späten 70ern definitiv eine ödipale Spannung in der Luft."

Außerdem: Ein beklommener Andrew O"Hanagan liest in Glenn Greenwalds Buch "No Place to Hide", dass es vor allem Journalisten waren, die Snowdens Enthüllungen über den amerikanischen Überwachungsstaat verurteilten. Pynchon-reif: Frances Stonor Saunders erzählt die verzwickte Geschichte der Veröffentlichung von Boris Pasternaks "Dr. Schiwago" inmitten der Wirren des Kalten Krieges.

New York Review of Books (USA), 09.10.2014

Es gibt keinen Ausweg aus dem schwarzen Loch, in das die arabische Welt nach dem arabischen Frühling hineingeraten ist, meint Robert F. Worth nach Lektüre zweier neue Bücher und vielen Gesprächen in der arabischen Welt. Die säkular-liberale Jugend, von der die die Revolte ausging, wird zwischen den Polen des gewaltsam kollabierenden Nationalismus und dem Islamismus zerrieben. Zugleich können sich Kräfte wie die Muslimbrüder nicht mäßigen, weil sie sich gegen heftigere Konkurrenz profilieren müssen. Mit Blick auf Nordafrika sagt Worth: "ISIS mag außerhalb Syriens oder des Iraks noch keine direkte Bedrohung darstellen. Aber viele seiner Kämpfer werden nach Hause zurückkehren, auch viele große Gruppen von Tunesiern und Ägyptern. Sie werden furchtlos und gut trainiert sein, und da sie jung sind, haben sie noch viele Jahre vor sich."

Außerdem: Anka Muhlstein liest Rhonda K. Garelicks Chanel-Biografie.

Magyar Narancs (Ungarn), 28.08.2014

Die junge Dichterin Lili Kemény (21) arbeitet an ihrem Abschlussfilm als Regisseurin an der Budapester Universität für Schauspiel- und Filmkunst. Ihr erstes Gedichtsband ("Madaram" - Mein Vogel) erschien bereits 2011 beim Verlag Magvető. Im Interview mit Alexandra Kozár erklärt sie, warum sich Dichten und Filmemachen so ähnlich sind: "Was mit Tempo, Farben und Kamerabewegungen erzählt werden kann, besitzt keine exakte Grammatik. Was gewöhnlich als Filmsprache bezeichnet wird, ist der Dichtung nahe: Beide sind assoziativ, persönlich, kathartisch. (...) Das Spiel beim Gedichtsschreiben ist, dass du längere oder kürzere Halbzeilen suchst, in denen diese Sprache zum soliden Kern verdichtet wird. Der eine oder andere gut getroffene, genau konzipierte Satz, der Kern, funktioniert wie ein Virus, wenn er in den Kopf des Lesers gelangt (...) Sicherlich gab es vor uns überall Genies, doch es ist wichtig, dass wir die Literatur des 21. Jahrhundert erschaffen, etwas, das es noch nicht gibt, und nicht nur herausschaufeln, was bereits seit tausend Jahren existiert - nun in die Kulissen des 21. Jahrhunderts gepresst. Dahin muss man sehen, was es noch nicht gibt."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Kemeny, Lili, Ungarn, Solid, Filmkunst

New Yorker (USA), 29.09.2014

Im New Yorker erläutert Jeffrey Toobin anhand des Falles Nikki Catsouras einen wichtigen Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Internetrecht - das "Recht auf Vergessen" betreffend. Catsouras starb 2006 bei einem Autounfall. Fotos von der Unfallstelle fanden damals den Weg auf die Google-Server und in das Wohnzimmer der Familie. Die Gnade des Vergessens musste erst teuer erkauft werden. Anders in Europa, wo der Fall des Anwalts Mario Costeja González, dessen Zwangsversteigerungsdaten weiter im Netz kursierten, auch als der Mann seine Schulden längst bezahlt hatte, dazu führte, dass Google sämtliche Links zu dem Fall deaktivieren musste. In Amerika ist die Informationsfreiheit ein höheres Gut als das Recht auf Privatsphäre und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof, so die Befürchtung, könnte von vielen Ländern als Einladung gesehen werden, den Informationszugang ihrer Bürger zu beschränken: ""Viele Ländern sagen jetzt, dass sie ihre eigenen Regeln für das Internet wollen, die ihren lokalen Gesetzen entsprechen", sagt Jennifer Granick, Leiterin der Abteilung für Bürgerrechte am Stanford Center für Internet und Gesellschaft. "Die Entscheidung markiert den Anfang vom Ende des globalen Internets, wo jeder dieselben Informationen findet, und den Beginn des Internets als nationalem Netzwerk, wo die Regierung entscheidet, welche Informationen die Menschen finden dürfen. Das Internet als ganzes wird balkanisiert und die Europäer werden einen ganz anderen Zugang zu Informationen haben als wir.""

Außerdem: Joyce Carol Oates feiert Martin Amis" Auschwitz-Roman "The Zone of Interest" als Triumph über die Barbarei. Und Dexter Filkins verrät, wie Washington die Kurden im Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak instrumentalisiert.
Archiv: New Yorker

Financial Times (UK), 19.09.2014

In einem sehr interessanten und ausführlichen Artikel beschreibt Andrew Edgecliffe-Johnson, welchen Einfluss Firmen-PR heute auf den allgemeinen Informationsfluss hat. Während die Zeitungen schwächeln, stecken Firmen ihr Geld, das sie früher für Anzeigen ausgegeben hätten, in eigene Webseiten, Blogs und soziale Medien. Dabei bemühen sie sich immer stärker, im Tonfall und Auftreten wie seriöse Nachrichtenorganisationen aufzutreten. ""Firmen-Newsrooms gibt es schon lange, aber sie haben einfach Pressemitteilungen herausgegeben und so versucht, Journalisten zur Berichterstattung zu bewegen", sagt Richard Edelman, dessen Familienfirma eine der größten PR-Agenturen der Welt ist. "Jetzt publizieren wir selbst. Das ist der große Unterschied." Jeder Firma hat inzwischen begriffen, dass sie selbst ein Medium sein kann, sagt er."
Archiv: Financial Times

New York Times (USA), 20.09.2014

Für das Magazin der New York Times rollt Matt Bai den Fall Gary Hart auf. Hart war einst aufstrebender demokatischer Senator in Colorado, nahm zweimal (1984 und 1988) an den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl teil und galt als politischer Visionär, bevor er über eine in den Medien breitgetretene, von ihm allerdings auch naiv gehandhabte außereheliche Affäre stürzte und Sicherheitsberater und Publizist wurde. Für Bai bezeichnet der Fall Hart den Moment in der Geschichte, da die Grenzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben von Politikern und die zwischen Politik und Promi-Kultur fielen - für immer: "Von da an ging es im politischen Journalismus nicht mehr um Agendas oder darum, erhellende Einsichten zu geben, sondern um Charaktereigenschaften und darum, Verleumdungen in die Welt zu setzen … Ein Ansatz, der komplexe Karrieren auf einzelne Verfehlungen reduzierte … In der Folge verleugneten Politiker ihre menschliche Natur und damit auch ihre interessanten Seiten. Jeder blieb schön auf seiner Seite und versuchte, den politischen Gegner zu übertrumpfen, manchmal mit Erfolg für sich selbst, doch selten für den Wähler. Möglich, dass die Medien sensibler wurden für Lügner und Heuchler, doch für schlaue Köpfe wurde es zugleich schwieriger, kontroverse Diskussion anzustoßen. Viele potenzielle Kandidaten mit komplexen Ideen hat das abgeschreckt. Andere, die von Politik keine Ahnung hatten, wurden gewählt, weil von ihnen sowieso nichts Substanzielles zu erwarten war … Hätte Hart damals die Wahlen gewonnen, und es sah ganz danach aus, wären die Bushs nicht ins Weiße Haus eingezogen."

Außerdem: Taffy Brodesser-Akner erklärt, wie sich mit B-Prominenz viel Geld verdienen lässt. Und John Jeremiah Sullivan stellt das absurde Universum des Schriftstellers Donald Antrim vor.
Archiv: New York Times