"Vom Gehen im Eis" lautet der erhabene Titel von Werner Herzogs Tagebuch über seine legendäre Wanderschaft per pedes von München nach Paris, mit der der Regisseur die kranke Lotte Eisner heilen wollte. Kein Opfer, eine Erlaubnisverweigerung sah er darin: "Der Eisnerin wird mit physischem Nachdruck die Erlaubnis entzogen, zu sterben.", sagt er vor kurzem im Interview mit der Zeit, das mit "Herr der Schmerzen" passend pathetisch überschrieben war. In der Berliner Zeitung macht Harald Jähner das deutsche Grimmig-Schöne als Ursache für Herzogs jüngste Popularität in den Staaten aus. Mit Kinski machte Herzog Filmemachen zum Gewaltakt, das berühmte Schiff-über-den-Berg findet allüberall Erwähnung - keine Frage: Ein Wahnsinniger steht der Jury vor.

Und dann das: Herzog zeigt sich auf der eröffnenden Pressekonferenz als versöhnlich väterliche Figur. Er freue sich sehr auf die Berlinale und jedem Film begegnet er, begegnet die Jury mit zugewandter Sympathie. Dass sie vorab schon was gesehen haben - Michael Winterbottoms "The Killer Inside Me" - erläutert er erklärend, präzise, knapp, fast schon entschuldigend: Die letzten Filme des Wettbewerbs müssen sie zuerst sehen, damit am Ende Zeit zum Überlegen bleibt. An anderer Stelle steht er Jurorin Renée Zellweger hilfreich zur Seite: Die hatte eine Frage nicht recht verstanden. Soweit es ein Podium zulässt, nimmt Herzog sie sich unter vier Augen zur Brust, erläutert, was von ihr gewusst werden will, wägt leise ab. Trotz Mikro auf dem Pult hört man kaum, was er sagt.

Mit "Lebenszeichen" war er zuerst auf der Berlinale. Darin begehrt ein Wehrmachtssoldat zum Ende hin mit Leuchtraketen hinter einer Festung auf, Zeichen eines delirierenden Wahnsinns. Damals - "als junger Kerl aus Bayern", wie Herzog sich beschreibt - hatte er im Furor über die mangelnde Publikumsnähe des Festivals kurzerhand ein Kino in Neukölln angemietet, um Filme zu zeigen. Heute, sagt Herzog, macht die Berlinale das von ganz alleine: Mit "Berlinale goes Kiez" ist das Festival nun auch in Vierteln jenseits des Potsdamers Platz zumindest behutsam unterwegs. Seinerzeit - bei einer Ausstellung vor ein paar Jahren gab es Aufnahmen von Herzogs entrüsteten Deklamationen zu sehen - hatte Herzog noch für Aufführungen in "proletarischen Vierteln" gewütet.

Herzog heute: Altersmilde, gewitzt, ein bisschen ein Schalk, der sich in manchen Momenten als "Präsident" fast etwas unwohl zu fühlen scheint.

Wenn man den Saal verlässt, kann man selber vom Gehen im Eis berichten. Der Potsdamer Platz ist rutschig verplombt. Nicht mehr Filmkritikerinnen in Paris müssen nun errettet werden, die Filmkritiker selbst sind es nun, die beim Spurt zur nächsten Vorführung um ihre Gesundheit bangen müssen.