Sentimentales Nachspiel

Helles Aufscheinen einer Tugend ohne Namen - Deutschland-Argentinen 5:3

Die Kolumne zur Fußball-WM 2006. Von Georg Klein
01.07.2006. Folge 5: Beharrlichkeit? Willenskraft? Durchhaltevermögen? Seelenstärke? Merkwürdig, daß wir für diese Tugend, die die Anderen nicht selten für typisch deutsch halten, im Deutschen keinen rechten Namen haben.
Vielleicht hätten wir - wie ganz am Anfang dieser langen-langen Weltmeisterschaft - das Radio hinzuschalten sollen. Vor dem ersten Gruppenspiel unserer Nationalmannschaft waren wir auf die Idee verfallen, statt des Fernsehtons die Rundfunkreportage zu den Bildern laufen zu lassen. Aber die minimale zusätzliche Verzögerung, die die Radiokommentatoren regelmäßig zwischen dem Geschehen und seiner Beschreibung entstehen ließen, weil sie auf die Blindheit ihrer Zuhörer vertrauen dürfen, diese Zehntelsekunden des rhetorischen Anlaufs lenkten uns als ein kurioses Nachhinken dann doch zu sehr von den Bildern ab.

Gestern aber wäre vielleicht genau diese mediale Kopplung die Lösung gewesen, um etwas Unsichtbares kenntlich zu machen. Wir spürten es von Anfang an, aber wir sahen es nicht wirklich. Und die chronisch einfallslose Bildregie des Sportfernsehens tat nichts, um uns den grauen Star für das Empfundene, aber Nicht-Geschaute zu stechen.

Wer je selbst in einer Mannschaft gespielt hat oder sich als Zuschauer auf eines der hölzernen Geländer gestützt hat, die das Spielfeld der kleinen Vereine begrenzen, weiß, wie das Gemeinte in Kleinigkeiten seinen Ausdruck findet. Schon die Art, wie ein Einwurf ausgeführt wird, kann es verraten. Und wenn sich zwei oder drei mögliche Schützen darüber verständigen, wer einen tornahen Freistoß ausführen wird, ist es an den Mienen und Gesten abzulesen.

Gestern aber mußten wir bis zum Elfmeterschießen warten, um zu sehen, was eigentlich schon 120 Minuten auf der Hand lag: Die Willensstärke des südamerikanischen Starteams hatte in der Beharrlichkeit der jungen deutschen Mannschaft die Klippe gefunden, an der sie zerbrechen sollte.

Beharrlichkeit? Willenskraft? Durchhaltevermögen? Seelenstärke? Merkwürdig, daß wir für diese Tugend, die die Anderen nicht selten für typisch deutsch halten, im Deutschen keinen rechten Namen haben.

Sogar als einigen argentinischen Spielern nach dem alles entscheidenden Elfmeter die Nerven durchgingen, bewies das deutsche Team just dieses besondere Vermögen und verhinderte, daß es zu einer häßlichen Rauferei kam. Halten wir das helle Aufscheinen dieser Tugend einen Moment lang fest, bevor sie wieder in ihrer eigenartigen Namenlosigkeit versinkt. Es ist jene Konstanz des Gemüts, die ein Kollektiv seinen Einzelseelen gelegentlich abverlangen muß. Es ist jene zuverlässige Festigkeit, die auch von uns erwartet wird, sobald uns ein mehr oder minder ernstes Spiel des Lebens die Gnade des Unentschiedens verbietet.
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