Außer Atem: Das Berlinale Blog

Momente der Freiheit: Drei Filme von Yasujiro Shimazu (Forum)

Von Lukas Foerster
12.02.2010.
Ein Mann in seinem Appartment, vor einem Fenster, durch das man weit in die Stadt blicken kann. Ein Blick nach draußen; ein Zug fährt von rechts nach links durchs Bild. Ein zweiter Blick; ein zweiter Zug, diesmal von links nach rechts. Ein dritter Blick; ein dritter Zug, jetzt wieder von rechts nach links. Ein vierter Blick; diesmal zwei Züge, einer von rechts, einer von links. Mit einer spielerisch kontemplativen Situation, in die sich unter die Züge noch ein Frauenbademantel mischt, beginnt "The Trio's Engagement", einer von drei Filmen des japanischen Regisseurs Yasujiro Shimazu, die das Forum dieses Jahr in einem Spezialprogramm präsentiert. Die Szene ist zweideutig: Auf die falsche Fährte führt sie, weil das, was folgt, kein ruhiges Familiendrama mit antidramatischen pillow shots ist, wie man es von Shimazus eisenbahnversessenem Zeitgenossen Yasujiro Ozu kennt, sondern eine schwungvolle romantische Komödie. Auf die richtige Fährte führt sie, weil auch der Rest des Films einem spielerischen Impuls gehorcht und Shimazus Kino seinen Figuren immer wieder Momente der Freiheit gönnt.



Es ist so eine Sache mit den Regisseuren des klassischen japanischen Kinos; man kennt ohnehin nur wenige und neben den Fixsternen Ozu, Mizoguchi und Kurosawa bleibt wenig Platz. Zyklisch werden alle paar Jahre neue Namen vor dem Vergessen bewahrt, nur um alsbald wieder zu verschwinden: Mikio Naruse (noch der Bekannteste unter den Unbekannten), Heinosuke Gosho, Hiroshi Shimizu, Sadao Yamanaka, Keisuke Kinoshita. Alles Namen, die zumindest für Liebhaber - und so wenige Liebhaber hat das klassische japanische Kino nicht - vor allem Versprechen darstellen, die immer nur sehr unvollkommen eingelöst werden können: Allzu viele Filme all dieser Regisseure sind bis heute und vermutlich für immer verschollen, das japanische Kino der zwanziger und dreißiger Jahre bleibt gerade in seiner nur sehr prekären Sicht- und Rekonstruierbarkeit ein zentrales Objekt für die Cinephilie. Ein Schatz, dem man nachjagt im Wissen, ihn immer nur sehr unvollständig besitzen zu können. Denn natürlich ist jeder Regisseur ein Planet für sich. Ein Planet voller wundersamer Bilder und Töne, die zwar oft vertraut erscheinen, aber auf eine Art, der man selbst wiederum nicht ganz vertrauen kann. (Eine Nebenbemerkung: Das gilt natürlich nur solange, wie man nicht darauf aus ist, im japanischen Kino dem absolut Fremden zu begegnen; wenn man das vorhat, dann funktioniert es auch, ist aber nie mehr als eine Self-fulfilling prophecy und wahrscheinlich die schlechteste Art, sich auch nur irgendeinem Film zu nähern.)



Das Forum rückt mit Yasujiro Shimazu einen neuen Planeten in das deutsche Gesichtsfeld. Shimazu wird in der japanischen Filmgeschichtsschreibung mit dem Genre der Alltagsdramen, den sogenannten Shomin-geki, in Verbindung gebracht. Genau genommen gilt er sogar als ihr Mit-Erfinder und - gemeinsam mit Ozu, Naruse, Mizoguchi und Gosho, allesamt in den dreißiger Jahren beim Studio Shochiku unter Vertrag - als einer der großen Meister dieser Form. Seinen letzten Film drehte er 1944, ein Jahr vor seinem recht frühen Tod, der vor allem anderen seinen Nachruhm verhindert haben dürfte: Als ein europäisches Publikum in den fünfziger Jahren japanische Regisseursnamen zu lernen begann, war Shimazu schlicht und einfach nicht mehr dabei.



Lange galt sein Werk als fast komplett verloren. Inzwischen sieht die Archivlage etwas besser aus (wie die NZZ 2005 im Friaul erfuhr). "Nippon Modern: 1930s" heißt das Programm, in dem letztes Jahr in Tokio neben anderen Filmen sieben Arbeiten Yasujiro Shimazus gezeigt wurden. Drei davon sind jetzt in Berlin zu sehen. Im Zentrum von "Nippon Modern" steht der Kamata-Stil, mit dem das Studio Shochiku schon ab den späten zwanziger Jahren, vor allem aber seit dem Wechsel zum Tonfilm in den frühen dreißiger Jahren das japanische Kino erneuerte. Formal sind die Filme nahe an Hollywood und dessen analytischer Montage. Der Kamata-Stil ist aber zuerst eine Frage des Inhalts. Denn die Moderne, das ist diesen Filmen vor allem der Westen: Europa und Amerika; genauer deren Populär- und Hochkultur. Immer wieder stimmen die jungen Männer und Frauen nicht nur bei Shimazu, sondern auch in den Filmen Ozus oder Naruses aus den dreißiger Jahren, englische und gelegentlich auch deutsche Lieder an. In "Our Neighbor, Miss Yae" (in Berlin nicht zu sehen) schwärmt die Heldin für einen Nachbarn, weil er dem Hollywoodstar Frederic March ähnelt. In "The Lights of Asakusa" geht es um eine Theatertruppe, die japanisierte Versionen europäischer Opern aufführt, in "So Goes My Love" dringt im Mietshaus aus dem Nebenzimmer Bach, auf der Flöte vorgetragen, im Kino schaut man sich Leni Riefenstahls "Olympia"-Film an (die Frauen begeistern sich für die athletischen Männerkörper, die männliche Begleitung langweilt sich), in "Our Neighbor Miss Yae" diskutiert man über Baseball.

Noch aber schwimmen in dieser Welt, deren Rückseite im realen Japan der Dreißiger Jahre, das darf man angesichts solcher Filme nicht vergessen, eine politische Umwälzung unter antidemokratischen, rechtsnationalistischen und militaristischen Vorzeichen war, nicht alle wie Fische im Wasser. Die neue kulturelle Ordnung schafft Unsicherheiten. Die westliche Oper in "The Lights of Asakusa" ist ein verrufener Ort. Wer sich da blicken lässt, dem kann man nicht ganz über den Weg trauen. Anderswo sieht man die neue japanische Jugend als Potential, aber man weiß nicht recht, wie es auszuschöpfen ist. In "The Trio?s Engagement" will ein Kaufhaus junge, moderne Kundschaft anlocken, die entsprechenden Bemühungen wirken allerdings eher hilflos.



Auch gegendert ist "Nippon Modern": das Modern Girl bekommt, gerade in den Filmen Shimazus, Oberwasser, der Modern Boy muss sehen, wo er bleibt. In zwei der drei Filme stehen Männer im Zentrum, die sich zumindest zeitweise von ihren Lebensgefährtinnen aushalten lassen müssen. Filme über männliche Angst sind das deshalb aber noch lange nicht. Alle drei Filme, die in Berlin zu sehen sind, spielen zu weiten Teilen in kleinen Appartmentwohnungen, in denen die jungen Männer und Frauen ihre frisch gewonnene Freiheit vom Elternhaus ausleben. Das Ergebnis des sozialen Experiments, das dieser Lebensstil darstellt, bleibt in den Filmen in der Schwebe. Aber im Großen und Ganzen herrscht Optimismus vor. Besonders schön ist nicht nur in dieser Hinsicht "So Goes My Love". Er ist in formaler Hinsicht zurückhaltender, als beiden anderen, komödiantischeren Filme, und spielt fast ausschließlich in und vor einem einzigen Mietshaus. Der Generationenkonflikt bewegt sich hier eine Stunde lang auf ein melodramatisches Finale zu, dem dann aber in den letzten Filmminuten die Liebenden auf bezaubernde Art und Weise entkommen. Das Melodram verschwindet damit aber nicht einfach aus dem Film - es wird statt dessen von einem anderen Paar im Mietshaus ausagiert, das sein Leben im Hintergrund der Hauptprotagonisten weiterführt.

Was ein Shimazu-Film ist, kann man nach dieser kleinen Reihe nicht wirklich sagen, zu unterschiedlich sind sie, außerdem entstammen sie alle derselben Werkphase in den späten dreißiger Jahren. Aber es gibt in allen drei Filmen Momente, die eine Ahnung davon geben. Shimazus Filme sind nie streng, manchmal eher verspielt, durchsetzt mit dynamischen Montagesequenzen, beispielsweise beim nächtlichen Ausflug in die Stadt mit ihren Bars und Tanzcafes. Das Shimazu-Kino scheint zuallererst ein großzügiges Kino zu sein, ein Kino, das seinen Figuren Freiheiten zur Entfaltung lässt, die sie in anderen Filmen selten oder nie erhalten. Dies äußert sich in kleinen, expressiven aber in keiner Weise handlungstragenden Gesten. Etwa, wenn einer der drei Männer in "The Trio's Engagement" Horn spielt und dabei in seinem Überschwung manchmal auch ziemlich seltsame Töne produzieren darf. Oder wenn zwei Opernschauspielerinnen in "The Lights of Akasuka" einem Mann wild hinterherpfeifen. In einer der schönsten Szenen, die man in diesem Jahr auf der Berlinale sehen wird, dreht die begehrte Tochter des Kaufhausbesitzers in "The Trio's Engagement" auf einem Dach hoch über der Stadt (hierhin zieht es die Filme immer wieder: über die Straßen, gen Himmel, in die Freiheit), nachdem ihr Verehrer sie verlassen hat, beschwingt Pirouetten. Sie ist alleine, niemand beobachtet sie. Nur wir.

Yasujiro Shimazu: "Ai yori ai e - So Goes My Love". Mit Sano Shuji, Takasugi Sanae, Takamine Mieko, Mizushima Ryotaro, Kawamura Ryokichi, Sakamoto Takeshi, Katsuragi Fumiko. Japan 1938, 56 Minuten. (Vorführtermine)

"Asakusa no tomoshibi - The Lights of Asakusa". Mit Uehara Ken, Takamine Mieko, Natsukawa Daijiro, Nishimura Seiji, Sugimara Haruko, Tshubouchi Yoshiko. Japan 1937, 77 Minuten. (Vorführtermine)

"Konyaku sanbagarasu - The Trio's Engagement". Mit Sano Shuji, Uehara Ken, Saburi Shin, Takamine Mieko, Miyake Kuniko, Ida Choko. Japan 1937, 66 Minuten (Vorführtermine)