Auch Russland-Experten und Geheimdienste haben nicht geglaubt, dass Putin tatsächlich die gesamte Ukraine besetzen würde,
betont Ben Judah. Fast alle westlichen Akteure gingen davon aus, dass die Oligarchen
Wladimir Putin von einem Krieg abbringen würden, wenn die Sanktionen nur hart genug ausfielen. Aber im Kreml regiert
keine Clique mehr, meint Judah, sondern Putin allein: "Wie konnte es so vielen entgehen, dass sich Putin und seine Herrschaft verändert hatten? Zum einen ist Putin schon so lange an der Macht, dass viele Analysen einfach in der Vergangenheit stecken geblieben sind. Die Vorstellung von einem Russland, das
von Oligarchen beherrscht wurde, erstarrte zu einer Legende und hielt nicht Schritt mit ihrer effektiven Liquidierung als Klasse. Es war auch nicht förderlich, dass der Westen
viele russische Milliardäre aus Davos kennt, aber nicht die Funktionäre der Staatssicherheit, die sich zunehmend jenem religiösen Nationalismus verschrieben haben, der offenbar auch Putin ergriffen hat. Auch die Pandemie machte es Außenstehenden schwer, Putins offensichtliches
Abgleiten in die paranoide Isolation zu bemerken; er hat sich in den letzten Jahren offenbar durch einen ultrastrengen persönlichen Lockdown und soziale Distanzregeln abgeschottet, was sein
Urteilsvermögen beeinträchtigt haben könnte. Die absurd langen Tische, an denen Putin bei Treffen sitzt, sind zu einem Symbol seiner Abgeschiedenheit geworden (und zu einem ziemlich guten Meme). Der französische Präsident Emmanuel Macron berichtet, er habe ihn Anfang Februar als einen 'völlig anderen Menschen' empfunden als bei seinem letzten Treffen im Jahr 2019. Und schließlich ist die
westliche Russlandanalyse gescheitert, weil sie von der russischen Analyse der eigenen Gesellschaft abhängt, und die ist noch katastrophaler gescheitert. Hier hat eine durch jahrzehntelange Propaganda abgestumpfte Expertenklasse unterschätzt, wie sich die systematische Zerschlagung des russischen Journalismus auf ihre Fähigkeit auswirkt, zu erfahren, was im Kreml vor sich geht."
Fred Kaplan
zitiert amerikanische Militärexperten, die sich über die wirre Strategie der russischen Truppen mokieren. Das können sie durch Brutalität schnell wettmachen, weiß Kaplan, betont aber zwei Dinge: Die russsiche Armee besteht in der Hauptsache aus
schlecht ausgebildeten, schlecht behandelten und schlecht motivierten Wehrpflichtigen. Und die Kommandierenden mögen
keine Kreativität bei Untergebenen.