Magazinrundschau - Archiv

Pitchfork

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Magazinrundschau vom 06.02.2024 - Pitchfork



Für solche Musikerkundungen werden wir Pitchfork in Zukunft sehr vermissen: Kieran Press-Reynolds taucht tief ein in die Welt des "Shitpost Modernism", eines erneut im tiefen Unterleib des World Wide Webs geborenen Mikro-Musikgenres, bei dem - dem ersten Eindruck nach - so viele Fragmente wie möglich aus den (Un-)Sinnzusammenhängen von Memes, Image Boards, Popmusik und Social-Media-Abgründen an die Wand geworfen werden, um zu sehen, was kleben bleibt. Einen Eindruck davon vermittelt das oben eingebundene Video. Von ganz besonderem Reiz ist diese Ästhetik "für Zoomer, die mit einer Obsession für die Cartoonserie 'SpongeBob' aufgewachsen sind und deren gemeinsames Humorverständnis auf einem vom Netz gut durchgebratenen Surrealismus fußt. ... Für diesen Strom an befremdlicher Brillanz gibt es moderne Vorgänger: dadaistisch-verlallten Cloud Rap, der schäbige Glanz von Vaporware, 'Pisscore', Myspace-Nutzer und Blogger, die parodistische Genre-Bezeichnungen prägen, jugendliches Youtube-Glitchgraffiti. Doch anders als offensichtlich komödiantische Musik, werden die Shitpost Modernisten nicht vornherein offen als 'witzig' geführt. Ihr Humor und die Innovation sind eher verschleiert: Sie finden sich in der schlechten Struktur der Tracks, dem mutierten Gesang, dem Schock einer surrealen Gegenüberstellung von hoher mit niedriger Kultur. ... Statt zu versuchen, einfach jedem und den Kritikern zu gefallen, albert eine Masse junger Musiker einfach hemmungslos herum. Das Ergebnis: ein Fest der Durchgeknalltheit, maßgeschneidert für die Gehirne der Zoomer, die in einem Bottich des digitalen Absurdismus (nicht) herangereift sind. ... Der beste Shitpost Modernism scheint die Zeit anzuhalten. Wir leben in einer Zeit der Giga-Akkumulation: Große, monolithische Alben sind im wesentlichen von der Monstrosität von 25 Tracks umfassenden Datenhaufen abgelöst worden, die möglichst viele Streams erzielen sollen. Die tägliche Netzerfahrung umfasst einen hirnverglasenden Ritt zwischen Tweets und TikToks, die wir sofort wieder vergessen. Die Musiklandschaft hat sich in nischigen Nano-Winkeln dezentralisiert. Aber wenn einem so etwas Absurdes wie ein bizarr perfektes Mashup von PinkPantheress und Radiohead über den Weg läuft, dann schafft dieses einen immer seltener werdenden monokulturellen Moment für die jüngere Generation. Es ist so irre und klingt so neu, dass man es einfach nochmal abspielen und dazu glucksen muss."

Magazinrundschau vom 22.08.2023 - Pitchfork

Der Doppelstreik in Hollywood wirkt sich auch auf Musiker und Komponisten aus, denen die Aufträge kontinuierlich wegbrechen, schreibt Marc Hogan in seiner Reportage. Bei einigen sind die Rücklagen aufgebraucht, hier und da musste bereits Assistenten gekündigt werden. "Da die Musiker gezwungen wurden, die Dollars, die sie einst aus Albenverkäufen erhielten, gegen die Cent-Bruchteile einzutauschen, die das Streaming für sie abwirft, wurde das Lizenzgeschäft von Musik für Film und Fernsehen als Einnahmequelle immer wichtiger. Der Recording Industry Association of America zufolge generierten in visuellen Medien platzierte Songs im letzten Jahr 2,4 Prozent des gesamten Musikumsatzes in den USA: 382,5 Millionen Dollar gegenüber 306,5 Millionen Dollar im Jahr zuvor. ... Werbeclips, Realityshows, Zeichentrickserien und Videospiele sind vom Streik zwar generell ausgenommen und auch gewisse unabhängige Projekte, wie etwa Filme des Indie-Schwergewichts A24, sind vom Streik freigestellt. Es sind also nicht alle Lizenzmöglichkeiten versperrt. Aber wie ein Widerhall der ersten Covid-Tage sehen derzeit viele in der Musikgemeinde für eine unbestimmte Zeit Einkunftseinbußen entgegen. Doch anders als bei der Pandemie folgt diese Ausfallzeit in grausamer Ironie dem Umstand, dass Hollywood-Autoren und -Schauspieler für ihre Rechte kämpfen, wie es Musiker selbst nicht in Anspruch nehmen können. Auch nach dem Streik könnte sich eine weitere Abschwächung zeigen, wenn sich, wie einige Beobachter anmerken, der Boom qualitativ hochwertiger TV-Serien des letzten Jahrzehnts als nicht weiter tragfähig entpuppt. 'Die Branche ist gerade drauf und dran, komplett neu definiert zu werden', sagt Musiksupervisor Maggie Phillips. 'Peak TV ist am Ende.'"

Magazinrundschau vom 28.02.2023 - Pitchfork

Felipe Maia betrachtet den Boom des lateinamerikanischen Reggaeton in Spanien. Dort ursprünglich verpönt als kriminelles und übersexualisiertes Genre, belastet von Vorurteilen gegenüber Latinos, wirft sein enormer Erfolg nun Fragen nach kultureller Aneignung auf: "Im Laufe der Jahre schlich sich Reggaeton in die Sozialleben der privilegierten spanischen Jugend, was auf den unbestreitbaren Aufstieg von Künstlern wie Daddy Yankee und Bad Bunny und dem Vordringen des Genres in den Pop-Mainstream zurückzuführen ist. Von schicken Partys auf Madrids Pferderennbahn zu Maria Pombos auf Instagram organisiertem 'Suave Fest', die Beliebtheit von Reggaeton in den wohlhabendsten Kreisen des Landes hat ihm geholfen, seinen Platz an der Spitze der Charts zu halten - was die Beziehung des spanischen Reggaeton zu den karibischen Wurzeln des Genres weiter verkompliziert. Laut Nina Vázquez, einer puertoricanischen Pädagogin und Reggaeton-Historikerin … gibt es für europäische Künstler einen schmalen Grat zwischen dem Aufbau fruchtbarer Verbindungen zum Reggaeton und der Verwischung seiner Geschichte. Vázquez sagt, dass Rosalía, als sie bei den MTV VMAs 2019 in der Kategorie 'Best Latin' gewann, genauer auf die Wurzeln des Genres hätte eingehen können. 'Ich liebe Rosalía ... aber sie hätte sagen können: 'Danke dafür, aber das ist nicht meine Kultur'', sagt Vázquez. In der eigentlichen Rede sagte Rosalía: 'Ich bin so glücklich, hier zu sein und meine Heimat und meine Kultur zu repräsentieren.'"

Magazinrundschau vom 05.04.2022 - Pitchfork

Mehr noch als in Deutschland könnte man beim Blick in die USA den Eindruck gewinnen, dass die Pandemie geschlagen sei. Insbesondere die Musik- und Konzertbranche schwenkt zielstrebig in den Status quo Ante zurück, berichtet Nina Corcoran. Doch insbesondere im Independent-Segment mehren sich die Stimmen von Künstlern, die ihre Fans inständig darum bitten, auf Konzerten weiterhin Maske zu tragen - dies auch im Zuge des SXSW-Festivals in Austin, einem Großereignis der US-Musikszene, das sich Mitte März zum Superspreader ausgewachsen hat, nach dem zahlreiche Festivalarbeiter und Musiker über eine Covid-Erkrankung klagten. "Auch Künstler wie Mitski und Justin Bieber hatten kürzlich positive Tests in ihrem Tour-Team. Verschobene Konzerte und die mögliche Aussicht auf Tourausfälle waren die rasche Folge. Für einen Künstler mit einer langen Karriere und anhaltendem Ruhm wie Bieber sind Ausfälle verkraftbar. Für aufstrebende Bands und unabhängige Musiker aber sind Touren absolut unverzichtbar, um eine Karriere aufzubauen. Oft bilden sie auch die zentrale Säule ihres Einkommens. Wenn diese Musiker sich Covid-19 einfangen, gehen potenziell hunderte, wenn nicht tausende Dollar den Bach runter." Doch "wie schwierig ist es für Musiker, Maskenauflagen auf eigene Faust durchzusetzen, wenn ein Veranstaltungsort nicht willens ist, dies einen Abend lang auf die eigene Schulter zu nehmen? In einer idealen Welt könnte die Musikbranche von der Filmindustrie lernen. Für Fernseh- und Filmsets haben die Firmen Leute angestellt, die darauf achten, dass die für eine sichere Arbeitsumgebung nötigen Covid-Regeln beachtet werden - dazu zählen unter anderem Tests, Symptomkontrolle und Vorsichtsmaßnahmen mit Masken. Im letzten Sommer erzählte Eric Frankhouser, der langjährige Tourmanager der Band Wilco, dass er unabhängige Leute angestellt hat, die bei den großen Outdoor-Shows mit Sleater-Kinney 'den Backstage-Bereich überprüfen und sicherstellen, dass alle Maske tragen'. Bands wie die beiden, die auch größere Hallen füllen, können es sich leisten, diese Art professionellen Sicherheitsmanagements anzuheuern. Bands und Künstler, die ohne Agent auf eigene Faust touren, können dies typischerweise nicht."

Magazinrundschau vom 08.03.2022 - Pitchfork

Geht es um die großen Synthesizer-Experimente der siebziger Jahre, spricht man meist von Progrock-Exzessen, Krautrock-Experimenten oder eigenbrötlerischen Nachtsessions in den öffentlich-rechtlichen Kunsthöhlen von BBC bis WDR. Dass daraus Popmusik mit Schwung in der Hüfte wurde, ist auch der klangforschenden Lust des Stevie Wonders zu verdanken, der sich Anfang der Siebziger von seinem Angestelltendasein in der Motown-Industrie emanziperte, schreibt Jayson Greene. Ein Erweckungserlebnis war für ihn das Album "Zero Time" der TONTO's Expanding Head Band, die aus den Studiotechnikern Malcolm Cecil und Bob Margouleff sowie dem Synthesizer TONTO bestand. Dieses Ungetüm "wog gut eine Tonne und wurde von gut 40 Metern Kabel aus einem Boeing Jet und einer Apollo-Mission zusammengehalten. Die windumtosten, Science-Fiction-artigen Instrumentals auf 'Zero Time' waren dazu gedacht, Klangmöglichkeiten zu erträumen, und Wonder klopfte als erster an die Tür. Er hatte Musik im Kopf und intuitiv musste er gespürt haben, dass die Instrumente auf diesem Album ihm den Schlüssel boten, um diese Sounds in die Freiheit zu entlassen. ... Da Wonder blind war, verließ er sich auf Cecil und Margouleff, die Knöpfe zu drehen und Pegel anzupassen. Wann immer sie einen vielversprechenden Sound gefunden hatten, stürzte sich Wonder darauf und schrieb im Nu einen Song, den sie dann hektisch aufnahmen ... Was an diesem Wochenende im Frühling 1971 seinen Anfang nahm, würde die Art, wie wir Klang in der populären Musik verstehen, im folgenden so maßgeblich verändern, dass wir auch heute noch dazulernen und den Folgen nachspüren. Um das berühmte Wah-Riff zu schaffen, mit dem 'Superstition' auf 'Talking Book' (1972) beginnt, verband Wonder ein Wah-Pedal mit seinem Clavinet-Keyboard, was noch nie jemand zuvor getan hatte. Der Ton, den er dabei hervorbrachte, war dick genug, um darin einen Löffel stehen zu lassen, und gilt im Allgemeinen als Antriebmotor auf dem Weg zum Funk. Aber er spornte auch gut eine Dekade musikalischer Innovationen an." Diese Einladung zum Tanz nehmen wir gern an:

Magazinrundschau vom 14.12.2021 - Pitchfork

2021 war das Jahr des Ambient Jazz, meint Philip Sherburne und legt unter anderem mit dem kollaborativen Album "Promises" von Floating Points, Pharoah Sanders und dem London Symphony Orchestra (mehr dazu bereits hier in unserer Kulturrundschau) sowie Nala Sinephros Debüt "Space 1.8" ziemlich überzeugende Beispiele vor, die er zudem im Kontext der zwar reichen, wenn auch regionalen und zeitlichen Konjunkturen unterworfenen Geschichte dieses Genre-Amalgams verortet (schon alleine wegen der vielen aufgelisteten Beispiele lohnt es sich im übrigen, parallel zum Lesen den Streamingdienst der persönlichen Wahl mitlaufen zu lassen). Die Ansicht, dass dieser Rückzug in die Klangtexturen eine künstlerische Reaktion auf die Coronapandemie darstellen soll, lässt Sherburne zwar nicht für alle aufgeführten Beispiele gelten - wohl aber dürfte die Hörkultur, in der sich diese Werke nun entfalten, stark damit zusammenhängen. Als Beispiel führt er Nicolás Jaars Komposition "Weavings" an, die erstmals im Lockdown gestreamt, später aber auch vor Publikum auf die Bühne gebracht wurde. "Im Publikum war ich tief beeindruckt davon, wie das Stück Geduld in den Vordergrund stellt - nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Musiker. Alle elf Performer befanden sich über die ganze Dauer des Konzerts auf der Bühne und doch spielte jeder von ihnen nur 21 Minuten. Den Großteil verbrachten sie, wie das Publikum, schweigsam. Vor dem Hintergrund, dass die Komposition während der Quarantäne entstand, empfand ich die Geduld des Kollektivs als ganz besonders bewegend. Sie regte mich zum Nachdenken darüber an, wie wir alle in den vergangenen zwei Jahren mit der Geduld hadern mussten und welche Opfer wir dem Allgemeinwohl brachten. Die Zurückhaltung, aus der 'Weavings' besteht, ist mehr als nur eine ästhetische Entscheidung; sie ist ein Ausdruck der Solidarität, des Mitgefühls und sogar der Ethik." Hier eine Hörprobe:

Magazinrundschau vom 13.07.2021 - Pitchfork

Während der überwältigende Teil der USA im Sommer 1969 den Blick hoch zum Mond richtete, fand in New York über mehrere Wochen das Harlem Cultural Festival statt - ein Festival mit schwarzen Musikern für ein zum großen Teil schwarzes Publikum. Dass dabei auch zahlreiche Stunden Filmmaterial entstanden sind, war bislang kaum bekannt. Roots-Schlagzeuger Ahmir "Questlove" Thompson hat das Material gesichtet und mit "Summer of Soul" einen 90-minütiges Filmdokument daraus montiert, beziehungsweise "kuratiert", wie er sagt. Mit Pitchfork spricht er über den Stellenwert des Festivals in der Geschichte der schwarzen Musik der USA, den er mit dem Hinweis auf den "Woodstock"-Film, der das Hippie-Festival erst zur Legende machte, illustriert: "Ich frage mich: Wäre dieser Film früher erschienen und vergleichbar ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und mit Relevanz aufgeladen worden, hätte sich das in meinem Leben niedergeschlagen? Das letzte Jahr war erschöpfend: Jede Plattform, jedes Vehikel, jede Serie und jeder Film befasst sich mit Folterpornos, mit schwarzem Schmerz. Ich weiß, es geht dabei darum, der Geschichte gegenüber authentisch zu sein, aber darin liegt auch die Geschichte, dass wir Schmerz gegenüber eine hohe Toleranz haben. Mir war gar nicht klar gewesen, wie wichtig es ist, das mit schwarzer Freude in die Balance zu bringen." Um Schmerz geht es aber auch im fertigen Film: "Ich sprach mit Rockgitarrist Billy Davis von 5th Dimension darüber: 'Ich habe Dich nie beim Singen von Predigergospels gehört. Ich habe nie gewusst, dass Dein Bariton brummt.' Und als dann Marilyn McCoo damit begann, sich zu öffnen, wie schmerzhaft es gewesen ist, auf beiden Seiten des Zauns spielen zu und von beiden Seiten kritisiert zu werden - nicht schwarz genug, nicht weiß genug -, da hat mich das echt getroffen. Als jemand, der mal in der Vorband für die White Stripes auf Tour war, nur um danach einen Monat mit Lauryn Hill unterwegs zu sein, konnte ich das gut nachvollziehen. Man musste das Register wechseln." Ein paar fantastische Eindrücke des Films verschafft der Trailer:

Magazinrundschau vom 08.06.2021 - Pitchfork

Der Begriff "Asian American" war einst ein Schlagwort der US-Studentenbewegung der 60er, um das missliebige Wort "oriental" als Bezeichnung wegzubekommen - aber längst hat der Begriff seine eigenen Tücken entwickelt, erklärt Cat Zhang (sehr sehenswert zu dieser Problematik ist auch die aktuelle Sendung von John Oliver): Der Begriff vereint völlig unterschiedliche Migrationsgeschichten und -wellen eines ganzen Kontinents und verdeckt innerhalb der auf diese Weise homogenisierten Communitys erhebliche Dynamiken und Unterschiede. Und selbst wohlmeinende Medien, die "Asian American Music" feiern und zelebrieren wollen, tappen dabei in die Exotismusfalle und präsentieren dann lediglich Musik von Menschen, deren von Migration geprägte Familiengeschichten man ihnen eben buchstäblich im Gesicht ansieht, ohne auf die Spezifität von "Asian American Music" einzugehen. Ein Hot Spot, an dem sich asiatische, afrikanische und amerikanische Musik zusammentaten, waren zum Beispiel die Jazzdebatten an amerikanischen Colleges in den 70ern. "In Stanford diskutierten der Saxophonist Francis Wong und ein Freund über McCoy Tyners 'Sahara', das Downbeat-Album des Jahres 1973. Das Cover zeigte Tyner mit einer japanischen Koto in den Händen. 'Wir sprachen darüber, wie eine asiatisch-amerikanische Version des Jazz sein könnte', erinnert sich Wong. 'Also nicht nur Asian-Americans, die Jazzstandards spielen, sondern was wir konkret beitragen könnten.' Insbesondere die Bay Area war ein reichhaltiger Ort für den kulturellen Austausch. ... Unterdessen missfällt vielen Künstlern, mit denen ich sprach, der Ausdruck 'Asian American Musik' aus Sorge darüber, dass er essenzialisieren oder eine vereinheitliche Ästhetik beschreiben könnte. Wer oder was 'Asian America' ist - darüber wird es nie eine allgemein griffige Auffassung geben. Deshalb ist das Nachdenken über die Musik darüber auch so endlos herausfordernd. Zum Beispiel auch, weil es wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass 'Asian American' eine Konstruktion ist, die zum beträchtlichen Teil von Krieg und Kolonialisierung geformt ist. Wegen der Allgegenwärtigkeit des amerikanischen Militärs in Asien lässt sich von vielen zeitgenössischen Musiken - von den Elektropionieren des Yellow Magic Orchestras bis zum psychedelisch informierten Thai molam - sagen, dass sie asiatische und amerikanische Aspekte aufweisen. Die 'originalen K-Pop Stars', ein einnehmendes südkoreanisches Trio namens The Kim Sisters, begannen ihre Karriere damit, vor Soldaten während des Koreakriegs amerikanische Folk, Jazz und Country-Standards zu singen. Jahre später trug der Vietnamkrieg nicht nur zur Entstehung des vietnamesischen Rock'n'Roll bei, sondern auch des kambodschanischen Rock'n'Rolls, da die US-Radiosender über die Grenzen hinweg sendeten. 'Asian American Jazz ist cool, aber ehrlich gesagt: Die beste 'Asian American Music' findet man auf der anderen Seite des Pazifiks', sagt der Musiker und Historiker Julian Saporiti." Wer einmal in diese Compilation mit Rock- und Soulmusik aus dem Saigon der 60er und 70er gehört hat, wird ihm kaum widersprechen können:

Magazinrundschau vom 27.04.2021 - Pitchfork

Der Klimawandel ist ein blinder Fleck der Popmusik, schreibt Jayson Greene. Ihre Versuche, sich ihm zu stellen, sind eher überschaubar, vor allem aber selten angemessen, etwa Grimes' Versuch, den Klimawandel auf ihrem aktuellen Album "Miss Anthropocene" zu einer Art negativen Popikone umzudeuten. Auch drastische Musikgenres wie Death Metal und Hardcore bleiben in ihren apokalyptischen Szenarien greller Effekt, findet er. Als ästhetisches Gefäß für den "Climate Grief" - also die beinahe depressive Trauer darum, dass sich das globale Habitat im Zeitlupentempo der Katastrophe nähert - hält er klassische und experimentelle Musik für viel geeigneter. "Eine Schar elektronischer Künstler und Komponisten haben sich den Klängen, die die Erde selbst von sich gibt, zugewendet, als ob sie versuchen, den Planeten selbst beim Akt des Trauerns zu fassen zu kriegen. ... Matthew Burtners Arbeit 'Glacier Music' (2019) beginnt mit dem eigentlich ja beruhigenden Klang fließenden Wassers, was hier aber mit Vorahnungen aufgeladen ist. Der in Alaska geborene Komponist verbindet in seinen Arbeiten Saiten- und Holzblasinstrumente mit dem unheimlichen Brummen, das Gletscher von sich geben, bevor sie bersten. ...  Der in San Francisco ansässige, elektroakustisch arbeitende Komponist Erik Ian Walker hat dem kompositorischen Rahmen seiner Arbeit 'Climate' (2019) Klimadatenvariable übergelegt: Ansteigende Karbondioxid-Werte korrelieren mit dem Tempo, Ph-Werte des Ozeans mit der Form, die Lufttemperatur an der Oberfläche mit Höhe und Harmonie, die Ein- und Abgabe von Wärme mit Verzerrung und Modulation ... Walker konzentriert sich auf die Jahre 1800 bis 2300, wobei jede Minute 25 Jahren der Menschheitsgeschichte entspricht. Die Musik beginnt einfach, elegisch, begleitet von wenigen Streichern, die gegen tiefes Synthesizergemurmel ansingen", aber "wenn die Temperatur ab dem Jahr 2024 um 2,6 Grad Celsius und damit ein gutes Stück über jenen Schwellenwert angestiegen ist, der einen katastrophalen, irreversiblen Wandel noch aufhaltbar erscheinen lässt, sticht die Musik entschieden ins Chaos. Der Takt entgleitet, während die Violinen und Synthesizer röcheln und schreien und sich zu einer einzigen, qualvollen Stimme verbinden." Eine Kurzversion der Komposition kann man hier (nach einer etwa vierminütigen Einführung) hören:

Magazinrundschau vom 02.03.2021 - Pitchfork

Eine Regel des Youtube-Algorithmus besagt offenbar: Wer nur lange genug in den Tiefen des Musikarchivs, das der Videodienst längst darstellt, gräbt, landet per Empfehlung irgendwann automatisch im heute so benannten City Pop, der Hochglanz-Popmusik, wie sie im prosperierenden Japan der 80er gespielt wurde. Längst hat sich im Westen darum eine ganze Subkultur gebildet, berichtet Cat Zhang. Manche Stücke, die seinerzeit in Japan gerade mal fünfstellig absetzten und heute vergessen wären, haben mittlerweile Zugriffszahlen im beträchtlichen Millionenbereich - etwa "Plastic Love" von Mariya Takeuchi, dessen unglaublichen Youtube-Erfolg dieses Video zu erklären versucht. "Auf Youtube schwelgen die Hörer in ihren Erinnerungen an Japan: 'Ich erinnere mich an die Zeit, als ich mit offenem Fenster durch die Nacht von Tokio fuhr. An den Gebäuden leuchtete Neon, alle hatten eine gute Zeit. Die 80er waren großartig', schreibt ein Kommentator unter dem populären Mix 'warm nights in tokyo [ city pop/ シティポップ]', bevor die Illusion sich verflüchtigt: 'Moment Mal, ich bin 18 Jahre alt und lebe in Amerika.' ... Als ich mit dem Musikwissenschaftler Ken McLeod sprach, erklärte er, dass viele internetbasierte Genres eine Art 'retro-futuristischer Melancholie' hegen, aber auch eine Obsession mit dem 'sich beschleunigenden Kollaps des Kapitalismus, wie ihn der Kollaps des japanischen Traums darstellt'. Die Boomzeit Japans, mit ihren Neon-Metropolen und schier unendlichen Konsumfreiheiten, verkörpert das verlorene Versprechen der kapitalistischen Utopie, die in der Rezession der 90er zerschmettert wurde. Beim Genuss dieser Musik können die Hörer diesen schönen, naiven Optimismus, der diese Zeit scheinbar definierte, zugleich auskosten und betrauern. ... Wie es ein Kommentator unter einem Youtube City Pop ausdrückte und darin viel Zustimmung fand: 'Ich vermisse die Zukunft.'" Und wenn man sich das Vorschaubild dieses Mixes ansieht: Wer nicht?