Magazinrundschau - Archiv

The New Criterion

10 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 25.07.2023 - New Criterion

Links: Lesende alte Frau, 1655, rechts: Sitzende Frau


In der Vermeer-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum konnte Benjamin Riley, vor den Bildern von Massen eingequetscht, nur hier und da ein Detail erhaschen. Aber Gottseidank gibt es ja noch das wunderbare Mauritshuis in Den Haag, ein ganz erstaunliches Museum mit 800 erlesenen Werken niederländischer Künstler: Allein 11 Rembrandts und drei Vermeers, ganz zu schweigen von Carel Fabritius' "Goldfink", kann das in einem klassizistischen Palast untergebrachte Museum aufweisen. Die kleine, im Mauritshuis beendete, doch jetzt in der Pariser Fondation Custodia gezeigte "Ausstellung mit dreizehn Gemälden von "Vrel: Vorläufer von Vermeer" "machte mich - und vermutlich auch viele andere - mit einem niederländischen Maler bekannt, der zwar über erstaunliche Fähigkeiten verfügte, aber kaum bekannt war. Auf Jacobus Vrel (ca. 1630-80) stieß ich zum ersten Mal in einem von Hirmer herausgegebenen Werkverzeichnis aus dem Jahr 2021, das die faszinierende Geschichte eines Malers erzählt, den die Zeit vergessen hat. Vrel war in seinem eigenen Jahrhundert so geschätzt worden, dass er in die Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich aufgenommen wurde, die den Grundstock des Kunsthistorischen Museums in Wien bildete. Doch dann verschwand sein Name. Erst im neunzehnten Jahrhundert taucht Vrel wieder auf ... All das ist nur ein interessanter Hintergrund für diese eindringlichen kleinen Gemälde, von denen einige an die besten Werke der bekannteren Maler de Hooch und Vermeer heranreichen und diese vielleicht sogar übertreffen. Eine alte Frau, die liest, mit einem Jungen hinter dem Fenster (nach 1655; Sammlung Orsay, Paris) ist eine eindringliche Szene. Die kraushaarige, bebrillte Frau sitzt in der Mitte eines schmucklosen Raumes und konzentriert sich auf das große Buch, das auf ihrem Schoß liegt. Hinter ihr befindet sich eine Fensterwand, deren Scheiben der Maler in klarem Silber fein herausgearbeitet hat. Ein Spritzer Mondlicht am oberen Rand des Fensters ist eine willkommene Ablenkung von dem, was darunter liegt: der Umriss eines Jungen mit weißem Kragen, der durch das Fenster blickt und die Frau mit einem Gesicht studiert, das durch seine Ruhe noch teuflischer wirkt. Eine Art Begleitbild, die sitzende Frau, die ein Kind durch ein Fenster betrachtet (nach 1656; Fondation Custodia, Sammlung Frits Lugt, Paris), zeigt das unvermeidliche Ergebnis schelmischer Kinderspiele: die Entdeckung. Obwohl es sich um eine andere Frau (die ein Kopftuch trägt) und ein anderes Kind (ohne Halsband) handelt, ist der Schauplatz fast identisch - nur ein freies Zimmer mit einem Stuhl. Doch während 'Lesende alte Frau' völlig statisch ist, kippt die sitzende Frau fast aus ihrem Stuhl, als sie das Kind im Fenster entdeckt. Ich konnte mich nicht entscheiden, welches Bild beunruhigender war."

Weitere Artikel: Gary Saul Morson liest Jerry Z. Mullers Jacob-Taubes-Biografie "Professor der Apokalypse". Peter Thiel versucht den Kult um Diversität als Ablenkung von realen, zumeist wirtschaftlichen Problemen zu deuten. Adam Kirsch widmet sich dem Komponisten Hans Pfitzner, für ihn kein wahrer Konservativer.

Magazinrundschau vom 20.12.2022 - New Criterion

John Singer Sargent, The Daughters of Edward Darley Boit (1882, Museum of Fine Arts. Foto: gemeinfrei, Wikipedia


Wie stark der britische Maler John Singer Sargent, den man vor allem als Porträtisten der vornehmen englischen Gesellschaft kennt, von Spanien beeinflusst war, lernt eine erstaunte Karen Wilkin in einer Ausstellung der National Gallery in Washington, D.C. über "Sargent und Spanien". Der junge Sargent hatte das Land schon früh bereist und "malte genau beobachtete Details aus Velázquez' 'Die Schmiede des Vulkan' und 'Las Hilanderas' (Die Spinner) sowie den Kopf seines ganzfigurigen Äsop. In einer kleinen Version von Velázquez' prächtigen 'Las Meninas' achtete Sargent peinlich genau auf den Lichteinfall, die individuellen Merkmale jeder Figur und die subtile Inszenierung gedämpfter Töne, verwischte aber das Gesicht der kleinen Infantin in der Mitte des Gemäldes. Er erfasste den wesentlichen Charakter der Bilder, die er studierte, mit schnellen, breiten Farbstrichen und ignorierte, so scheint es, absichtlich die wundersam körperlosen Oberflächen, die Velázquez' frühere Werke so erstaunlich machen. Sargent scheint sich auf seine eigene beachtliche Fähigkeit verlassen zu haben, die Vorzüge von Velázquez in ein unverwechselbares, persönliches Idiom zu übersetzen, das zweifellos seiner eigenen Zeit entstammte... Sargents offenkundigste Hommage an den spanischen Meister, 'The Daughters of Edward Darley Boit' (1882, Museum of Fine Arts, Boston), ist jedoch nicht in der Ausstellung zu sehen, sondern nur durch eine kleine Reproduktion auf einem Etikett vertreten. Das schemenhafte Bild von vier jungen Mädchen in weißen Schürzen, das Sargent einige Jahre nach der Rückkehr von seiner ersten Spanienreise malte, erinnert an sein Studium von 'Las Meninas'. Die Geometrie und die sinnlichen Licht- und Schatteneffekte von Velázquez' Meisterwerk spuken in Sargents Bild der Familie seines Malerfreundes in ihrer Pariser Wohnung. Die Reflexionen in einem Spiegel oben rechts entsprechen dem Gegenlicht einer Figur in einer Türöffnung in 'Las Meninas', während die Pose und die Platzierung des jüngsten Kindes, das im Vordergrund auf dem Boden in einem Lichtbecken sitzt, die dreieckige Form und die horizontale Ausbreitung des massiven Hundes im Vordergrund von 'Las Meninas' wieder aufgreifen. Es ist vielleicht Sargents bestes Gemälde."

Magazinrundschau vom 31.08.2021 - New Criterion

Es gab mal eine Zeit, da bezog sich Pop noch auf die "hohe" Kultur, und sei es, um sich über sie lustig zu machen: "Roll over Beethoven". Heute hat man längst davon abgelassen. Die Ignoranz, die regiert, ist allumfassend, schreibt der Lyriker und Journalist Adam Kirsch, der auf eine seltsame Art an der Unterscheidung zwischen "U"und "E" festhält, als hätte sich nicht längst erwiesen, dass auch populäre Künste zu komplexen Aussagen fähig sind. Dennoch steht für Kirsch Dostojewski bis heute himmelhoch über den Doors, und er versucht eine Art dandyistisches Manifest zu formulieren: "Kultur" sei heute "Gegenkultur": Er fordert von ihren Anhängern ein Bekenntnis, das "einen bewussten Akt der Ablehnung des Mainstreams mit sich bringt. Die Populärkultur - Fernsehsendungen, Popsongs, Memes - ist die erste Sprache eines jeden Amerikaners, die wir uns aneignen, ob wir wollen oder nicht. Die Hochkultur zu verstehen und zu schätzen zu lernen, ist wie das Erlernen einer zweiten Sprache, was bewusste Anstrengungen erfordert (und Amerikaner tun das bekanntermaßen nicht gerne )."
Stichwörter: Hochkultur, Kanon, Gegenkultur

Magazinrundschau vom 01.12.2015 - New Criterion

In einem schönen, mit vielen Beispielen angereicherten Artikel beschreibt Dominic Green die Höhepunkte englischen "natur writings" von seinem Anfang im 18. Jahrhundert bis zu seinem endgültigen Niedergang in den 1970er Jahren, als diese Art von Literatur nur noch an das alte sterbende England erinnerte. Doch plötzlich zeigt die Leiche wieder Leben, überall ploppen neue "nature writer" aus dem Boden. Ebenso ihre Kritiker. Das hat schon seine Richtigkeit, findet Green. "Es gibt eine Identitätskrise in Britannien. Schon das Wort 'Britannien' verliert seine politische Bedeutung und kehrt zu einer rein geografischen zurück. Die es konstituierenden Nationen kehren zurück in ihr Revier, sumpfig oder nicht, voller Bitterkeit über die Tyrannei Londons und den anscheinend endlosen Zustrom von Immigranten. Die Engländer verlassen London: Die große Verstädterung ist, jedenfalls für sie, zu Ende. Die Emigranten, die auf das Land zurückkehren, sprechen von London wie von einem Fremdkörper: Kopf und Körper sind getrennt, die Commons verlieren ihre gemeinsame Sprache." Mehr von den neuen "nature writers" findet man im neuen Granta-Heft.

Magazinrundschau vom 31.03.2015 - New Criterion

Sehr amüsant und lehrreich erzählt Alexander Suebsaeng von seiner Zeit als Latein- und Griechischlehrer an der Kamuzu Academy in Malawi, die einst inklusive einer Kopie der Library of Congress vom klassisch gebildeten Diktator Dr. Hastings Kamuzu Banda für die Elite des Landes gegründet worden war. Die Schule ist inzwischen heruntergekommen. Aber die Elite und ein paar ärmliche Staatsstipendiaten lernen dort immer noch, wenn auch immer weniger Griechisch und immer mehr Mandarin: "Der Besuch des chinesischen Boschafters ist erinnerungswürdig. Er gab in einem grauen Nadelstreifenanzug mit erstaunlichem Veilchen-Strauß im Knopfloch eine vorteilhafte Figur ab. Er sprach lang, und zunächst waren die Schüler unruhig. Aber seine Rede war unterhaltsam, charismatisch, ja bedeutsam, und es war erstaunlich, wie es ihm gelang, sein Publikum gefangen zu nehmen: "China ist groß und klein, jung und alt, modern und antik, reich und arm..." Nach einer halben Stunde belohnte er ihre Aufmerksamkeit mit reichen Gaben. Die Türen sprangen auf und einheimische Träger brachten Laptops und Stereoanlagen, Tastaturen und Rekorder." Der Besuch des britischen Botschafters hat dann sehr viel weniger Eindruck gemacht.

Magazinrundschau vom 06.11.2012 - New Criterion

Schon zu Tschechows Zeiten wollte die Intelligentsija die Welt verändern - mit den "richtigen" Ideen. Doch Tschechow lehnte das ab. Keine Theorien, keine Gesinnung - ob linke oder rechte -, kein Hass auf die Bourgoisie. Im Gegenteil: Er war ein großer Freund bürgerlicher Werte wie Anstand, Sauberkeit, Arbeit, erklärt ein sympathisierender Gary Saul Morson. Auch mit den materialistischen Ideen seiner Zeitgenossen hatte Tschechow nicht viel am Hut: "Da er den Wissenschaften durch und durch ergeben war, stieß ihn die pseudowissenschaftliche Reduktion von Moral und Kreativität auf Hirnaktivitäten ab. Heute sprechen die neuen Atheisten von 'Neuroethik' und 'Neuroästhetik'. Ihre Vorgänger zu Tschechows Zeiten zitierten Molleschots Behauptung, das Hirn würde Gedanken absondern wie die Leber Gallenflüssigkeit. 'Es ist immer gut, wissenschaftlich zu denken', antwortete Tschechow skeptisch. 'Das Problem ist, dass der Versuch, wissenschaftlich über Kunst zu denken, unvermeidlich degeneriert zu einer Suche nach 'Zellen' oder 'Zentren', die für die kreativen Fähigkeiten zuständig sind, während ein beschränkter Deutscher sie irgendwo in den Schläfenlappen entdecken wird."
Stichwörter: Kreativität, Criterion, Anstand

Magazinrundschau vom 08.12.2009 - New Criterion

James Panero findet eine wenig menschenfreundliche Antwort auf die Frage, warum die spekulative Blase bei Pop Art auf Teufel komm raus nicht platzen will - ein Gemälde von Andy Warhol mit der Abbildung von zweihundert Ein-Dollar-Noten brachte bei Sotheby's am 11. November 43 Millionen Dollar. Paneros Theorie: Gerade Pop-Art-Künstler wie Warhol schafften es, Kenner und Kritiker als Instanzen des Kunsturteils auszuschalten und neureiche Sammler an ihre Stelle zu setzen: "Gerade eine Kunst mit ungewissem inneren Wert erwies sich als geeignetste für die Manipulation des Marktes. Eine Kunst mit kräftigen Zoten über Billigkeit oder Tod schoss preislich nach oben, während traditionellere Arbeiten, die Jahre visueller Kontemplation brauchten, um die Komplexität ihrer formalen Qualitäten zu erschließen, keineswegs die gleiche Entwicklung nach oben vollzogen." Und die Museen spielen mit: "Kuratoren verteidigen solch teure Gegenwartskunst, weil sie den Kommerzialismus des Zeitalter widerspiegele: Der Markt gibt der Kunst Bedeutung. Durch die Käufe der Museen können sich internationale Sammler als Mitglieder im Club des Marktexzesses fühlen. Das Publikum fühlt sich dann von dieser Kunst angezogen, weil es seine eigene Gemeinheit darin bestätigt sieht - eine Haltung, deren Gültigkeit ihm wiederum durch die Kunst beteuert wird."

Magazinrundschau vom 21.07.2009 - New Criterion

Der kanadische Journalist Mark Steyn wird total melancholisch über der Lektüre von Paul Anthony Rahes Buch "Soft Despotism, Democracy's Drift", der sehr schön beschreibe, wie "beruhigend und verführerisch" der Prozess ist, in dem wir von der Demokratie in den sanften Despotismus gleiten. "Als Präsident Bush noch die Idee von Demokratie in der muslimischen Welt bewarb, sagte er immer wieder den Satz: 'Freiheit ist die Sehnsucht in jedem menschlichen Herzen.' Ach wirklich? Man kann seine Zweifel haben, ob das in Gaza und Waziristan auch so gesehen wird, aber ganz sicher nicht so gesehen wird es in Paris und Stockholm, London und Toronto, Buffalo und New Orleans. Die Geschichte der westlichen Welt seit 1945 erzählt uns, dass eine große Anzahl von Menschen, die zwischen Freiheit und Sicherheit wählen sollen, die Freiheit jederzeit wegkippen - die Freiheit, ihre eigene Entscheidung zu treffen über Krankenversicherung, Erziehung, Eigentumsrechte und sogar ... über die Freiheit, zu sagen und zu denken, was wir wollen." Wer wissen will, was Freiheit bedeutet, so Rahe und Steyn, muss heutzutage drei tote Franzosen lesen: Montesquieu, Rousseau und Tocqueville.

Leider leider leider nur im Print: Joseph Epsteins Besprechung der Briefe George Santayanas.

Magazinrundschau vom 19.06.2007 - New Criterion

Das passende Denkstück zur Documenta? Roger Kimball besuchte die Ausstellung "Wrestle" im Bard College mit neuester Kunst aus der Sammlung von Marieluise Hessel und war so abgestoßen, dass er seinen Artikel mit der Frage überschrieb: "Why the art world is a disaster" Seiner Meinung nach ist Marcel Duchamp schuld, dessen Dada-Gesten bis zum Überdruss wiederholt würden: "Sex, Gewalt, Ennui, Alltagsdinge als Kunstwerke. Der Unterschied ist, dass Duchamp es ernst meinte. 'Ich habe ihnen das Flaschenregal und das Urinal ins Gesicht geworfen um sie herauszufordern', schrieb Duchamp voller Verachtung, 'und nun bewundern sie sie für ihre ästhetische Schönheit.' Kein Wunder, dass er die Kunst aufgab und lieber Schach spielte. Duchamp lancierte eine Kampagne gegen Kunst und ästhetische Erbauung. Und in gewissem Sinne hatte er einen brillanten Erfolg damit. Aber er fiel auf ihn selbst zurück. Die spröde und abstrakte Ironie Duchamps institutionalisierte sich und wurde zum Standard - und aus der Ironie wurde eine neue Art der Sentimentalität."

Magazinrundschau vom 27.09.2005 - New Criterion

Im amerikanischen New Criterion zeichnet Daniel Johnson ein wenig schmeichelhaftes Bild der britischen Intellektuellen, die er mit ihrem immer noch gepflegten Marxismus zumeist medioker und uninteressiert an anderen Kulturen findet. "Fremdsprachen, alte und neue, verschwinden aus unseren Schulen, weil sie in einer anglophonen Welt nicht mehr gebracht werden. Die Briten kehren zurück zu dem Zustand, in dem sich Bacon vor mehr als siebenhundert Jahren fand, und der ihn aufschreien ließ: 'Es gibt keine fünf Männer in der Christenheit, die vertraut sind mit der hebräischen, griechischen und arabischen Grammatik. Gleichzeitig leugnen und verdammen die Gelehrten die Wissenschaften, von denen sie keine Ahnung haben.' Ein neues dunkles Zeitalter droht, in dem alle Arten von Wissen jederzeit zugänglich sind, aber die Mehrheit, selbst der Gebildeten, nicht das geringste Interesse hat an Dingen, die außerhalb ihres eigenen Blickwinkels liegen."

Die ganze Ausgabe ist Großbritannien gewidmet: zumeist britische Autoren beklagen den Niedergang der Moral, der Umgangsformen, der Kirche von England, der Moral. Positiv bewertet werden die EU-Referenden in Frankreich und den Niederlanden sowie die neue Diskussion über Multikulturalismus nach den Bombenanschlägen in London.