Magazinrundschau

Ein Puzzle im Dunkeln

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
19.04.2014. The Nation beschreibt, wie Künstler sich immer eifriger in Historiker verwandeln. Michel Houellebecq entpuppt sich in Le Point als Größenwahnsinniger. In Osteuropa erzählt Jörg Baberowski, wie der Zar Russland im Ersten Weltkrieg in einen unkontrollierbaren Gewaltraum verwandelte. Die NYRB blickt ins trostlos korrupte Uganda. In Telerama hofft Maïssa Bey in Algerien noch auf einen Wandel. Die NYT hört den Motherless Child Blues.

The Nation (USA), 02.04.2014

Barry Schwabsky ist in einer großen Doppelbesprechung für The Nation nur mäßig begeistert von den künstlerischen Hervorbringungen des italienischen Futurismus, dem gerade eine große Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum gewidmet ist. Im zweiten Teil seines Artikels wendet er sich darum der jüngsten Whitney Biennale zu, die viele früh verstorbene Künstler der jüngsten Vergangenheit zeigt und Schwabsky zu einer tiefsinnnigen Bemerkung veranlasst: Stellt er zu Beginn seines Artikels fest, dass sich junge Kunsthistoriker immer weniger für die Kunst der Vergangenheit interessieren, "so haben sich Künstler immer eifriger in Historiker verwandelt, ja in Archivare und sogar Sammler. Stilistisch hat die neueste Kunst ihr Auge fest auf die Vergangenheit geheftet und ist darum nicht schlechter. Dawoud Beys Schwarzweißporträts über die Zeit der Bombenattentate in Birmingham, Alabama, 1963 haben den nüchternen und doch empathischen Blick August Sanders; Alma Allens biomorphe Skulpturen blicken zurück zu Arp und Brancusi."
Archiv: The Nation

Point (Frankreich), 10.04.2014

Michel Houellebecq ist derzeit allgegenwärtig: Gerade hat er den Arte-Film "„L"Enlèvement de Michel Houellebecq“" (Die Entführung von Michel Houellebecq) abgedreht, in dem er sich selbst spielt, und jetzt werden seine Texte auch noch gesungen. In einem Gespräch zwischen dem Sänger Jean-Louis Aubert und Houellebecq erzählt der Musiker in Le Point, wo er auf Houellebecqs Buch gestoßen ist: in einem Tabakladen. Houellebecq meint folgerichtig zu dem Musikprojekt: "„Das ist doch was, das ein totalitärer oder vielmehr größenwahnsinniger Geist wie ich nur hinreißend finden kann: Die Vorstellung, dass jemand, ohne es vorgehabt zu haben, das Buch kauft und sich meinen Text zu Herzen nimmt, erheitert mich zutiefst. Ja, ich bin ein Größenwahnsinniger. Aber ein netter.“"
Archiv: Point

Osteuropa (Deutschland), 01.04.2014

Osteuropa widmet sein neues Heft ganz dem Ersten Weltkrieg. Der Historiker Jörg Baberowski beschreibt sehr eindringlich, welche Umwälzungen der Krieg für das zaristische Russland bedeutete. Unter einer inkompetenten Militärführung und einem kopflosen Zaren brach das dreihundertjährige Vielvölkerreich wie ein Kartenhaus zusammen: "Der Krieg hatte das Zarenreich in Chaos und Anarchie gestürzt, Millionen waren entwurzelt, aus ihrer Heimat vertrieben und getötet worden, Flüchtlinge waren überall. Der Flüchtling war der Repräsentant der neuen Zeit. Mit ihm kamen Ressentiments, Hass, Elend und Epidemien in das Zentrum des Imperiums. Überall, wo Menschen einander unter solchen Bedingungen begegnen müssen, entstehen Konflikte. So war es auch in Russland. Die Revolution war ein großer Pogrom, der die europäische Elite und ihren Staat für immer aus der Welt schaffte. Sie verwandelte das Imperium in einen unkontrollierbaren Gewaltraum, der von verrohten Soldaten und Offizieren und ihren Waffen dominiert wurde."

In einem sehr lehrreichen Artikel beschreibt außerdem der Historiker Egbert Jahn, wie der Erste Weltkrieg als Katalysator für die Nationenbildung wirkte, die von den liberalen Demokratien, von Sozialdemokraten und Kommunisten vorangetrieben wurde: "Alle drei gesellschaftspolitischen Kräfte befürworteten das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Faktisch wurde bereits die amerikanische Unabhängigkeit mit ihm begründet, auch wenn diese sprachliche Formel noch nicht gebraucht wurde."
Archiv: Osteuropa

Tagesspiegel (Deutschland), 10.04.2014

Lucas Vogelsang hat für eine Reportage im Tagesspiegel "Ihren Block" besucht, den Block im Märkischen Viertel, den vor zehn Jahren Sido besang. Er beschrieb darin einen Gang durch die Stockwerke seines Hochhauses und erzählte von nichts anderem als Sex, Gewalt, Drogen und Tristesse. Es war ein Riesenhit, weil "es eben auch das Kriminaltheater für die Vorurteile der deutschen Mittelschicht war; die sich in allem bestätigt fühlen durfte, weil da einer im geklauten BMW durch sein Viertel fuhr". Schon damals waren nicht alle glücklich über diese plötzliche Prominenz, die bis heute nachhallt:
"ISABELLE: Ich spreche fünf Sprachen. Ich habe ein englisches Abitur gemacht und studiere Islamwissenschaften. Wenn ich erzähle, dass ich aus"m MV komme, dann sind immer alle erstaunt und glauben es nicht. Es gibt aber auch Leute, die hassen mich dafür.
AYHAN K.: Sido hat das MV als einen Puff dargestellt. Als Nuttenloch. Ich habe mich von diesem Song persönlich beleidigt gefühlt. Er wusste nichts von dem, wie es wirklich ablief.
FRAU GRABOWSKY: Unser Märkisches Viertel ist ein Idyll. Ruhige Ecke. Hören Sie was?
HERR GRABOWSKY: Wir haben hier Luftverhältnisse wie auf Sylt.
MURAT DRAYEF: Dieser Ort hat ganz viel Seele. Mein Herz hängt am MV." (Foto: Lienhard Schulz / Wikipedia. Märkisches Viertel 2005)
Archiv: Tagesspiegel

New Yorker (USA), 21.04.2014

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca folgt Burkhard Bilger für den New Yorker Extremkletterern und -tauchern in das Chevé-System, die tiefsten Höhlen der Welt, zweieinhalb Kilometer unter Tage. Woher kommt die Faszination an der feuchten Finsternis? Ein Instinkt? "Einer der Kletterer erinnerte sich daran, wie er als Kind begeistert war von der Struktur eines Brotes, den Luftblasen unter der Kruste. Da wollte er hineinkriechen." Vielleicht hat es auch mit Schönheit zu tun: "Das Wasser da unten war von einem leuchtenden Türkis, darunter schneeweißer Sand. Der Kalkstein war von Ocker und Rost durchzogen. Durch das Wasser zu gleiten, war wie Fliegen … Die Gefahren des Höhlentauchens sind von seinem Reiz nicht zu trennen. Weite Gänge können zu einem Labyrinth werden, weißer Sand kann aufwirbeln und die Sicht blockieren. Du glaubst, du findest den Weg heraus, aber plötzlich bist du in einer Sackgasse ohne Luft … Höhlenklettern ist prinzipiell ohne Ende. Jeder Tiefenrekord ist vorläufig, jedes Höhlensystem ist ein Puzzle im Dunkeln. Anders als den Bergsteiger erwartet den Höhlenkletterer kein schöner Ausblick. Bloß blanke Wände oder ein unpassierbarer Schacht und das Wissen, dass es immer so weitergeht, Höhle über Höhle. Etwas anderes gibt es nicht da unten."

Für einen besseren Eindruck bringt das Magazin auch ein Video.
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Klettern, Labyrinth, Sport, Wasser, Schach, Rost

SZ-Magazin (Deutschland), 12.04.2014

Christoph Cadenbach sucht für eine Reportage des SZ Magazins nach den Personen, die 2004 auf den Skandalfotos aus Abu Ghraib zu sehen waren - Täter und Opfer. Zum Beispiel Janis Karpinski, damals Kommandierende von Abu Ghraib "und damit verantwortlich für den Skandal. So stand es auch im offiziellen Bericht des Militärs, in dem ihr "schwacher Führungsstil" vorgeworfen wird: Karpinski habe sich nicht dafür interessiert, ob sich ihre Soldaten an die Regeln und Prinzipien der Armee halten. ... "Sie brauchten einen Sündenbock", sagt Karpinski im Bahnhofsrestaurant. Sie trägt einen flauschigen weißen Wollpullover, Lippenstift, die Haare hat sie noch immer fest zu einem Pferdeschwanz gebunden, ansonsten wirkt die 60-Jährige gar nicht mehr streng, eher aufgebracht. Sie spricht so laut, dass die Gäste an den Nachbartischen sich umdrehen."
Archiv: SZ-Magazin
Stichwörter: Abu Ghraib, Sündenbock

New York Review of Books (USA), 24.04.2014

In der Ausgabe vom 3. April der New York Review of Books berichtete Helen Epstein unter der Überschrift "Mord in Uganda" über die groteske Korruption in Uganda, die das Gesundheitssystem um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Im zweiten Teil ihrer dreiteiligen Serie erzählt sie am Beispiel des heute in London lebenden Generals David Sejusa, wie Präsident Yoweri Museveni und seine Familie mit Kritikern umspringen. "Er war ein Befehlshaber in der Nationalen Widerstandsarmee, die Musevenin 1986 an die Macht brachte und hatte seitdem verschiedene hohe Posten in der Armee und der Regierung. Als Geheimdienstkoordinator war er verantwortlich dafür, viele Missetaten der Regierung zu vertuschen - durch hartes Durchgreifen gegen die Medien zu zum Beispiel oder einen Militäreinsatz gegen das Oberste Gericht 2005. Doch hat er auch bei zahlreichen Gelegenheiten mit Museveni gestritten und versucht, das Militär zu verlassen. Im Mai 2013 floh er nach Britannien, nachdem er erfahren hatte, sagt er, dass er und andere führende Offiziere, die gegen Musevenis Geheimplan opponierten, seinen 39-jährigen Sohn als Nachfolger einzusetzen, ermordet werden sollten. Als er einige Monate in UK war, erzählte er einem ugandischen Journalisten, dass [die oppositionelle Abgeordnete] Cerinah Nebanda und viele andere prominente Ugander "im Auftrag von oben" ermordet worden waren. Ich war wollte unbedingt mit ihm sprechen."

Telerama (Frankreich), 14.04.2014

Alle wissen, dass sich in Algerien nichts ändern wird“, erklärt die algerische Schriftstellerin Maïssa Bey in einem Interview mit Telerama zur politischen Situation in ihrem Land wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl. Doch trotz aller Resignation sei die Stimmung heute eine vollkommen andere als vor den letzten Wahlen. „"Bis zu diesen letzten Monaten hatten alle, mich eingeschlossen, die alten Reflexe. Wir haben uns, ein wenig hysterisch, gesagt, dass sie die Macht und sämtliche Mittel hätten, diese bis in alle Ewigkeit zu festigen. Deutlich gesagt: dass es zwecklos ist, dagegen aufzubegehren. Im Privatbereich hatten wir die Muße, unserer Missstimmung Ausdruck zu verleihen, aber das hat nie auf den öffentlichen Bereich übergegriffen. Heute äußern sich kritische Stimmen in den sozialen Netzwerken, auf der Straße. Sie verschaffen sich zunehmend Gehör, jeden Tag lauter.“"
Archiv: Telerama

New York Times (USA), 13.04.2014

John Jeremiah Sullivan zeigt, was ein mit Film, Foto und Audiosnippets interaktiv gestalteter Essay alles kann. Zum Beispiel auf grandiose Weise die Geschichte zweier Frauen erzählen, Elvie Thomas und Geeshie Wiley, die mit drei Blues-Platten und zwei Songs, "Motherless Child Blues" und "Last Kind Words Blues", aufgenommen 1930/31, die afroamerikanische Musik des 20. Jahrhunderts mit beeinflusst haben, aber fast vollständig in Vergessenheit gerieten. Sullivan schildert, wie damals Jazz, Country und Blues auf Schellack vertrieben wurden, nämlich als Accessoire in Möbelgeschäften. Aufgenommen wurde in den kalten, feuchten, scheunenartigen Studios der Paramount, die Fenster mit Decken verhängt, auf dem Boden dicke Teppiche: "Ein dunkler, pelziger Schuhkarton, schlimmer Ort, um Musik aufzunehmen. Die Künstler bekamen Alkohol, um sich aufzulockern. Die Aufnahmetechnik war ein Monster, elektrisch, aber vom Anschein her akustisch. Man sang in einen riesigen hölzernen Trichter, der den Sound zu einem Mikrofon leitete … Nach jedem aufgenommenen Song mussten die Toningenieure das System aus Gewichten und Riemenantrieb neu justieren. Die Eigenwilligkeiten des Systems sind auch zu hören, etwa nach den ersten 2/3 von "Motherless Child Blues", wenn das Tempo sich plötzlich leicht ändert."
Archiv: New York Times