Magazinrundschau

Ein zweiter Martini

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag.
07.02.2014. Berlinalebedingt kommt die Magschau ein bisschen später als sonst - pardon! In der LRB schildert die Historikerin Barbara Taylor die Zeitlosigkeit der Verzweiflung in psychiatrischen Krankenhäusern. In Nepszabadsag erklärt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, warum er die metaphorische Geografie von "Westen" und "Osten" ablehnt. in Eurozine begibt sich Stephan Ruß-Mohl auf die Suche nach der europäischen Öffentlichkeit, findet sie aber nicht. Die New Republic zerreißt Benjamin Britten, aber nicht ganz. Und Atlantic zieht am Männerbart.

London Review of Books (UK), 01.02.2014

Zwei Jahrzehnte hat die Historikerin Barbara Taylor in psychiatrischer Behandlung im Friern Mental Hospital in London verbracht. In ihren Buch "The Last Asylum: A Memoir of Madness in Our Times" schildert sie ihre Verzweiflung und eine totale Hilflosigkeit. In der London Review of Books vergleicht die Schriftstellerin Jenny Diski Taylors Erinnerungen mit ihrem eigenen Erleben von Klinik und Wahn: "Diese Hilf- und Hoffnungslosigkeit kenne ich sehr gut. Sie kehrt immer und immer wieder, wie ein Mantra, meist unausgesprochen, in Träumen und Ängsten oder ungefähren Gefühlen im Bauch. Manchmal habe ich sie in meinen verrückteren (oder klareren?) Momenten laut ausgesprochen, so wie Taylor es tut, und verlangte Hilfe, was irrational war, denn ich wusste die ganze Zeit, dass die Hilfe, nach der ich verlangte, mir nicht gegeben werden konnte, oder es sie überhaupt nicht gab. Schließlich wusste ich überhaupt nicht, was mir hätte helfen können, und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch sonst niemand das wusste, weder Analytiker noch Psychiater oder Hausarzt, weder Liebhaber noch beste Freundin, abgesehen von ihren professionellen oder menschlichen Überzeugungen, dass Reden und Deuten, Medikamente oder eine Umarmung einem Einsicht oder eine Verschnaufpause gewährt. Es ist das Wissen, dass man keine Hilfe bekommt, wie dringend man sie auch braucht, was dieses Gefühl zum Wahnsinn steigert, ein Teufelskreis, der völlig außer Kontrolle gerät."
Stichwörter: Madness, Medikamente

Magyar Narancs (Ungarn), 06.02.2014

Die Theaterregisseurin Margaréta Táborosi stammt aus der serbischen Woiwodina als Mitglied der dortigen ungarischen Minderheit. Sie entwickelte das sogenannte "physische Theater". Mit Táborosi wurde in der Wochenzeitschrift Magyar Narancs ein Interview über die Bedeutung von Heimat, Krise und dem physischen Theater veröffentlicht. "Im Alltag bedeutet, eine Ungarin aus der oiwodina zu sein, sich oft erklären zu müssen. Künstlerisch bedeutet es Offenheit. In der Woiwodina leben 25 unterschiedliche ethnische Gruppen. Sprachlich ist die Umgebung bunt, reich an kulturellen Traditionen. (...) Die Krise ist die beste Gelegenheit für einen Künstler. Ich kann mich nach anderen Zeiten sehnen, doch entweder bleibe ich hier und fange mit dem Putzen an oder ich gebe auf und schwimme mit dem Strom." Zu ihrem "physischen Theater sagt sie: "Physisch wird ein Theater dadurch, dass es aus der Regung des Körpers ausgeht, es bedarf eines konzentrierten Körperbewusstseins. Die Definition des physischen Theaters kann sich je nach Künstler ändern. Es soll aber nicht zum Stigma werden."

Der Titel des Magazins ist Jancsó Miklós gewidmet (mehr zum Regisseur im Essay von Daniele Dell'Agli im Perlentaucher).
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Dell'Agli, Daniele, Schwimmen

Eurozine (Österreich), 03.02.2014

Deutsche Zeitungen sollten ihre Übersetzer mobilisieren! Slavenka Drakulic hat für Eurozine einen großartigen Essay über ein überraschendes Thema geschrieben: Warum gibt es eigentlich so wenige Bücher von Schriftstellerinnen, die sich mit dem Thema des eigenen Alterns befassen? Von männlichen Autoren wie Philip Roth oder J.M. Coetzee findet sie solche Bücher, aber dort geht es neben dem Thema des Verfalls auch stets um Sex. Autorinnen dagegen scheinen das Thema ängstlich zu meiden. Am Ende erinnert sich Drakulic an Susan Sontags berühmten Essay "Krankheit als Metapher" und findet keine Antwort, aber eine Erklärung für ihr Problem: "Die moderne Gesellschaft ist beherrscht von der Vorstellung, das die Leute für ihr eigene Gesundheit und die Dauer ihres Lebens verantwortlich seien, obwohl die Realität dieser Idee kaum entspricht. Da ist es ein wesentlich eleganterer Weg, mit Tod und Sterben zurechtzukommen, indem man über eine neue Krankheit schreibt - vor allem in einer Kultur, die nach Susan Sontag den Tod als ein 'beleidigend sinnloses' Ereignis ansieht." Und welche Krankheit findet Drakulic nach intensiven Recherchen bei Amazon? "Alzheimer ist die neue Krankheit, die alle Anforderungen erfüllt, eine Metapher zu sein."

Stephan Ruß-Mohl macht sich in Gegenworte (online in Eurozine) mal wieder Gedanken, über etwas, das es nicht gibt, aber geben sollte, die "europäische Öffentlichkeit". Allerdings begrenzt er Öffentlichkeit dabei auf den üblichen Journalismus und Europa auf die EU. Er stellt fest, dass der Journalismus den lokalen Horizont kaum je überscheitet - auch und gerade bei der Berichterstattung über Brüssel. Sein Lösungsansatz: "Jede Strategie, die dem Projekt Europa aufhelfen möchte, hätte zunächst bei den Kommunikatoren anzusetzen. Nur wenn es gelingt, unter Journalisten und anderen Medienschaffenden weiterhin eine weltoffene europäische Grundorientierung zu verankern, wird das Projekt Europa auch in den nächsten 50 Jahre florieren." Und dafür fordert er Geld. Natürlich aus Brüssel.
Archiv: Eurozine

Nachtkritik (Deutschland), 06.02.2014

Nachtkritik präsentiert einen Vortrag des Theaterautors Ulf Schmidt, den er vor der Dramaturgieschen Gesellschaft gehalten hat, und der ziemlich ungemütliche Zahlen präsentiert. Theaterfunktionäre argumentieren gern mit der über Jahre gleichbleibenden Auslastung ihrer Häuser. Schmidt hat die Zahlen etwas anders aufgezäumt. Hier etwa die Zahl der Theaterbesuche (in tausend) über mehrere Jahrzehnte:



Und was machen die Theater? Sie blähen sich auf, erläutert Schmidt: "Für die 10 Millionen Zuschauer 1957/58 standen 129 Spielstätten mit 94.000 Plätzen zur Verfügung. Heute braucht es das Sechsfache an Spielstätten und das Dreifache an Plätzen, um die Hälfte der Besucher zu bekommen. Das liegt natürlich daran, dass immer mehr kleine Spielstätten benötigt werden." Um nämlich behaupten zu können, dass die Auslastung gleich bleibt! Schmidt fordert am Ende ein "agiles Theater", und ein Theater, das den Medienwandel reflektiert.
Archiv: Nachtkritik

New Republic (USA), 04.02.2014

In The New Republic nimmt Philip Kennicott den britischen Komponisten Benjamin Britten aufs Korn. Liest man den Text zu Ende, stellt man fest, dass er durchaus einiges Schätzenswerte und sogar "Dorniges" in seiner Musik findet. Aber der Mittelteil über diese "Genie aus der Mittelklasse", das in seinen jungen Jahren Rachmaninows Musik als sentimentalen "Papp" verabscheute und Berg und Schönberg verehrte, ist ein Schlachtfest: "Egal, was der junge Komponist über sentimentalen 'Papp' sagte, Britten schwelgte darin, wie die meisten Menschen in Braten und Schnaps. Und er ist nie so genial wie bei den raren Gelegenheiten, - 'Albert Hering' zum Beispiel - wo er sich einen zweiten Martini genehmigte."
Archiv: New Republic

LA Review of Books (USA), 05.02.2014

Aaron Gilbreath feiert in der LA Review of Books Robert Gordons Buch "Respect Yourself - Stax Records and the Soul Explosion" als eines der wichtigsten Bücher über Popgeschichte der letzten Jahre - und er feiert natürlich das Stax Label, das in Memphis, Tennessee, gegründet von zwei (weißen) Geschwistern, gegen alle Rassentrennung die eigentliche Soulmusic erfand: "Stax machte Soul, aber anders als es die Mehrheit in Memphis als normal ansah. Das Label mischte die Rassen in den Bands und im Studio, es hatte schwarze Vollzeitangestellte und machte manche von ihnen reich. Stax' Politik war es, alle Leute zu engagieren, die Fähigkeiten oder Potenzial hatten. Es gab keine Trennung zwischen Studio und Kontrollraum, Musiker und Toningenieure konnten frei interagieren." Gordon hat vor einigen Jahren auch einen Dokumentarfilm über Stax gemacht (Trailer).
Stichwörter: Popgeschichte, Stax, Rasse, Tennessee

Huffington Post fr (Frankreich), 04.02.2014

In Frankreich protestierten am Wochenende Zehntausende Erzkatholiken, Lepenisten und weitere Konspirationisten gegen ein Gesetz, das die Gender-Theorie an französischen Schulen verankern will. Die Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco fühlt sich in der huffpo.fr durch die Demos an faschistische Umzüge in Frankreich erinnert, die fast auf den Tag genau vor achtzig Jahren stattfanden. Und "auch das Thema ist nicht neu, es existierte bereits in bestimmten apokalyptischen Diskursen des fin de siècle, die behaupteten, dass arbeitende Frauen, die ein volles Bürgerrecht erhielten, aufhören würden zu gebären und so die Grundlage der Gesellschaft zerstören würden, die somit einerseits den 'unfruchtbaren' - Sodomiten, Homosexuellen, Masturbatoren - und andererseits den sich ungehemmt vermehrenden Juden ausgeliefert werde."

Le Monde (Frankreich), 04.02.2014

In Le Monde streiten sich Alain Finkielkraut und Daniel Cohn-Bendit seitenlang über Europa. Sie machen alles mögliche zum Thema - Islam, Integration, Neoliberalismus - und definieren glasklar die beiden Standpunkte, die man heute zu Europa haben kann. Cohn-Bendit: "Wir spüren, dass die Staatsnationen um Atem ringen. Sie verteidigen eine Idee der Zivilisation, der Kultur, die fehlgeleitet ist, weil sich die Welt in ungeheurer Geschwindigkeit verändert. Die europäische Identität zu bauen, heißt die nationale Identität zu überwinden." Finkielkraut: "Wir werden uns niemals von den europäischen Institutionen repräsentiert fühlen. Die Nation ist und bleibt das Gehäuse der Demokratie, denn diese - als ein Reich der Diskussion über das gemeinsame Leben - setzt eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Prämissen, eine gemeinsame Zukunft und eine Verbundenheit mit einer selben Vergangenheit voraus."
Archiv: Le Monde

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.02.2014

Eine neue historische Dokumentarserie mit dem Titel "Szabadság tér '89" (Freiheitsplatz '9) ist beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen als gigantisches Vorhaben, über ein Jahr zur besten Sendezeit gestartet worden. Jeweils vierzig Minuten lang strebt die Sendung "die Öffnung der Akten des Systemwechsels von vor fünfundzwanzig Jahren" an und soll den Weg zu den ersten freien Wahlen zeigen. Das Historische Institut und Archiv zur Erforschung des Systemwechsels und das Institut des 20. Jahrhunderts sind fachliche Berater, moderiert wird sie vom Intendanten des Senders, Philip Rákay. Antal Siba von der Zeitschrift Élet és Irodalom sah sich die ersten drei Sendungen an und ist nicht gerade begeistert: "Die Sendung hat Seminarcharakter. Der ständige Experte der Sendung ist der Historiker László Tőkéczki, seine Aufgabe formuliert der Moderator so: 'Der Herr Lehrer hilft uns dabei, dass wir ein Jahr lang den Wald vorm Baum sehen'. (...) Noch papierner wird's dadurch, dass manche Definitionen mit Schreibmaschinengeräusch untermalt auf ein vergilbtes Stück Papier projiziert werden. Warum das wichtig ist, weiß niemand, doch aus der Sendung wird statt wissenschaftlicher Wissensvermittlung ein unendlich einseitiges politisches Glaubensbekenntnis. Sie will nicht die Akten der Vergangenheit aufschlagen, sondern ein antikommunistisches Gefühl vermitteln."

Nepszabadsag (Ungarn), 06.02.2014

Ungarn schließt einen Deal mit Russland über die Erweiterung des ungarischen Atommeilers von Paks. Der ungarisch-amerikanische Historiker John Lukacs appellierte deshalb an die ungarische Führung, die Bindung an den Westen nicht mit einer Bindung an Russland einzutauschen. Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás lehnt die Erweiterung des Meilers ab, aber ebenso die metaphorische Gographie von "Westen" und "Osten". Sein Artikel erschien in der Wochenendausgabe von Népszabadság. "Das Problem mit Putin ist nicht, dass er Russe ist, die von ihm Unterdrückten sind auch Russen, beziehungsweise nationale Minderheiten in Russland - das Problem ist das freiheitsfeindliche, antidemokratische, diskriminierende, chauvinistische, homophobe Wesen seines Systems. Die Metapher des 'Ostens' nimmt Unterdrücker und Unterdrückte unter einem Hut. Das ist unerträglich. Die Idee der Freiheit und der Emanzipation ist geographisch nicht beschränkt."
Archiv: Nepszabadsag

Guernica (USA), 01.02.2014

Der irisch-britische Dichter Nick Laird spricht im Interview mit Guernica über seinen neuen Gedichtband "Go Giants" und die Frage, welche Rolle Humor, Politik und Zorn in seinen Gedichten spielen: "Ich bin immer noch wütend über Nordirland. Ich bin wütend über das, was dort geschah und immer noch geschieht. Wütend darüber, dass Freunde getötet wurden und über diesen langwierigen Prozess, der uns viel eher größeren Frieden hätte bringen sollen. Die Menschen in Nordirland wurden von vielen Seiten im Stich gelassen und natürlich haben wir uns auch selbst im Stich gelassen. In meinen Gedichten versuche ich diese Wut - und die Trauer und die Hoffnung - auszudrücken. Ich glaube jedes Schreiben ist ein Versuch, den herrschenden Konsens zu verkomplizieren und zu untergraben. Schreiben personalisiert Statistiken. Es gibt einer Nummer einen Namen und ein Gesicht. In diesem Sinne ist es immer politisch."
Archiv: Guernica
Stichwörter: Guernica, Nordirland

The Atlantic (USA), 03.02.2014

Auch bei uns ist er zurück: der Männerbart. Sogar in seiner wilhelminischen Form schmückt er derzeit diverse Models, die für schicke Label fotografiert werden. In The Atlantic erzählt Sean Trainor eine kleine Kulturgeschichte des Männerbarts seit dem 18. Jahrhundert. "Wie unzählig andere Geschichten ist auch diese voller Widersprüche. Sie beginnt mit weißen Amerikanern, die zur Zeit der Revolution Rasieren als eine Angelegenheit von "Minderwertigen" betrachteten. Sie geht weiter mit schwarzen Unternehmern, die es in eine Quelle von Reichtum und Prestige verwandelten. Und sie schließt mit der Anerkennung des Bartes - einer aus der Verzweiflung geborenen Mode, die sich in ein Symbol männlicher Autorität und weißer Überlegenheit verwandelte."
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Models, Schmuck, Model

New Yorker (USA), 10.02.2014

Der New Yorker druckt eine parabelartige Geschichte von Zadie Smith, in der es um einen Innenminister geht, der nach einem verheerenden Orkan in einer namenlosen Stadt das Weite sucht, ein echter Hasenfuß. "Moonlit Landscape with Bridge" heißt die Geschichte, und Smith hat sie unter dem Eindruck des Supertaifuns Yolanda auf den Philippinen geschrieben. Interessantes Detail: Der Minister flieht nicht alleine, sondern mit einem alten holländischen Meister in der Reisetasche, der auch den Titel der Geschichte hergibt. Dazu erklärt Smith im Interview mit Cressida Leyshon, dass dem New Yorker der ursprüngliche Titel nicht gefallen habe, so sei der jetzige entstanden. Der von Leyshon erwähnte Kontrast zwischen dem originalen Bildmotiv und der katastrophischen Landschaft, die sich dem per Flugzeug fliehenden Minister darbietet, ist allerdings in Wirklichkeit keiner, weil Smith die blutige Spur des Reichtums holländischer Kolonialisten und Kunstmäzene gleich mitdenkt. Recht realistisch auch ihre Vorstellung davon, was in einem zerstörten Land wie in ihrer Geschichte folgt: "Was nach Katastrophen geschieht, hat Naomi Klein in "Die Schock-Strategie" bereits wunderbar dargestellt. Toll wäre, wenn es zum Umdenken führte, in der Architektur, in der Agrar- und der Klimapolitik. Toll, aber unwahrscheinlich … Eher noch segelt ein verlorener Prinz aus dem Exil ein und spielt sich als Retter auf."
Archiv: New Yorker