Magazinrundschau

Kumulative Komplexität

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.08.2013. In der Huffington Post erklärt Gilles Kepel, welchen gravierenden Fehler Mohammed Mursi gemacht hat. Eurozine bewundert die Respektlosigkeit Witold Gombrowiczs in seinen intimen Tagebüchern. Elet es Irodalom besucht das "andere" Ungarn. Fast Company probiert den neuen Lebensmittelservice von Amazon aus. In La Repubblica erzählt der Animationsfilmer Hayao Miyazaki vom Zweiten Weltkrieg. In El Pais Semanal singt Javier Cercas ein Loblied auf Deutschland. The Atlantic untersucht Vor- und Nachteile des Drohnenkriegs. In der NYT schildert die Dokumentarfilmerin Laura Poitras ihre Erfahrungen mit den Geheimdiensten.

Huffington Post fr (Frankreich), 18.08.2013

Der gescheiterte und abgesetzte ägyptische Präsident Mohammed Mursi hat nicht begriffen, dass er nicht ausschließlich von Religiösen, sondern auch von säkularen Kräften gewählt worden war, die "seinen Bart der Uniform der Militärs" vorgezogen hatten, schreibt der bekannte Islamwissenschaftler Gilles Kepel in einer Analyse der jüngsten Ereignisse: "Mursi wollte dieser zusammengewürfelten Dimension seiner Wahl keine Rechnung tragen und hat denen, die ihn aus Hass auf das Militär gewählt hatten, das Gefühl gegeben, die Bruderschaft, in der er nur ein kleines Rädchen ist - und zwar das "Sicherheitsrädchen", wie man ihn in Ägypten während des Wahlkampfs spöttisch taufte -, wolle den Staat unterwandern und an sich reißen. Dadurch haben Mursi und die Muslimbrüder die Säkularen gegen sich aufgebracht und die Unzufriedenheit von halb Ägypten heraufbeschworen, wobei man bis heute nicht wissen kann, ob dies die Mehrheit ist oder nicht. Aber auf jeden Fall haben sie, indem sie am 30. Juni auf die Straße gingen, gezeigt, dass das Land von jetzt an gespalten ist."

New Republic (USA), 16.08.2013

Graeme Wood hat mit dem salafistischen Fernsehmoderator Hesham El Ashry in Kairo telefoniert, der von den Attacken des Militärs erzählt und Amerikaner, Israelis und Kopten für das Blutbad verantwortlich macht. "Die Ägypter geben Amerika die Schuld an dem allen', sagt El Ashry, der Jahre in New York lebte, wo er als Maßschneider für Klienten wie Paul Newman arbeitete. 'für Obama ist dies kein Putsch, Amerika sagt [General] Sisi, was er tun soll. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.' El Ashry hat in der Vergangenheit erklärt, Gewalt sei keine Lösung. Aber jetzt, sagt er, werden die ägyptischen Islamisten Amerika zur Verantwortung ziehen. 'Wir hatten politische Parteien, wir haben die Gewalt aufgegeben. Aber wir wissen ganz genau, dass Amerika sich nicht für Demokratie interessiert. Es wird Terrorismus gegen Amerika geben, und wenn Ägypter einen Amerikaner sehen, werden sie ihn töten."
Archiv: New Republic

Eurozine (Österreich), 19.08.2013

Das pure Leben ohne jede literarische Veredelung hat Pawel Majewski in den intimen Tagebüchern von Witold Gombrowicz gefunden, die gerade unter dem Titel "Kronos" in Polen erschienen sind. Ob die Notate einen Text ergeben, vermag Majewski in Kultura Liberalna (von Eurozine ins Englische übersetzt) nicht genau zu sagen, aber dass sie der Nachwelt überlassen werden sollten, das schon: "'Kronos' nimmt das Klima der derzeitigen Ära vorweg, in dem nichts verborgen bleibt: Jeder redet mit jedem über alles, doch niemand hört zu. Als würde Gombrowicz nur vor sich hin murmeln, wenn er über die Unwägbarkeiten des Lebens schreibt und sich zugleich den Schanker kratzt, oder im Café Hegel liest und den Jungen auf der Straße draußen nachguckt. Er bringt all die Dinge ans Tageslicht, die sonst den Biografen mit voyeuristischer Neigung überlassen bleiben. Im zwanzigsten Jahrhundert waren die Franzosen die Meister in diesem Spiel, aber niemand spielte es mit solcher Respektlosigkeit. Gombrowicz erledigte seine Hausarbeiten wagemutiger als sie."

Dazu gibt es auch ein Interview mit dem Herausgeber der Tagebücher, Jerzy Jarzebski.
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Gombrowicz, Witold

Wired (USA), 13.08.2013

Cliff Kuan blickt in die Science-Fiction-Welt von morgen, in der all unsere Gadgets und Devices wunderbar miteinander verschaltet sind und fröhlich miteinander plaudern. Darin besteht, so verrät ihm Bill Buxton, ein Forscher von Microsoft, "die nächste Herausforderung für das Erlebnisdesign. ... Diese Konzentration auf die Gesamtheit unserer Geräte steht in Kontrast zu unserer heutigen Erfahrung. Die Zahl der Gadgets und Funktionen nimmt zu, ohne dass viele Gedanken darauf verwendet werden, wie sie zusammenpassen (...) Auch wenn die einzelnen Geräte einfacher geworden sind, steigt ihre kumulative Komplexität. Die Lösung dafür, meint Buxton, liegt darin, 'sich nicht mehr auf die individuellen Objekte wie auf Inseln zu konzentrieren'. Sein Vorschlag für eine simple Bemessungsgrundlage, ob ein Gadget überhaupt existieren soll: Jedes neue Gerät sollte die Komplexität des Systems verringern und den Wert von allen anderen in diesem Ökosystem erhöhen." Sollte Microsoft am Ende tatsächlich offenen Standards das Wort reden? Schwer zu glauben.

Außerdem: Steven Levy sieht zu, wie Google mit Breitbandinternet-Ballons den Luftraum als Internetprovider erschließen will. Carl Zimmer erzählt die Geschichte von Aufstieg und Niedergang der Gentherapie. Clive Thompson plädiert für eine neue Soundkultur im Internet: "Man stelle sich eine Wikipedia für Klang vor - ein weltweiter Versuch, Klänge aus der Alltagswelt zu sammeln und aufzunehmen. Sammelt man nur genügend an, könnten wir faszinierende neue Wege entdecken, die Welt zu verstehen."
Archiv: Wired

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.08.2013

Der junge Filmemacher, Dénes Nagy ( u.a. "Lágy eső - Sanfter Regen", dieses Jahr im Kurzfilmwettbewerb von Cannes) begleitet in seinem neuen Dokumentarfilm "Másik Magyarország - Das andere Ungarn", den bildenden Künstler Imre Bukta in seine Heimatregion. Lóránt Stőhr hat sich den Film angesehen und schreibt: "'Das andere Ungarn', so lautete auch der Titel der letzten Ausstellung von Imre Bukta in der Budapester Kunsthalle. Aus welcher Perspektive ist das hier gemeinte Ungarn anders? Vom Zentrum, von Budapest und den Städten her betrachtet, die mehr oder weniger die westliche Modernisierungstrends annahmen. Das Andere ist hier der Doppelgänger, das zurückgebliebene Ländliche. Imre Bukta ist in seiner vertrauten Umgebung ein Insider, so malt er authentisch das 'andere Ungarn'. Dénes Nagy könnte leicht den Fehler machen, sich als Katastrophentourist über das Elend in ländlichen Gegenden zu empören. Doch seine Empathie mit seinen Gesprächspartnern und seinem Hauptprotagonisten verhindern dies glücklicherweise."
Stichwörter: Empathie

Fast Company (USA), 05.08.2013

J.J. McCorvey hat dem in einigen US-Städten bereits testweise ausgerollten AmazonFresh auf den Zahn gefühlt und sich - zur vollsten Zufriedenheit - Bananen und Äpfel aufs Hotelzimmer liefern lassen. Mit dem Angebot hat Jeff Bezos weit mehr im Blick als bloß den Gemüsemarkt, schreibt McCorvey, nachdem sie zuvor Amazons komplexes Warenauslieferungssystem genau untersucht hatte: "Tatsächlich handelt es sich um ein "trojanisches Pferd (...). 'Ursprünglich war vorgesehen, dass dies mit dem Rollout der neuen Lieferung am selben Tag einhergehen würde', erklärt Tom Furphy, der von 2007 bis 2009 für Fresh zuständig war. Dies zu bewerkstelligen stellt eine enorme logistische und wirtschaftliche Herausforderung dar. Man nennt es das Problem der letzten Meile. Zwar kann man von den Warenlagern aus ohne weiteres vollgepackte LKW auf die Reise schicken, doch ein einzelnes Päckchen durch ein ganzes Viertel zu manövrieren, um es schließlich an der Tür des Kunden abzuliefern, ist nicht ganz so einfach. Das Frachtvolumen und die Lieferfrequenz müssen die Kosten für Treibstoff und Arbeitszeit überwiegen, sonst wird diese letzte Meile ziemlich teuer. ... Vom Ausbau der Frischwarenlieferung erhofft sich Amazon, Kunden, die sonst nur einmal im Monat etwas bestellen, dazu zu bewegen, wöchentlich - oder vielleicht sogar dreimal die Woche - eine Bestellung aufzugeben. Dies wiederum würde das nötige Bestellvolumen ergeben, um die Investition in eine solche Infrastruktur attraktiv zu machen." Außerdem erfährt man, dass Amazon sich auch in den kommenden Jahren mit dem Argument, Arbeitsplätze zu schaffen, darum drückt, volle Steuern abzutreten.

Weiteres: Adam Bluestein erzählt, wie change.org zur Plattform für enttäuschte Kunden wurde: auch Amazon steht - hier in Deutschland und hier in Großbritannien - in der Kritik.
Archiv: Fast Company
Stichwörter: Amazon, Bezos, Jeff, Bezos, Banat

Repubblica (Italien), 19.08.2013

Hayao Miyazaki, der Gott des Animationsfilms, legt im Wettbewerb von Venedig sein neuestes Werk vor: "Kaze Tachinu - Der Wind frischt auf", 126 Minuten lang. Mario Serenellini interviewt den Meister, auch über das Unbehagen, das der Film hervorruft, denn "Kaze Tachinu" porträtiert offenbar ohne allzu große Distanzierung einen jungen japanischen Luftfahrtingieur im Zweiten Weltkrieg. Miyazaki kritisiert im Interview zwar die revanchistischen Äußerungen der aktuellen japanischen Regierung, aber sehr direkt geht er auf Vorwürfe gegen seinen Film nicht ein: "Ich habe immer Märchen gezeichnet. Wie alle Märchen beruht auch dieses auf dem Gedächtnis und der Geschichte eines Landes und auf dem, was ich selbst erlebt habe. Es ist auch meine Geschichte. Mein Vater war Luftfahrtingenieur, Besitzer der Miyazaki Airplane-Fabrik, die im Zweiten Weltkrieg unter anderem die vom Filmhelden Jiro Horikoshi designten Flugzeuge hergestellt hat, auch die zu traurigem Ruhm gekommenen Mitsubishi A6M Zero der Kamikaze-Flieger." Auf der Website der Repubblica ist ein vierminütiger Trailer des Films zu sehen.
Archiv: Repubblica
Stichwörter: Miyazaki, Hayao, Venedig

Economist (UK), 17.08.2013

Mursis gesammelten Verfehlungen zum Trotz: Der Economist ist entsetzt angesichts der jüngsten Ereignisse in Ägypten, für die man in London allein die Militärs verantwortlich macht: "Nicht nur war der Staatsstreich falsch, er war auch ein taktischer Fehler. Die Muslimbrüder hätten wahrscheinlich jede kommende Wahl locker verloren - und hätten sie die Wahl verweigert, wäre die Bevölkerung dagegen vorgegangen. ... Der größte Fehler der Generäle besteht jedoch darin, die triftigste Erkenntnis des Arabischen Frühlings missachtet zu haben: Dass gewöhnliche Leute sich nach Würde sehnen. Sie verabscheuen es, von eitlen Amtsträgern herumgestoßen und von korrupten Autokraten regiert zu werden. Sie sind gegen einen Polizeistaat. Stattdessen wollen sie ein besseres Leben, gute Jobs und ein paar basale Freiheiten. Selbst wenn sich Ägyptens Islamisten auf dem Rückzug befinden, bringen sie es noch immer auf 30 Prozent der Bevölkerung. Die Generäle können diese nicht zurückhalten ohne dabei die Freiheiten Millionen anderer Ägypter zu beschneiden. Freiheiten, nach denen sie hungern - und von denen sie, wie kurz auch immer, seit Mubaraks Sturz naschen konnten." Mehr und ausführlicher dazu auch an dieser Stelle.

Gute Nachrichten für die Kulturindustrie: Die schlechten Zeiten sind vorbei, das Internet ist dein neuer, bester Freund! So zumindest könnte ein Fazit nach dieser euphorischen Bestandsaufnahme lauten, derzufolge der Siegeszug des mobilen Netzes aus den einst gerügten "digitalen Pennys", für die man "analoge Dollars" eingetauscht habe, doch einen mittlerweile sehr ansehnlichen Haufen mache, Geschäftssinn und -modell vorausgesetzt. An anderer Stelle wird dies genauer ausgeführt: "Das Web fügt sich zusehends einem der ältesten Drehbücher der Medienwelt: Eine neue Technologie kommt in die Stadt, die Mogule versuchen, sie zu zerstören, doch sie überlebt und wird Bestandteil der Zukunft dieser Stadt. Hollywood verabscheute den Videorekorder (und verglich ihn mit einem Serienkiller), die Fernsehsender hassten Kabelfernsehen, die Musiknotenverlage fürchteten den Phonographen und Sokrates äußerte Bedenken bezüglich der Schrift, die ihm offenbar nicht interaktiv genug war. Und doch geschieht fast immer dasselbe: Die alten Medien überleben (...), die neuen Medien vergrößern den Markt."
Archiv: Economist

El Pais Semanal (Spanien), 18.08.2013

Javier Cercas zählt auf, "worüber ich dieses Jahr gerne alles geschrieben hätte. Zum Beispiel hätte ich, weil derzeit alle über Deutschland wettern, gerne ein Lob Deutschlands angestimmt. Aus einem einfachen Grund: Niemand kann die Europäische Union heutzutage besser anführen als Deutschland, weil niemand in Europa näher daran ist, mit dem Nationalismus Schluss zu machen, als die Deutschen: Ende des 18. Jahrhunderts haben sie den Nationalismus erfunden und um die Mitte des 20, Jahrhunderts haben sie ihn zu seinem ekstatischen Höhepunkt geführt: 50 Millionen Tote. Weshalb sich in Deutschland jedem, der halbwegs lesen und schreiben kann, bei dem Wort Nationalismus automatisch die Nackenhaare aufstellen; weshalb mitten in Berlin ein Denkmal für die sowjetischen Soldaten steht, die die Stadt 1945 unter blutigen Opfern einnahmen; und weshalb es gegenwärtig der größte Wunsch der besten Deutschen ist, in Europa aufzugehen."
Archiv: El Pais Semanal

The Atlantic (USA), 01.09.2013

Mark Bowden untersucht in einer Riesenrecherche die Vor- und Nachteile des Drohnenkriegs - juristisch, politisch, militärisch und moralisch. Und auch wenn er zugibt, dass Attacken durch Drohnen dem Gegner keine Chance lassen sich zu ergeben, und generell so unfair sind wie Davids Steinschleuder, hält er sie im Vergleich zu Atomwaffen für einen echten Fortschritt. Aber: "Kein amerikanischer Präsident wird jemals einen politischen Preis dafür zahlen, dass er die nationale Sicherheit über die internationale Meinung gestellt hat, doch der einzige richtige Weg weiterzumachen, ist, im Nachhinein die Entscheidungen offenzulegen, wie Ziele ausgesucht werden und was beim Angriff herausgekommen ist. Auf lange Sicht kommt es mehr darauf an, dem Gesetz treu zu bleiben als einen weiteren Schurken eliminiert zu haben. Mehr Umsicht und Transparenz sind nicht nur moralisch und juristisch essentiell, sie sind auch in unserem eigenen Interesse, denn die Angriff selbst nähren ein Antidrohnen-Narrativ und führen zu der Art kleiner willkürlicher Terror-Attacken, die zu bin Ladens abscheulichem Erbe gehören." (Deutlich kritischer hat den Drohnenkrieg kürzlich Stephen Holmes in der London Review of Books gesehen, sein Artikel liest sich ebenfalls spannender als jeder Krimi).

Außerdem: Graeme Wood besucht einen amerikanischen Soldaten, der nach Nordkorea desertiert war, dort vierzig Jahre lang lebte, und jetzt in Japan Cracker verkauft. James Fallows lässt sich von Charles Simonyi erklären, wie man die generelle Langsamkeit von Software verbessern kann. James Parker erzählt die Geschichte des britischen Privatschülers John Mellor, der später als Clash-Sänger Joe Strummer berühmt werden sollte.
Archiv: The Atlantic

Guernica (USA), 15.08.2013

Das britische Politikmagazin dokumentiert ein von Mishal Husain moderiertes Podiumsgespräch, in dem es um Meinungsfreiheit und Zensur in Sri Lanka, Indien, China, Burma und England ging. Teilnehmer waren die ehemaligen BBC-Korrespondentin und Buchautorin Frances Harrison ("Still Counting the Dead: Survivors of Sri Lanka's Hidden War"), der Direktor des Londoner Institute für Human Rights and Business Salil Tripathi ("Offence: The Hindu Case. Manifestos for the 21st Century"), Julia Farrington, Mitarbeiterin der Zeitschrift Index on Censorship, sowie der ehemalige Politikredakteur des Standard, John Kampfner, der heute Google in Sachen freier Meinungsäußerung berät. Kampfner hält Zensur und Probleme mit Meinungsfreiheit für ein universelles Problem, es gebe kein einziges Land auf der Welt, wo es keine diesbezüglichen Konflikte gebe. "Und häufig sind die Schlimmsten, was das Schaffen von Präzedenzfällen und das Verteilen von Feigenblättern an wirklich üble Regimes angeht, westliche Regierungen. Im Januar arbeitete ich an einer Reihe von Gesetzen und Novellen, die das Internet-Recht betreffen. Und die sind in vielerlei Hinsicht wirklich schrecklich und gefährlich. Immer wenn sich internationale Organisationen oder andere Regierungen beschweren, kann ein Land wie Russland den Spieß einfach umdrehen und sagen: Ihr macht doch das Gleiche, ob es nun um Überwachung, Datenspeicherung oder sonst was geht. Jedes Land, vor allem ein altes, etabliertes mit einem demokratischen Hintergrund, leitet Gesetze oder Maßnahmen in die Wege. Wie es zum Beispiel der britische Premierminister bei den Unruhen in London aus Frust und Verzweiflung sagte: Wenn wir die Handynetze und Internetprovider abschalteten, würden wir die Sache in den Griff kriegen. Andererseits war das ein Geschenk des Himmels. Die iranische Regierung, stelle ich mir vor, hat sich umgedreht und gesagt: Wir schicken euch gern ein paar Menschenrechtsberater, die euch bei eurer Klemme und euren Problemen helfen."
Archiv: Guernica

HVG (Ungarn), 07.08.2013

Seit einem Jahr ist der Choreograf, Tänzer, bildende Künstler und Fotograf, József Nagy Direktor des Budapester Zentrums für zeitgenössische unabhängige Kunst, "Trafó". Nagy, der 30 Jahre in Frankreich lebte, leitet gleichzeitig in Orléans das Internationale Zentrum für Choreographie. Über seine Erfahrungen in Ungarn sagt er im Interview mit Rita Szentgyörgyi: "Ich, mit meinen französischen Erfahrungen, war hier vollkommen naiv. In Frankreich wurde ich nie mit politischen Glaubensbekenntnissen konfrontiert. Regierungen kamen und gingen, doch ich wurde nie zur Parteinahme gezwungen. In Ungarn musste ich gleich am Anfang feststellen, dass alle Bereiche zu sehr von der Politik durchtränkt sind. (…) Die jetzige Kulturpolitik ist nicht wirklich offen und die Problematik wird missverstanden. Unabhängig bedeutet nicht, dass man rebelliert, sondern dass man mit einer eigenen Konzeption, nicht in einem gegebenen System arbeiten möchte."

Ungarn driftet immer mehr weg von der Europäischen Union, stellt der Dichter Ákos Szilágyi fest. Antimodern, antiwestlich, national - das ist die neue Richtung. "Seit Neustem bedeutet ist dies das System der populistischen 'Kabinenrevolution': eine russische Führerdemokratie, kombiniert mit einem nach fernöstlichem Muster funktionierenden, oligarchistischen, korporatistische, Kasernenkapitalismus und einem nach islamistischem Vorbild zusammengestellten christlichen Fundamentalismus. So wird Politik zu einer Religion, der Politiker zu einem Propheten und Priester."
Archiv: HVG

New York Times (USA), 18.08.2013

Gestern kursierte eine Geschichte, die allen Journalisten zu denken geben sollte. Der Partner des NSA-Enthüllungsjournalisten Glenn Greenwald wurde neun Stunden lang am Flughafen Heathrow festgehalten, seine Computer und Telefone wurden konfisziert. Dies ist genau die Politik, die die amerikanischen Geheimdienste offanbar seit Jahren gegenüber jenen führen, deren Berichte ihnen nicht passen. In einem packenden Porträt über Laura Poitras, jene Dokumentarfilmerin, die mit Glenn Greenwald zusammenarbeitet und die zuerst von Edward Snowden kontaktiert wurde, erzählt Peter Maass auch, wie sie schon seit Jahren, lange vor den Snowden-Enthüllungen systematisch an Flughäfen festgehalten wird. Hintergrund ist ein früherer Dokumentarfilm über den Irakkrieg. "Einmal, erzählt Poitras, haben sie ihr Computer und Handy abgenommen und wochenlang behalten. Man sagte ihr, dass ihre Weigerung auf Fragen zu antworten, selbst schon ein verdächtiger Akt sei. Die Verhöre fanden in internationalen Zonen von Flughäfen statt, wo nach Ansicht der Regierung die verfassungsmäßigen Rechte nicht gelten, weshalb ihr die Anwesenheit eines Rechtsanwalts nicht erlaubt wurde."
Archiv: New York Times