Magazinrundschau

Frauen an der Front

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
28.02.2012. In Guernica beschreibt Aleksandar Hemon den Wahnsinn an bosnischen Schulen, ethnische Identität mit dem Lehrplan zu festigen. In Eurozine erklärt Klaus-Michael Bogdal, warum die Rom-Völker Verachtung und Faszination auslösen. Elet es Irodalom lobt die Hygiene-Besessenheit deutscher Journalisten. Der Economist erklärt, warum man Iran besser nicht bombardiert. Vanity Fair würdigt Kriegsreporterinnen. Die New York Times beschreibt die Carl Laemmles von Nigeria.

Guernica (USA), 31.01.2012

Der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Aleksandar Hemon beschreibt sehr anschaulich den Wahnsinn in Bosnien Herzegowina, in dem ethnische Unterschiede durch das Dayton-Abkommen festgeklopft und bürokratisiert wurden, am Beispiel der Kindererziehung an einer Grundschule in Sarajewo: "Religiöse Erziehung ist ein Teil der sogenannten 'nationalen Gruppe von Fächern', einer Eigenart der bosnischen Grund- und Highschoolerziehung, die außerdem die 'Muttersprache', Literatur, Georgrafie, Geschichte und Gesellschaft beinhaltet. Die Lehrpläne in diesen Fächern richten sich nach der ethnischen Identität, Fächer wie Mathematik, Physik und Sport sind wahrscheinlich transethnisch. Während religiöse Erziehung meist sehr früh beginnt, werden die anderen 'nationalen' Fächer nicht vor der fünften Klasse unterrichtet. Zu diesem Zeitpunkt würde eine hypothetische integrierte Klasse mit bosnischen (Bosniern mit muslimischem Hintergrund), serbischen und kroatischen Kindern jedesmal auseinanderbrechen, wenn zum Beispiel eine Geschichtsstunde ansteht - die drei ethnisch identifizierten zehnjährigen Schüler würden drei verschiedene, ziemlich sicher sich ausschließende Versionen ihres bemitleidenswerten Heimatlandes lernen. Um diese widersinnige Situation zu verstehen, in der Kinder ihre ethnische Identität mit Hilfe nationaler Fächer trainieren, muss man tief in die Scheißegruben von Krieg, Frieden und Politik in Bosnien und Herzegowina tauchen. Halten Sie sich die Nase zu und los geht's."
Archiv: Guernica

Rue89 (Frankreich), 26.02.2012

Sehr verdienstvoll ist Thierry Brésillons Blog Tunisie libre in Rue89, das Tunesien auf dem Weg der Demokratisierung begleitet und über den Druck berichtet, den radikale Islamisten auf die gemäßigt islamistische Regierungspartei Ennahdha ausüben. Nach einer triumphalen Tunesien-Tournee des radikalen ägyptischen Predigers Wajdi Ghonim schreibt Brésillon: "Vor allem die Parteijugend setzt Ennahdha unter Druck und wirft der Partei vor, eine Politik der 'Linken und Säkularen' zu führen. Anlass war die Auflösung einer Demonstration von Anhängern Ghonims vor der Zentralmoschee von Tunis mit Tränengas."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Rue89, Tunesien

Vanity Fair (USA), 27.02.2012


Nach dem Tod von Marie Colvin in Homs hat Vanity Fair dankenswerter Weise Evgenia Peretz Geschichte von 2002 über "The Girls at the Front" online gestellt, in der sie große Kriegsreporterinnen porträtiert: Christiane Amanpour, Maggie O'Kane, Jacky Rowland, Janine di Giovanni und eben Marie Colvin: "Abgesehen von ihrer Feuerfestigkeit geben sie zu, dass die Erfahrungen von Reporterinnen im Krieg sich von denen der Reporter unterscheidet. In traditionellen Gesellschaften, die noch dem Glauben anhängen, dass Frauen im Grunde harmlos sind, kommen sie unbehelligt oder sogar unbemerkt durch die Checkpoints. Unter muslimischen Extremisten, wie in Afghanistan, haben sie als einzige Zugang zu einer Hälfte der Bevölkerung, während die andere Hälfte diese westliche Frauen als andersartige Wesen betrachtet - ein drittes Geschlecht, wie Rowlands sagt -, das sowohl gemieden wie respektiert wird. Es gibt, meinen einige, einen wesentlichen, geradezu biologischen Unterschied in der Art, wie sie und ihre männlichen Gegenparts den Krieg wahrnehmen. 'Jungs sind von ihrem zweiten Lebensjahr an fasziniert von Spielzeug, das ändert sich nicht mehr' sagt Colvin. 'Das interessiert mich nicht, wenn ich aus einem Krieg berichte. Ich finde, die Geschichte sind die Menschen.'"

William D. Cohan erzählt, wie die Online-Videothek Netflix versucht, vom Versandverleih auf Streaming-Dienst umzustellen, und dabei so viele Fehler machte, dass ihm die Kunden in Scharen davonliefen. 
Archiv: Vanity Fair

Eurozine (Österreich), 24.02.2012

Klaus-Michael Bogdal, Autor einer Geschichte der Rom-Völker, erklärt in Eurozine, wie schwierig es ist, die Geschichte eines Volks zu fassen, das mangels Schriftkultur kein Selbstbild von sich verbreitet. Es ist eine Geschichte von Zuschreibungen, und eine Erzählung ex negativo, erklärt er in Eurozine: "Sie gehören zu denen, die nicht von Anfang an da waren, die man nicht erwartet hat und die deshalb wieder verschwinden müssen. Sie gelten als unheimlich, weil sie 'überall lauern' und nach undurchschaubaren Regeln 'kommen und gehen'. Daraus erwächst ein konstantes Moment der Wahrnehmung und Begegnung: die Ambivalenz von Verachtung und Faszination. Schon früh, auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, entsteht ein Grundbestand an Stereotypen, Bildern, Motiven, Handlungsmustern und Legenden."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Mittelalter, Bogdal, Michael

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.02.2012

In der Lösung der Affäre um den Bundespräsidenten lieferte Deutschland ein schönes, demokratisches Beispiel, wenngleich die Angelegenheit im Vergleich mit dem drohenden Einsturz des Hauses Europa eher geringfügig ist, findet der Schriftsteller Attila Sausic, der im Umgang mit der "Causa Wulff" das Wesen der Demokratie erkennt: "Das Amt des Bundespräsidenten ist ein hohes, aber kein sehr großes Amt. [...] Weil es allerdings Teil der demokratischen Ordnung ist, wird auch dieses Amt ernst genommen. Gerade dieser oft verhöhnte und manchmal auch lächerliche Ordnungsfimmel, diese auch in der Politik zu beobachtende Hygiene-Besessenheit unterscheidet die Deutschen von jenen Völkern, die fünf gerade sein lassen. Deshalb reicht Europa bis dorthin, wo der Rasen noch gemäht wird, wo die Häuser angestrichen und die Straßen markiert werden, damit die Entgegenkommenden nicht aneinander geraten, wo also alles einen sichtbaren Rand, klare Konturen und eine ausgeprägte Form hat. Dieses Herumwerkeln an der Ordnung des Lebens, die Regelung jeder Lappalie ist einerseits ziemlich langweilig, andererseits äußerst nützlich und führt letzten Endes zu jener Berechenbarkeit, ohne die ein moderner Staat und eine moderne Demokratie nicht gut funktionieren kann und in der es sich auch nicht unbequem leben lässt."
Stichwörter: Attila, Hygiene

Times Literary Supplement (UK), 25.02.2012

Das TLS bringt noch einmal einen Bericht seiner getöteten Reporterin Marie Colvin aus dem Kosovo-Krieg von 1999, der sehr schön zeigt, wie sie gearbeitet hat: "Dass die Nato (irrtümlich) die UCK-Baracken in Kosare bombardiert hatte, hörte ich in einer jener Unterhaltungen, die man spät nachts führt und die nie als Unterhaltungen über den Krieg beginnen. Einer kommt aus Schlafräumen, in denen die Feldbetten aneinandergereiht sind und Kalaschnikows über den Bettstangen hängen, gießt etwas Öl in den Zinntopf oder was immer er findet, tränkt ein Stück Stoff darin und zündet erst den Fetzen an und dann eine Zigarette. Das lockt auch die anderen Nicht-Schlafenden an und wir stehen herum, bieten uns Zigaretten an und rauchen. Immer hörte man im Hintergrund die Einschläge der Artillerie, aber niemand erwähnte sie - sie waren nicht nah genug, um Besorgnis zu erregen. Wir hatten gelernt, dass man sich nur sorgen musste, wenn man ein Pfeifen hörte, das eine Granate nah herankam, und dann konnte man nichts anderes tun als sich auf den Boden zu werfen."

Ari Kelman liest eine Reihe von Neuerscheinungen zum amerikanischen Bürgerkrieg, der vor 150 Jahren begann. Thea Lenarduzzi stellt Gedichte der Lyrikerin Antonia Pozzi vor.

La vie des idees (Frankreich), 23.02.2012

In einem sehr interessanten und ausführlichen Gespräch (Teil 1 und Teil 2) mit Nicolas Delalande wirbt der in Montreal lehrende Historiker Anastassios Anastassiadis für Verstädnnis für Griechenlands heutige Probleme: Sie resultierten unter anderem daraus, dass Griechenland im 20. Jahrhundert noch mehr als die meisten anderen europäischen Länder von Kriegen und Bürgerkriegen traumatisiert wurde, an denen die Deutschen bekanntlich nicht ganz unschuldig waren: "Die Zeit der Besatzung war entsetzlich, die griechische Widerstand sehr stark. Er verlängerte sich in einen mörderischen Bürgerkrieg, den ersten wirklichen Konflikt des Kalten Krieges. Während der Rest Europas (zumindest im Westen) nach 1946 mithilfe des Marshall-Plans an seinen Wiederaufbau ging, hat der selbe Plan in Griechnland bloß zur Finanzierung des Bürgerkriegs gedient, der bis 1949 dauerte. Erst 1950 konnte der Wiederaufbau angegangen werden, bevor das Land dann 1967 in die Militärdiktatur taumelte."

Economist (UK), 25.02.2012

Sicher wäre ein Iran mit einsatzfähigen Nuklearwaffen eine kaum zu unterschätzende Bedrohung für die Region, an der keiner interessiert sein kann, konzediert dieser Artikel, der dennoch sehr skeptisch bleibt, was einen womöglichen, israelischen Präventionsschlag im April und dessen Konsequenzen betrifft. Stattdessen schlägt er eine Strategie der Diplomatie und Sanktionen vor: "Der Profit aus dem Ölgeschäft kommt der Regierung wegen eines Embargos bald zum Erliegen. Die Sanktionen sind hart, das Finanzsystem ist zunehmend isoliert und die Währung hat drastisch an Wert verloren. Die Berfürworter eines Angriffs argumentieren, dass eine militärische Demütigung dem Regime den letzten Rest geben würde. Genauso wahrscheinlich könnte es die Iraner aber auch um ihre Anführer sammeln. Unterdessen greift ein politischer Wechsel im Nahen Osten um sich. Das Regime in Teheran ist gespalten und hat den Rückhalt unter seiner Bevölkerung verloren. Schlussendlich wird sich auch dort ein von den Massen getragener Protest wie 2009 ausformen. Ein neues, von den Iranern selbst etabliertes Regime wird wahrscheinlich wesentlich eher dazu bereit sein, auf die Bombe zu verzichten, als eines, das gerade einen amerikanischen Angriff erlebt hat." Dazu noch etwas ausführlicher dieser Artikel, über die Fortschritte des iranischen Nuklearprogramms informiert dieser Text. Außerdem wird dazu komplementär Trita Parsis Buch über die Diplomatie zwischen den USA und Iran besprochen.

Besprochen werden außerdem ein neues Buch, das die ägyptische Revolution von der ägyptischen Geschichte her in den Blick nimmt, der postum veröffentliche Gesprächsband mit dem Historiker Tony Judt (hier eine Artikelauswahl) und die große Ausstellung mit Fotografien von Cindy Sherman im Museum of Modern Art in New York.
Archiv: Economist

Polityka (Polen), 24.02.2012

Im Interview mit Joanna Ciesla spricht der Sozialpsychologe Michal Bilewicz (hier auf Deutsch) über Patriotismus, Fußballfans und über das gespaltene Verhältnis der Polen zur eigenen Nation: "Im Allgemeinen löst Kritik an einer Nation bei deren Angehörigen ein Gefühl der Bedrohung aus; die Menschen versuchen, sie totzuschweigen oder die Kritiker in Grund und Boden zu verdammen, sie eignen sich Vorurteile an. Bei den Polen dagegen gibt es eine Art Schizophrenie. Wir sind bereit, für unsere Nation zu sterben, aber fragt jemand danach, wie die Polen sind, antworten wir: Diebe, Faulpelze. Gleichzeitig identifizieren wir uns mit dem Polentum durchgängig und stark. Wir fühlen uns mehr als Polen denn beispielsweise als Europäer oder Warschauer, doch interessanterweise auch mehr als Polen denn einfach als Menschen."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Patriotismus, Schizophrenie

New York Times (USA), 26.02.2012

Andrew Rice erzählt im Magazine aus Nigeria, wie der Regisseur Kunle Afolayan dem künstlerisch wertvollen Film in Nigeria zu seinem Recht verhelfen will. Die Aufgabe ist herkulisch angesichts der häufigen Stromausfälle, dem schlechten Equipment, mangelnder finanzieller Unterstützung und einem Vertriebssystem, dem Alaba International Market, das seinen Profit nach zwei Seiten verteidigen muss: gegen teures Kunststreben und gegen illegale Kopien. "Carl Laemmle würde die Situation der Vermarkter vermutlich wiedererkennen. Als er [1912] Universal Pictures gründete, geriet er sofort in Streit mit Thomas Edison, der Patente an Filmkameras und -projektoren hielt. Edison führte einen legalen Krieg gegen 'Bauernfänger', unautorisierte Kopierer, die einen Film einfach nehmen und wiederveröffentlichen und dabei oft noch die Copyright-Vermerke abschneiden. Wie Edison es sah, gab ihm sein intellektuelles Eigentum das Recht auf ein Monopol an allen Filmproduktionen." Edison strengte 289 Klagen gegen Läemmle an. Als er schließlich 1917 vor dem Supreme Court endgültig verlor, waren Läemmle und andere Filmproduzenten bereits nach Kalifornien gezogen. "'Sie waren Piraten", sagt Bic Leu, ein Fulbright Fellow, der Nollywood studiert hat. 'Sie zogen nach L.A., um Thomas Edison loszuwerden.'"

Außerdem: Cathy Horyn beschreibt die Erfolgsgeschichte der britischen Modedesignerin Stella McCartney. In der Sunday Book Review geht es u.a. um eine Geschichte der einflussreichsten schwulen Autoren Amerikas, Tom McCarthys Roman "Men in Space", die Briefe Joseph Roths und einen Band über den Streit zwischen John D'Agata und Jim Finegal, einem Fact-Checker des Believer Magazine über Fakten in einem Essay D'Agatas (mehr über Streit von Gideon Lewis-Kraus im Magazine. Empfohlen sei in dem Zusammenhang auch auf Ron Rosenbaums Artikel im Smithsonian über den Dokumentarfilmer Errol Morris, dem der Philosoph und Postmodernist Thomas Kuhn einen Aschenbecher an den Kopf geworfen haben soll, weil Morris darauf bestand, dass es "Wahrheit" gibt.)
Archiv: New York Times