Magazinrundschau

Wir müssen noch modern werden

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
14.02.2012. In Letras Libras streiten Enrique Krauze und Javier Sicilia über das richtige Quäntchen Anarchismus. In Elet es Irodalom überlegt Bálint Kádár, wie Budapest vom Berlin-Image profitieren kann. In Le Monde gibt Imre Kertesz Ungarn für die Demokratie praktisch verloren. Polityka kennt die Inspiration jedes Dichters und auch Wislawa Szymborskas: Ich weiß nicht. Im Guardian umkreist Richard Sennett Montaignes Katze. Das TLS versinkt in einer Geschichte der Monster. Für Commentary ist Christopher Hitchens der Justin Bieber Richard Dreyfuss'.

Letras Libres (Spanien / Mexiko), 12.02.2012

Ars criticandi: Der Schriftsteller Javier Sicilia, der sich seit einiger Zeit mit bewunderungswürdigem Mut der mexikanischen Drogenmafia entgegenstellt, und der Publizist - und Letras Libres-Herausgeber - Enrique Krauze führen ein überaus reizvolles Streitgespräch über Krauzes neues Buch Redeemers (mehr hier) und die Bedeutung neuer libertärer Bewegungen wie der Indignados oder Occupy: "Ich halte deren Botschaft sehr wohl für anarchistisch-utopisch", meint Krauze, "und das ist auch sehr gut so. Doch im politischen Leben ist der Anarchismus unmöglich. ('Wir haben ihn nicht verdient', wie Borges gesagt hat.) Die Bedeutung des Anarchismus ist eine moralische. Ich ziehe jedoch die sanfte Version des Anarchismus vor: den Liberalismus. Dieser besteht vor allem in einer Haltung: in der Bereitschaft, zu argumentieren, statt anderen etwas aufzuzwingen; zu beweisen und zu begründen, statt möglichst laut zu schreien. Im Kern steht der Liberalismus nicht für den Willen zur Macht, sondern für den Wunsch, zu wissen. Er glaubt nicht an den Glauben, sondern an die objektive Wahrheit. Deshalb ist die natürliche Grundlage des Liberalismus nicht die Liebe - die sich, wie Sicilia selbst sagt, 'nicht verwalten lässt' -, sondern die Toleranz, die ihrerseits in radikaler Achtung der menschlichen Person besteht, der Menschlichkeit des anderen, dessen, was dieser ist und denkt."
Archiv: Letras Libres

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.02.2012

Moderne Städte gestalten nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Image immer wieder neu. Budapest hat sich jedoch im Vergleich zu anderen Städten in der Region, wie Prag oder Warschau, nur wenig verändert: die Stadt verfügt weder über ein Branding noch stellt die Regierung ausreichende Mittel zur Verfügung, ein zeitgemäßes Image aufzubauen. Der Stadtarchitekt und Urbanist Bálint Kádár, der in Berlin ein gutes Beispiel für die künftige Entwicklung Budapests sieht, ist im Interview von Tibor Bérczes dennoch optimistisch: "Zwar ist Berlin eine größere Stadt als Budapest, hinsichtlich ihrer Maßstäbe und Probleme ist sie dennoch mit unserer Stadt verwandt. Berlin ist eine hoch verschuldete Stadt, die einen großen Schritt wagte und scheiterte. Dann ging sie zu kleinen Schritten über, was eine richtige Entscheidung war. Seitdem Berlin knapp bei Kasse ist, entwickelt es sich viel innovativer und menschenfreundlicher. Heute zieht jeder nach Berlin, der sich nach günstigen Preisen und einem kreativen Umfeld sehnt. Meiner Meinung nach sollte auch Budapest bewusst diese Richtung einschlagen, dann würde es, sobald sich Berlin verteuert, auf der Hand liegen, nach Budapest umzuziehen. Zwar ist in Berlin die Bereitschaft größer, Fremde aufzunehmen, doch war diese Tradition einst auch in Budapest vorhanden und kann wiederbelebt werden."
Stichwörter: Moderne Städte, Branding, Bali

Le Monde (Frankreich), 09.02.2012

Ungarn könne man nur mit einem Bonmot des Malers Marcel Duchamp wirklich verstehen, meint Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz in einem Interview zur politischen Lage des Landes: Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt. Viktor Orban habe das Volk verhext wie der Rattenfänger von Hameln. "Die Frage, die ich mir stelle ist: Weshalb hat Ungarn sich immerzu getäuscht? Als in Europa die Revolution tobte, hat es Maria-Theresia unterstützt! Seit dem 16. Jahrhundert gehörte das Land nacheinander zum ottomanischen Block, zum habsburgischen und schließlich zum sowjetischen. Jedesmal hat es versucht, ein Spiel innerhalb des Blocks zu spielen, der es sich einverleibt hat. Scheinbar ist man damit gut gefahren. Aber eben nur scheinbar." Kertesz' Urteil ist am Ende ziemlich vernichtend: "Ich bin kein Historiker, aber in Ungarn hat es niemals Demokratie gegeben, nicht im Sinne eines politischen Systems, sondern eines organischen Prozesses, der die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Im Fall Ungarns wurde diese Entwicklung durch den Aufstieg des ottomanischen Reichs im 16. Jahrhundert blockiert. Und dieser Rückstand wurde nie aufgeholt. Historisch gesehen hat es praktisch keinen Sinn, in diesem Land Demokratie zu erwarten."
Archiv: Le Monde

Vanity Fair (USA), 01.03.2012

S. L. Price beschreibt in einem langen, liebevollen Essay den Einfluss von Barry Levinsons 1982 gedrehter Komödie "Diner" um sechs junge Männer (Tim Daly, Mickey Rourke, Daniel Stern, Kevin Bacon, Steve Guttenberg, and Paul Reiser), die sich gerade eben noch vor dem Erwachsensein drücken können. Der Film war einflussreicher als "Bladerunner", "Sex, Lies and Video Tapes", "Raging Bull" oder "Blue Velvet", meint Price: "'Diner's' bahnbrechende Beschwörung männlicher Freundschaft veränderte die Art, wie Männer miteinander umgingen - nicht nur in Buddie-Filmen, sondern auch in Mafia-, Polizei- und Feuerwehrfilmen, in der Werbung und im Radio. 2009 meinte die Fernsehkritikerin des New Yorker, Nancy Franklin, als sie über die Fernsehserie 'Men of a Certain Age' sprach, dass 'Levinson jedesmal ein Honorar bekommen sollte, wenn zwei oder mehr Männer in einem Café abhängen. Sie lag halb richtig. Die Männer müssen auch reden."

Hier eine wunderbare Szene, in der Mickey Rourke mit seinen Freunden wettet, dass die kühle Carol Heathrow beim ersten Date seinen Schwanz anfassen wird, und sich dann aus der Geschichte wieder, ähm, herauswindet:


Archiv: Vanity Fair

Espresso (Italien), 06.02.2012

Maya-Prophezeiung hin oder her, die Welt geht ständig unter, meint Umberto Eco. Zumindest in Italien stülpt sich alles um, und das seit Jahrtausenden. "Für den Weltuntergang spricht sicherlich, dass die Welt schon jetzt durcheinander gerät. Denken Sie nur daran, dass die Reichen einst in luxuriösen Palästen im Zentrum Roms wohnten und die Armen am kargen Rand; heute sind die Häuser rund um das Colosseum heruntergekommen, mit Hängeklo an der Außenwand, sie werden für wenig Geld abgegeben und verschenkt an Leute, die sich nicht darum scheren. Die korrupten Politiker dagegen ziehen ins [ehemalige Immigrantenviertel] Quarticciolo, stellen Sie sich vor! Früher fuhren die Armen mit dem Zug, und nur die Reichen konnten sich einen Flug leisten. Heute kosten Flüge nichts mehr und die Züge werden immer luxuriöser, mit Bars, die nur für die Oberklasse zugänglich sind. Einst fuhren die Reichen nach Riccione oder im schlimmsten Fall nach Rimini, um ihre Knöchel im Mittelmeer zu benetzen, während auf den abgelegenen Inseln im Indischen Ozean Völker in Armut lebten. Heute sind auf den Malediven nur noch die Politiker von Rang, und in Rimini, da sind nur noch russische Aufschneider, die eben erst der Unterdrückung entkommen sind. Wo wird das enden?"
Archiv: Espresso

Magyar Narancs (Ungarn), 07.02.2012

Der einstige Dramatiker, bekennende Antisemit und nach der Wende als rechtsradikaler Politiker bekannt gewordene István Csurka, zuletzt als Intendant des künftigen nationalistischen Theaters im Budapester "Új Színház" gehandelt, ist Anfang Februar verstorben. Die liberale Wochenzeitung Magyar Narancs erinnert an einen Schriftsteller, der mitgeholfen hat, den Rassismus als feste Größe in der politischen Landschaft Ungarns zu installieren: "Es ist die Schuld des István Csurka, den Nazismus wieder eingeführt und offiziell gemacht zu haben. Durch ihn hat sich der Nazismus in der Öffentlichkeit wieder eingenistet, durch ihn hat er ganze Massen mobilisiert - der Nazismus wurde wählbar. Dass die rechtsradikale Jobbik im 21. Jahrhundert eine massive, mittelgroße Kraft des ungarischen Parlaments sein kann, haben wir Csurka zu verdanken, die Partei selbst hat höchstens die Facebook-Präsenz zum Projekt hinzugefügt. Und dieser legitimierte Antisemitismus oder Nazismus hat das Land vergiftet und gespalten - möglicherweise für immer."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Rassismus

Polityka (Polen), 10.02.2012

Einen Schlüssel zu Lyrik und Lebensphilosophie von Wis?awa Szymborska findet man in ihrer Nobelpreisrede von 1996, auch wenn sie dort nur ganz am Rande und indirekt über sich selbst spricht, erklärt Justyna Sobolewska (hier auf Deutsch) anlässlich des Todes der polnischen Dichterin: "Etwa wenn sie bemerkt: 'Dichter sind heutzutage meist skeptisch und misstrauisch, sogar – und vielleicht vor allem – gegenüber sich selbst. Öffentlich geben sie nur ungern zu, Dichter zu sein – als ob sie sich dessen ein bisschen schämten.' Und wenn sie betont, dass 'Eingebung' nicht Dichtern oder Künstlern vorbehalten sei, sondern überhaupt Menschen, deren Aufgabe darin bestehe, ständig Fragen zu stellen und neuen Herausforderungen die Stirn zu bieten. Menschen also, deren Neugier nicht abkühlt. Kaum ist eine Aufgabe gelöst, 'stellt sich ein Schwarm neuer Fragen ein. Inspiration, was auch immer sie sei, entspringt einem ständigen‚ ich weiß nicht'."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Nobelpreisrede

Guardian (UK), 11.02.2012

Der Soziologe Richard Sennett möchte an die Stelle der Solidarität, die oft genug ein Wir-gegen-sie war, eine neue Form der Kooperation setzen und beruft sich dabei auf Michel de Montaigne, der einst fragte: "Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie nicht eher mit mir spielt als ich mit ihr?" Sennett: "Wie Hans Holbeins Tisch (im Gemälde "Die Gesandten"), war Montaignes Katze ein zu Beginn der Moderne sehr beliebtes Sinnbild, um eine Reihe von Möglichkeiten auszudrücken; der Tisch repräsentierte neue Arten, Dinge herzustellen, die Katze neue Arten, miteinander zu leben. Der Hintergrund der Katze ist Montaignes Politik: kooperatives Leben, frei von Befehlen von oben. Was ist aus diesen Versprechen der Moderne geworden? In einer prägnanten Phrase erklärt der Sozialphilosoph Bruno Latour: 'Wir waren niemals modern.' Damit meint er vor allem, dass die Gesellschaft nie mit all den von ihr geschaffenen Technologien klargekommen ist; vier Jahrhunderte nach Holbein sind die Geräte auf dem Tisch noch immer mystische Instrumente. Was Kooperation betrifft, würde ich Latours Behauptung ergänzen: Wir müssen noch modern werden."

John Barrell empfiehlt Faramerz Dabhoiwalas Geschichte der ersten sexuellen Revolution um 1800 "The Origins of Sex": "Unter heterosexuellen Männern, nicht nur den Reichen und Mächtigen, sondern auch in der Mittelklasse und unter den etwas Bessergestellten, wurde das sexuelle Verhalten als im weitesten Sinne private Angelegenheit betrachtet - mit dem paradoxen Ergebnis, dass eine Reihe von sexuellen Vorstellungen und Praktiken, innerhalb und außerhalb der Ehe, öffentlicher als je zuvor diskutiert, gefeiert und gegönnt wurden."

Weiteres: John Gray findet Noam Chomskys Essays "Making the Future" recht zweifelhaft: Wenn Amerika für alles verantwortlich ist, wo ist der Unterschied zu den Neocons? "Für Chomsky ist ganz wie für die Neocons Amerika der Nabel der Welt. Und er sieht die Weltpolitik durch die gleiche manichäische Linse: Entweder bist Du für Amerika oder dagegen." Im Gespräch mit Emma Brockes tauschen Nathan Englander und Jonathan Safran Foer Artigkeiten über ihre gemeinsame Übersetzung der Haggadah ins Englische aus. Simon Windor liest nicht ganz ohne Interesse Philip Oltermanns Buch "Keeping up with the Germans". Und Brian Dillon vertieft sich in Peter Sloterdijks "Bubbles".
Archiv: Guardian

Times Literary Supplement (UK), 10.02.2012

Marina Warner ist total in Wes Williams Geschichte "Monsters and Their Meanings in Early Modern Culture" versunken, die sie gelehrt hat, Monster als moralischen Kompass zu begreifen: "In einer Reihe subtiler und intensiver Analysen liest er den Kanon der französischen Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhundert – von Rabelais bis Racine, über Montaigne und Pascal -, um die Verbindungslinien freizulegen zwischen dem Reden von Monstern, Familienstreits, Krisen im Gemeinwesen oder im sozialen Gewebe sowie dem ewigen Kampf in der Literatur, in dem der Realismus mit der Fantasie, und die Tragödie und das Epos mit ihrem oft verleugneten Schatten, der Romanze, im Wettstreit stehen."

Außerdem: Alan Brownjohn stellt den neuesten Gedichtband von Poet Laureate Carol Ann Duffy vor. Claire Harman liest Briefe von Charles Dickens.

Gizmodo (USA), 07.02.2012

Nichts bindet Konsumenten stärker an ihr Telefon als Apps wie Instagram, ein Dienst, der es erlaubt, in Echtzeit Fotos zu teilen, schreibt Mat Honan für Gizmodo. Und Instagram funktioniert bisher nur auf dem Iphone. Kein Wunder, dass von Android- und Windowsphonenutzern sehnsüchtige Fragen kommen. Da ist nur ein Problem: das Wachstum. "Instagram hat zehn Angestellte, nur acht davon in den USA. Und doch hat es im letzten Jahr gut 15 Millionen Nutzer an sich gezogen, die ungefähr 500 Millionen Fotos hochluden." Die Wachstumskrise soll nach Honan jetzt mit Kapital von Twitter-Gründern bewältigt werden.
Archiv: Gizmodo
Stichwörter: Androide, Apps, Iphone, Instagram, Android

Eurozine (Österreich), 08.02.2012

Der Politologe Hartmut Elsenhans schreibt in NAQD, einer französisch-arabischen Zeitschrift (und auf Englisch in Eurozine), über das einzige Rezept, das den arabischen Ländern dauerhaft Demokratie bringen kann: "Der einzige Weg ist es, ökonomische Entwicklung im Interesse der breiten Massen voranzutreiben, und das geht nur, indem man schnell anständig bezahlte Jobs als Basis für die Autonomie all jener Menschen schafft, auf denen die Demokratie letztlich beruht... Hohe Beschäftigungsniveaus hängen von der Nachfrage nach lokalen Gütern mit einem geringen Anteil importierter Güter ab. Die interne Nachfrage nach vor Ort produzierten Gütern muss gesteigert werden."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Arabische Länder

Commentary (USA), 01.02.2012

Christopher Hitchens mochte den Ruhm mehr als Andrew Ferguson lieb war. Er erinnert sich an eine Szene auf einer Party, mit Hitchens und Richard Dreyfuss. "Hitchens, der damals Washington-Kolumnist von The Nation war, stand ausdruckslos da, während Dreyfus einen Artikel, den Hitchens gerade geschrieben hatte, mit ausgiebigsten Lob überschüttete, und dann seine Arbeit insgesamt, und schließlich die Tatsache, dass er überhaupt existierte und mit seiner Person und dem, wofür er einstand, ein Beispiel für die ganze Menschheit abgebe... Nach dem Ende dieses Vulkanausbruchs dankte Hitchens Dreyfuss, und der Kinostar wandte sich um und schwebte davon wie ein Schulmädchen nach einem Backstage-Flirt mit Justin Bieber. Noch bevor ich meinem Erstaunen Ausdruvck geben konnte, bremste mich Hitchens mit eine Wolke aus seiner Rothman-Zigarette ab. 'Das passiert mir immerzu', sagte er."
Archiv: Commentary