Magazinrundschau

Zuerst Piraten, dann Lords

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.10.2008. Im Nouvel Obs erklärt Olivier Roy, warum Fundamentalisten jeder Couleur Kultur ablehnen. In Atlantic feiert Andrew Sullivan das goldene Zeitalter des Journalismus. In ADN cultura fordert Paolo Coelho, im Umgang mit dem Internet von den britischen Piraten zu lernen. Für Commentary ist die Finanzkrise staatsgemacht. Für den Economist ist der Fall Kundera nur ein Tröpfchen in einer Giftwolke.  

Nouvel Observateur (Frankreich), 16.10.2008

Es ist völlig absurd, die religiösen Fundamentalismen als Antireaktion auf die Moderne darzustellen, meint der Islamwissenschaftler Olivier Roy im Gespräch mit dem Nouvel Obs, vielmehr seien sie gerade Akteure der Moderne: "Die Globalisierung hat die fundamentalistischen Formen des Religiösen bestärkt, ob es sich nun um den islamischen Salafismus oder den Protestantismus der Evangelikalen handelt. Diese Fundamentalismen sehen in den weltlichen Kulturen - und zwar sowohl in den traditionellen als auch den modernen - reines Heidentum. Sie sind gegen Kultur, denn sie bringt der Religion nichts und ist also unnütz, oder sie wird sogar als Hindernis für eine authentische religiöse Praxis gesehen. Die Fundamentalisten leiden nicht nur nicht unter dem Absterben der Kulturen im Zeichen der Globalisierung, sie profitieren sogar davon." Roy hat in Frankreich gerade ein neues Buch publiziert: "La Sainte Ignorance" (Seuil).

The Atlantic (USA), 01.11.2008

Ausführlich und durchaus erhellend erklärt Andrew Sullivan, ehemaliger Chefredakteur von The New Republic, "warum ich blogge". Die Streitfrage, ob Blogs den langen Zeitungsartikel ersetzen werden, hält er für unnütz: Schließlich habe der Jazz auch nicht die klassische Musik ersetzt. "Tatsächlich ist dies eine goldene Zeit für den Journalismus. Die Blogosphäre hat dem Schreiben ein ganz neues Idiom hinzugefügt und eine ganze neue Generation mit der Nonfiction bekannt gemacht. Sie erlaubt Autoren auf eine Art laut nachzudenken, die es nie vorher gab. Gleichzeitig wurde ein Hunger und ein Bedürfnis nach traditionellem Schreiben freigelegt, die in einer Zeit des Fernsehens abzunehmen schienen."

Weitere Artikel: James Fallows wundert sich über die plumpe und sich selbst ein Bein stellende Selbstdarstellung der Chinesen. Warum die Flughafenkontrollen schlicht für die Katz sind, erzählt Jeffrey Goldberg, der unter anderem ohne aufzufliegen zwei Dosen Budweiser Light in einem falschen Bierbauch aus Neopren durch die Kontrolle brachte. Paul Bloom offeriert neueste Erkenntnisse zum Ich (als erste Person Plural). Sandra Tsing Loh kommentiert Dee Dee Myers Buch "Why Women Should Rule the World", "ob der Leser es will oder nicht". Christopher Hitchens, der Frenchs Biografie gelesen hat, schaudert es vor V.S. Naipaul.
Archiv: The Atlantic

ADN cultura (Argentinien), 19.10.2008

Susana Reinoso führt ein Interview mit dem brasilianischen Autor Paolo Coelho, der sich auf der Frankfurter Buchmesse für die ersten 100 Millionen verkauften Exemplare seiner Werke feiern ließ: "Keine Ahnung, was ein Argentinier, ein Norweger und ein Chinese gemeinsam haben, aber sie alle lesen mich. Das lässt hoffen: Es gibt immer noch die Brücke der Kultur. Während alles zugrunde geht - die Wirtschaft und die Politik -, sind die Leute trotzdem imstande, sich mit Hilfe der Geschichten, der Literatur, der Malerei, der Musik zu verständigen. Was die Internetpiraterie betrifft: Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Aber keine Angst: Wenn alle Piraten sind, muss man eben ein neues System schaffen. Das Illegale wird legal. Sehen Sie, wie es mit den Engländern war: Zuerst waren sie Piraten, dann Lords, und so schufen sie ein Weltreich. Internet ist ein sehr positives und starkes Instrument sozialer Aktivität. Ich bin täglich drei Stunden im Internet. Die einzige Gefahr sehe ich in den Suchmaschinen, da kann man manipulieren. Das Buch hat trotzdem weiterhin einen besonderen Wert im Internet: Was man auf dem Markt nicht findet, findet man dort."
Archiv: ADN cultura

Commentary (USA), 01.11.2008

Der Wirtschaftsjournalist John Steele Gordon sieht die gegenwärtige Finanzkrise nicht als Resultat eines losgelassenen Kapitalismus, sondern im Gegenteil als Folge des Versagens der quasi staatlichen, nur scheinbar unabhängigen Banken Fannie Mae und Freddie Mac, die auf Weisung der Politiker - unter anderem im Rahmen der "affirmative action" - Schulden in nie gekanntem Maße anhäuften und dabei "politisch bis in die Fingerspitzen" waren: "2007 wurden Fannie und Freddie 1.200 Milliarden Dollar an Außenständen in Hypotheken zugeschrieben". Nach Neuregulierungen in der Clinton-Ära "durften Fannie und Freddie das bis zu Vierzigfache ihres Kapitals in Hypotheken investieren. Normale Geschäftsbanken waren dagegen auf das Zehnfache ihres Kapitals begrenzt. Kurz gesagt erlaubte die Regierung Fannie und Freddie eine flagrante Unterkapitalisierung, um so die Zahl der Hypotheken erhöhen zu können - somit waren sie gegen die Pleite nicht mehr versichert... Dies war schlimm genug, aber die Politik machte es noch schlimmer. Fannie und Freddie gehörten bald zu den größten Finanzinstituten auf der Welt, aber anders als andere profitorientierte Institute hatten sie ihre Hauptquartiere in Washington, D.C. Managment und Aufsichtsrat kamen aus der politischen Welt. Und einige waren korrupt... Beide Firmen vergaben großzügig Spenden, vor allem an Kongressmitglieder, die in ihren Kontrollgremien saßen."
Archiv: Commentary

London Review of Books (UK), 19.10.2008

John Lanchester sieht die Ursachen für die Finanzkrise ganz woanders: "Zusammengefasst: Ein riesiger unregulierter Boom, dessen Gewinne direkt in private Taschen flossen, auf den ein gigantischer Crash folgte, dessen Verluste verstaatlicht wurden. So sollte das Finanzsystem buchstäblich keiner Theorie zufolge funktionieren. Was da passiert ist, ist für Anhänger des freien Marktes ebenso grässlich wie für Sozialdemokraten oder richtige Linke. Aber an Alternativmodellen scheint es gänzlich zu fehlen: da, wo die Linke herausfordernd stand, ist heute ein ideologisches und theoretisches Vakuum. Der Kapitalismus hat keinen globalen Widersacher mehr, und das just in dem Moment, in dem er ihn am dringendsten bräuchte - und sei es nur, um die Begriffe und Wert zu klären und den Chor aus Hohn und Schadenfreude anzustimmen, der in diesem Moment weiß Gott angemessen wäre. Ich würde ja selbst gerne losschmettern, wäre ich nicht gelähmt von der Angst."

Weitere Artikel: Frank Kermode hat Philip Roths jüngsten Roman "Indignation" gelesen und sortiert ihn ein ins Gesamtwerk des Autors. David Runciman schildert sein langjähriges Leben und Leiden mit dem jetzt nicht mehr existenten Fußballverein FC Wimbledon. Die Londoner Rothko-Ausstellung hat Peter Campbell besucht. Jeremy Harding schreibt über Ezra Pounds Aufenthalt in Rapallo.

La vie des idees (Frankreich), 17.10.2008

Man spricht angesichts der Finanzkrise so gern von der Rückkehr des Staates, notiert der Philosoph und Theoretiker der Civil Society Bruno Bernardi, aber ganz so einfach sei es nicht: "Die Verstaatlichungen, ob teilweise oder vollständig, offen oder bemäntelt, die wir gerade erleben, erstrecken sich alle auf Finanzunternehmen. Sie stellen also nach Lage der Dinge weder die Rückkehr einer staatlichen Wirtschaft dar, noch die Rückkehr des Staat als Unternehmer, sondern etwas grundlegend Neues: die Institution des Staats, der einen Finanzmarkt leitet, was folglich den Umbau des Markts in eine staatliche Institution bedeutet oder den des Staats in eine Einrichtung des Markts."

Outlook India (Indien), 27.10.2008

Leicht säuerlich reagiert Sanjay Suri auf die Nachricht vom Booker-Preis für Aravind Adigas Roman "Der weiße Tiger" (Leseprobe): "Es liegt eine Menge Wahrheit in dem, was er über die Wut der Unter- und Mittelschichten Indiens sagt. Aber die Schwierigkeit, die viele mit diesem Buch haben, liegt in seinem Ton, in der der kalkulierten Überblendung seiner Beobachtungen mit dem, was ein westliches Auge gern sehen möchte."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Booker Preis, Mittelschicht

Krytyka Polityczna (Polen), 20.10.2008

Wenn es in Polen ein linkes intellektuelles Milieu gibt, dann ist die Zeitschrift Krytyka Polityczna (Politische Kritik) sicherlich sein Zentrum. In der letzten Ausgabe (hier das Inhaltsverzeichnis) bildet "un-menschliche Politik" einen thematischen Schwerpunkt. Dazu schreibt die Kultursoziologin Kinga Dunin: "Unser Verhältnis zur Natur und Technik muss neu überdacht werden. Die Richtung sollte für Linke klar sein: die Dimension der moralischen Verantwortung muss erweitert, eine neue, gerechtere Welt ... geschaffen werden. Schon allein die Vorstellung einer solchen Welt ist eine riesige intellektuelle Herausforderung, und Politik bedeutet Entscheidungen, die hier und jetzt getroffen werden müssen. Was sollte ihre Grundlage und Motivation sein, jenseits raffinierter Theorien und Weltanschauung? Mitleid. Das hat die Linke immer ausgezeichnet. Das Fehlen von Mitleid führte zu ihrer Kompromittierung im Totalitarismus. Viele typisch linke Reflexe kann man erklären, wenn man sie auf Empathie bezieht."
Stichwörter: Empathie, Totalitarismus

Economist (UK), 17.10.2008

Recht nüchtern kommentiert der Economist die Entdeckung jener Akte, die Milan Kunderas Denunziation eines Spions zu belegen scheint: "Wie Milan Kundera selbst so treffend schrieb, 'ist der Kampf des Menschen gegen die Macht der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen'. In totalitären Regimen haben Märchen mit gutem und schlechtem Ausgang oft über die Wahrheit obsiegt. Mancher Held des Prager Frühlings im Jahr 1968 war nach dem kommunistischen Putsch noch unter den enthusiastischsten Befürwortern der mörderischen Säuberungen Stalins. Adam Hradilek [der Finder der Polizeiakte, PT] nimmt an, dass Kundera aus Eigeninteresse, nicht aus Bösartigkeit oder Überzeugung gehandelt hat. Millionen Menschen standen damals vor ähnlichen Entscheidungen. Manche habe ihre Taten eingestanden; viele haben es nicht. Unzählige Episoden dieser Art schweben über Osteuropa wie eine Giftwolke."

In weiteren Artikeln geht es unter anderem um die mögliche Verwendung von Papier als Transistor und die Geschäftserfolge des Paten des Hip-Hop Russell Simmons. Besprochen werden eine Biografie (Verlagsseite) des Milliardärs Warren Buffett, Alexander Roses Geschichte des "Amerikanischen Gewehrs", Ted Gioias Blues-Chronik "Delta Blues" und eine Ausstellung mit Renaissance-Porträts in Londoner National Gallery.

In der Titelgeschichte "Auf Abstand zum Kapitalismus" erklärt die Zeitschrift, "was schief gelaufen ist, und - noch wichtiger für die Zukunft - was nicht." Mit seinen wirtschaftlichen Prognosen für die Zukunft lag der Economist ja bisher gar nicht schlecht.
Archiv: Economist

Espresso (Italien), 17.10.2008

Politik und Religion werden nicht mehr nur jenseits des Atlantiks auf unselige Weise verknüpft, beklagt Umberto Eco in seiner Bustina di Minerva. Auch in Ecos katholischem Heimatland gewinnen die Fundamentalisten unter den Christen an Fahrt. "Während in der Vergangenheit die Fundamentalisten sich [in den USA] in scharfer Abgrenzung zu den Katholiken definierten, nähern sich heute die Katholiken immer näher den Positionen der Fundamentalisten an - und das nicht nur in Amerika (man beobachte nur die wunderliche Rückkehr des Antidarwinismus, obwohl die Kirche auf der Front der Evolutionstheorie schon lange einen Waffenstillstand vereinbart hat). Dass sich die italienische Kirche nicht auf die Seite des praktizierenden Katholiken Prodi geschlagen hat, sondern mit einem konfessionslosen Geschiedenen und Lebemann paktiert, lässt den Verdacht aufkommen, dass die Stimmen der Gläubigen auch in Italien demjenigen Politiker angeboten werden, der unabhängig von irgendwelchen religiösen Werten dazu bereit ist, den dogmatischen Kräften, die ihn stützen, ein Maximum an Zugeständnissen zu machen."
Archiv: Espresso

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.10.2008

Seit der Wende ziehen immer mehr Ausländer nach Ungarn. Dennoch hat der ungarische Staat keine Strategie, wie diese Einwanderer in ihre neue Umgebung eingebunden werden könnten. Auch die Bevölkerung ist nicht immer offen für Neuankömmlinge, erklärt Gabor Michalko, Mitabeiter am Geografischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA), im Interview: "Die Ungarn sind im Umgang mit Fremden ziemlich vorsichtig, manchmal sogar misstrauisch und ablehnend, sie öffnen und befreunden sich nur langsam. Das ist leider ein ererbtes Muster. Zwar hat man in den vergangenen zwei Jahrzehnten seit der Wende in dieser Hinsicht zahlreiche positive Veränderungen feststellen können, da ja eine neue Generation aufgewachsen ist, die trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten viel einfacher ins Ausland gehen und andere Muster kennenlernen kann, dennoch dauert dieser Prozess unheimlich lange. Hinsichtlich der Sprachkenntnisse ist keine deutliche Verbesserung eingetreten, und die Ungarn sind - sowohl im wortwörtlichen Sinne als auch in ihrer Mentalität - weiterhin immobil."

Figaro (Frankreich), 16.10.2008

In einem Interview spricht der Mittelalterexperte Jacques Le Goff über die "Rätsel", welche die Geschichte unaufhörlich aufgibt, und die Beharrlichkeit, mit der sich Legenden und falsche Behauptungen in der Historiker-Zunft halten. So werde das Bild vom barbarischen Mittelalter keineswegs nur von Ungebildeten immer wieder aufgewärmt, sondern auch von "gelehrten Leuten wie kürzlich wieder Alain Minc oder Jacques Attali. (...) Interessanterweise reichert man eher Persönlichkeiten mit Geheimnissen an, die man gut kennt - zum Beispiel im Fall von Napoleon, von dem man sicher weiß, dass er 1821 an Krebs gestorben ist und keineswegs mit Arsen vergiftet wurde, wie manche behauptet haben -, als solche, deren Biografie verschwommen ist. Vielleicht deshalb, weil einen bei den Personen, die uns faszinieren, die Realität nicht befriedigt, sobald sie einmal erwiesen ist. Man zieht es vor, sich weiter etwas auszudenken..."
Archiv: Figaro

New York Review of Books (USA), 06.11.2008

Robert English erinnert an den Chauvinismus, mit dem Georgiens erster Präsident Swiad Gamsachurdia die Abchasen und Osseten nachhaltig verschreckt hat: "Der UdSSR zu entkommen, war das vorrangige Ziel, begleitet von einer romantischen Idee des geeinten georgischen Nationalstaat. Die dunkle Seite dieser Vision war der Wunsch, Rechnungen mit denjenigen Minderheiten zu begleichen, denen man vorwarf, auf Georgiens Kosten von der Kreml-Politik des 'Teile und Herrsche' profitiert zu haben, vornehmlich Abchasen und Osseten. Diese Gruppen wurden von Gamsachrudia als 'undankbare Gäste' im georgischen Haus geschmäht."

Die beiden "Human-Rights-Watch"-Mitarbeiter, Jose Miguel Vivanco und Daniel Wilkinson, berichten, wie sie mit großem Aplomb aus Venezuela ausgewiesen wurden, nachdem sie die Politik von Präsident Hugo Chavez kritisiert hatten. "Warum hat Chavez das getan? Ein Brasilianer in dem Flugzueg, mit dem wir das Land verlassen mussten, bot eine in Lateinamerika weitverbreitete Sicht an: 'Chavez ist verrückt.' Aber die Menschenrechtsaktivisten, mit denen wir in Venezuela arbeiten, ziehen einen weitaus nüchterneren Schluss. In ihren Augen hat Chavez seinen Landsleuten eine wohlüberlegte Botschaft gesandt: Er wird nicht zulassen, dass sich ihm die Menschenrechte in die Quere stellen."

Weiteres: Der Philosoph Kwame Anthony Appiah lernt aus David Leverings "God's Crucible", welchen Anteil der Islam an der Identitäts Europas hatte: Es waren andalusische Chronisten, die nach Karl Martells Sieg bei Poitiers 754 von den "Europäern" sprachen - was Appiah feststellen lässt: "Es gab Europäer, bevor es Franzosen oder Deutsche oder Italiener oder Spanier gab." Amy Knight stellt Eric Krauts Dokumentarfilm über den Mord an Anna Politkowskaja "Letter to Anna" vor. Eliot Weinberger erinnert an die große Zeit der Tang Dynastie. Harold Bloom liest Max Weinreichs Geschichte "The Yiddish Language". Die Prominenz der intellektuellen Linken - von Joan Didion bis Paul Krugman - liefert außerdem kurze Notate zu der Frage, was bei den amerikanischen Wahlen auf dem Spiel steht.