Im Kino

Endstation Lethe

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
19.03.2008. Roy Andersson sperrt in seinem Film "Das jüngste Gewitter" kalkweiße Untote in starre Tableaus voller Elend, Musik und Komik. Der ägyptische Altmeister Youssef Chahine verbindet in "Chaos" auf verstörende Weise die melodramatische Soap-Opera-Form mit beißender Gesellschaftskritik.
Dramen des Alltags: Eine Frau auf einer Bank, die klagt, dass niemand sie lieb hat, daneben ein dicker Mann mit Hund, dem sie sagt, er soll abhauen. Die Frau weint, später singt sie. Eine jüngere Frau, eine Lehrerin, die vor ihrer Klasse weinend zusammenbricht, weil ihr Mann sie als Hexe beschimpft hat. Ein Mann, der mit dem Auto im Stau steht und im Schneckentempo von rechts nach links durchs Bild fährt, erzählt einen Traum vom Familienfest, bei dem er das zweihundert Jahre alte Edelgeschirr der Familie zertrümmert, deshalb vor Gericht muss und zum Tod auf dem Elektrischen Stuhl verurteilt wird. Roy Andersson zeigt uns diesen Traum. Ebenso wie, gegen Ende, einen weiteren, der viel glücklicher ist, einen Hochzeitstraum, es spielt die Musik dazu, ein Haus fährt ein in den Bahnhof und dann wieder davon. Aus dem einen Traum zu erwachen, ist schön; aus dem anderen zu erwachen, ist es nicht.



Anderssons Einstellungen sind Tableaus. Kaum einmal bewegt er die Kamera und wenn, dann ganz langsam. In diesen Tableaus gibt es stets ein, zwei Zentralfiguren, dahinter, zur Seite oft Zeugen, die stumm bleiben, herumstehen - und sitzen, als habe sie dort ein Regisseur oder Maler platziert. Die meisten der Personen, sei es im Zentrum, sei es zur Seite, sind von trauriger Gestalt, manchmal grotesk. Höhepunkt des Grotesken: ein hagerer Mann liegt rücklings auf dem Bett, er hat Sex mit einer dicken Frau, die hat einen Helm auf dem Kopf. Der Mann berichtet, dass seine Rentenrücklagen rapide an Wert verloren haben, während die Frau, der Situation angemessener, stöhnt. Beide sind bleich, wie gekalkt, wie überhaupt aus fast allen Personen in "Das jüngste Gewitter", das Leben zu weichen, wenn nicht gewichen scheint. "Du lebender" lautet übersetzt der Originaltitel des Films, der sein Motto von Goethe bezieht: "Freue dich also, Lebendger, der lieberwärmeten Stätte, ehe den fliehenden Fuß schauerlich Lethe dir netzt." (Später im Film sieht man eine Straßenbahn-Endstation 'Lethe'.)



In vielen der Bilder des Films gibt es Türen, auch Fenster, ins Freie führen sie kaum, denn ein Freies gibt es bei Andersson nicht. Die Räume sind recht kahl meist, ein Tisch, ein Bett, eine Pauke, ein bisschen Kunst an den Wänden, die auch nichts mehr rettet. In diese Leere hinein stellt Andersson seine Figuren und lässt sie allein mit sich und der trostlosen Welt. Nicht ganz allein, denn in vielen dieser kahlen Räume gibt es Türen, hinter denen mitunter jemand ist, auf den man zuvor nicht geachtet hat, und der plötzlich spricht. Eingesperrt jedoch sind sie alle, die da stehen und fallen, kalkweiß, auf der Suche nach Trost. Diesen Trost gibt womöglich Musik. Männer, die der Film aufliest zuhause, dann in einem wieder sehr leeren Raum versammelt, machen als "Louisiana Brass Band" Musik. Die Tuba, die Pauke, das Banjo, die kleine Trompete. Auch sonst spielt, wenn auch verloren, wenn auch im Hintergrund, meistens Musik. Man kann sich, nicht nur deshalb, in "Das jüngste Gewitter" fühlen wie in einer Inszenierung von Christoph Marthaler, nur dass die Raum- und Gefühlstemperatur um einige Grad runtergedreht ist.



Komik gibt es auch, visuelle Gags wie den zu Beginn: Ein Mann schlurft mit einer Gehhilfe durchs Bild, zieht seinen Hund hinter sich her, der sich, ohne dass der Mann es bemerkt, in der Leine verheddert hat und sich nun, auf dem Rücken liegend und winselnd, windet. Im Hintergrund ein Fenster, aus dem ein Mann blickt, der sich aber abwendet in dem Moment, in dem das Drama im Bildausschnitt sichtbar wird. In dieser Bewegung verdichtet sich der Grundzug des Films, der Menschen zeigt, die als Zeugen nicht daran denken, ihren Nächsten zu helfen, es sei denn, es lässt sich nun gar nicht vermeiden. Zu Zeugen dieser Art macht der Film aber auch, ob sie wollen oder nicht, seine Zuschauer. Ein paarmal wendet sich ein Darsteller direkt an die Kamera und damit an uns, nicht aber in der Hoffnung auf Hilfe oder auf Mitgefühl. Die Worte in unsere Richtung sind deshalb genau genommen nicht einmal Mitteilung, denn geteilt wird hier nichts, das Gesagt hängt im Raum, dringt nicht durch, als läge eine Glasscheibe zwischen uns und den Charakteren in ihrer Andersson-Welt.

Der Regisseur, der an jeder einzelnen Einstellung, wie er sagt, wochenlang tüftelt, äußert in Interviews gern Gegenwarts- und Gesellschaftskritik. Der Kapitalismus, so seine These, macht die Menschen zu jenen Untoten, die er in seinen Filmen nun vorführt. Nur tut er dies reichlich kontextlos und manchmal mit einer Freude am Gag und an der Trostlosigkeit, die an Sadismus jedenfalls grenzt. Wie zwischen zwei Glasplättchen gepresste Proben verallgemeinerten Menschheitselends präsentiert Andersson seine Figuren. Die Eintönigkeit dieser Diagnosen ist, aller Musik zum Trotz, ein ethisches Problem, das zuletzt weniger auf unsere Gegenwart als auf das Weltbild ihres Erfinders zurückfällt.

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Die Zentralfigur des ägyptischen Films "Chaos" ist der korrupte Polizist Hatem (Khaled Saleh), den wir gleich zu Beginn erleben, wie er demonstrierende Studenten, Recht und Gesetz missachtend, in eine Gefängniszelle steckt. Bald darauf lernen wir Hatems andere, seine private Seite kennen, die kein bisschen weniger unangenehm ist: Als lüsterner Spanner stellt er der schönen Nachbarin Nour (Mena Shalaby) erst mit Blicken und später mit Übergriffen noch gravierender Art nach. Diese zwei Seiten, die politische und die private, bringt Youssef Chahines und Khaled Youssefs Film (Youssef übernahm die Regie gegen Ende der Dreharbeiten aufgrund einer Erkrankung Chahines) zusammen.

Als Tateinheit von privater und politischer Gier und Rücksichtslosigkeit zum einen - und damit auch als restlose Demontage einer Autoritätsfigur. Zum anderen aber verkörpert Hatem mit seinen zwei gleich hassenswerten Seiten auch die Strategie des gesamten Films. Der nämlich nimmt sich - nicht nur für den westlichen Betrachter - als die erstaunlichste Mischung von scharfer Gesellschaftskritik und populistischer ästhetischer Form aus. "Chaos" ist nuancenfrei ausgeleuchtet wie ein Fernsehspiel, in unzähligen Wendungen krude wie eine Soap Opera, in der Figurenpsychologie oft abrupt und manchmal total unplausibel. An Handlung und Themen ist hineingepackt, was nur ging: romantische Liebeswut und schmutziges Begehren bis zur Vergewaltigung. Folterkeller und Schwärmerei, Religionskritik und weibliche Solidarität, Abtreibung und Happy End.

Für die romantische Seite, mit der Chahine und Youssef gezielt die Mimikry ans von Bollywood nicht sehr weit entfernte kitschige Melodram arabischer Prägung versuchen, ist die Romanze zwischen der schönen Nour und dem feschen jungen Staatsanwalt Sherif (Youssef El Sherif) zuständig. Sherif ist zunächst noch in eine allzu westlich orientierte und deshalb (so die Suggestion des Films) narzisstische junge Frau verliebt, wendet sich jedoch von ihr ab, als sie das gemeinsame Kind abtreibt. In diesem Moment erkennt er in der ihn immer schon vergötternden Nour, die zu kurze Röcke zu tragen sich weigert, die Frau fürs Leben. Auf dem Weg zum Happy End versetzt "Chaos" dem Zuschauer allerdings noch die Sorte Schock, die in der populären melodramatischen Form so nicht vorgesehen ist.

Es passt, mit einem Wort, in diesem Film das eine selten zum anderen, er springt von einem Moment zum nächsten von einem Register übergangslos in ein fern liegendes anderes. Der Clou von "Chaos", bei einem Werk des ägyptischen Großmeisters Youssef Chahine auch nicht anders zu erwarten: Er weiß genau, was er tut, er sucht die zutiefst unreine Form, um sie, geradezu hinterrücks, mit einem Inhalt zu füllen, der die Konventionen dieser Form aushöhlt und letztlich zerstört. Kunstfilm- und Eskapismuserwartung werden gleichermaßen, und zwar so radikal wie systematisch unterlaufen. "Chaos" hat deshalb sowohl in Cannes, wo er im Wettbewerb lief und auf viel Verständnislosigkeit stieß, als auch in ägyptischen Kinos, wo er die angestrebte politische Empörung auslöste, seine je sehr verschieden geartete Verstörungswirkung getan.

Das jüngste Gewitter. Schweden 2007 - Originaltitel: Du Levande - Regie: Roy Andersson - Darsteller: Hakan Angser, Björn Englund, Eric Bäckman, Elisabeth Helander, Gunnar Ivarsson, Lennart Eriksson, Patrik Anders Edgren, Pär Fredriksson.

Chaos. Frankreich / Ägypten 2007 - Originaltitel: Heya fawda - Regie: Youssef Chahine, Khaled Youssef - Darsteller: Khaled Saleh, Mena Shalaby, Youssef El Sherif, Hala Sedky, Hala Fakher