Im Kino

Urszene einer Begegnung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
27.10.2016. Leichten Schrittes zwischen Gegenständen großer Schwere bewegt sich Ruth Beckermanns "Die Geträumten", ein wunderbarer Film über Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Mit "Die Zeit der Frauen" gelingt es Leena Yadav, die visuellen Attraktionen des Sexfilms mit entzückender Selbstverständlichkeit in den Dienst der Aufklärung zu stellen.


Ein Gesicht und eine Stimme, die nicht zusammen gehören, eine junge Frau die ins Off blickt, aus dem die Stimme eines jungen Mannes ein Gedicht vorliest. "Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen / Seht, ich schlaf bei ihr! / Du sollst die Fremde neben Dir am schönsten schmücken. / Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi." Die Kamera wird währenddessen nicht vom Gesicht der jungen Frau weichen, der Sprecher nie zu sehen sein. Erst mit der brieflichen Antwort wechselt der Blick, ist dann ganz bei ihm. Zwei Figuren, aufeinander bezogen, in einer Form, die sie einander nahebringt, und zugleich wechselseitig ausschließt.

"Die Geträumten", das sind Ingeborg Bachmann und Paul Celan, die beiden Haupt- und eigentlich einzigen Figuren in Ruth Beckermanns Film. Zu sehen sind, mit Ausnahme eines alten Fotos ganz zum Schluss, Anja Plaschg und Laurence Rupp. Sie bekannt vor allem als Musikerin unter dem Alias Soap&Skin, er am Reinhardt Seminar ausgebildetes Mitglied des Burgtheater-Ensembles, beide in Wien lebend und keine 30. Beckermann filmt die beiden in einem Tonstudio des Wiener Funkhauses, als ob sie Texte für ein Hörbuch einlesen würden. Textgrundlage ist eine verdichtete Lesart des Konvoluts aus 196 überlieferten Briefen aus zwei Jahrzehnten, die Beckermann zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig erarbeitet hat. Ein Kammerspiel der vorgetragenen und anverwandelten Worte. Zwischendrin streifen die beiden durch das Gebäude und beobachten ein Orchesterprobe, gehen Essen in der Kantine, sitzen rauchend im Hof, hören "It's a Man's Man's Man's World" am Ipod und sprechen von sich selbst und von den Figuren, denen sie eine Stimme geben.

"In Ägypten", heißt das anfangs rezitierte Gedicht und trägt somit schon ein Exil im Titel. Celan hatte es Bachmann als Widmung in einen Matisse-Bildband geschrieben, 1948, dem Jahr ihrer ersten Begegnung in Wien. Celan, im Gegensatz zu seinen Eltern den deutschen Vernichtungslagern entkommen, war, nun 27- jährig in Wien als Zwischenstation auf dem Weg nach Paris, wo er bald darauf Wohnung beziehen wird. Bachmann, 22-jährige Philosophiestudentin in einem Land, in dem sie sich später "Unter Mördern und Irren" wähnen wird, das sie oft verlässt, aber nie hinter sich lässt, Tochter eines Mannes, über dessen frühes und enthusiastisches nationalsozialistisches Engagement sie wenig Worte verlieren wird. - Beckermann stellt das Gedicht als Urszene einer Begegnung ganz an den Anfang, in ihm ist schon prismatisch versammelt, was das Paar später umtreiben wird: Celans Beschwörung eines Dus, das sich auf ihn selbst bezieht, Bachmann, die als Adressatin die Fremde bleibt, und die Celan in einem späteren Brief noch den "Lebensgrund" nennen wird, der ihn erst schreiben macht. Und den Schmerz um die Ermordeten, den Celan als den schönsten ihm verfügbaren Schmuck zu schenken sich ermahnt.

Der Film belässt die Briefe in ihrer chronologischen Ordnung, gebündelt zu den Epochen ihrer Beziehung: die erste Liebesbeziehung nach der Wiener Begegnung, Streit und Trennung Anfang der 1950er, Celans Heirat mit Gisèle Lestrange, mit der er einen Sohn haben wird, die neuerliche Liebe nach einer Tagungsbegegnung 1957 und deren Scheitern, Bachmanns Beziehung zu Max Frisch. Das Antworten fordern und Antworten schuldig bleiben, die literarische Verbundenheit, die auch die Phasen der Trennung überdauert, die literarischen Eifersuchten, die auch in Zeiten der Zweisamkeit nie ganz verschwinden.



Es ist tatsächliche eine epistolografische Liebe, von der hier erzählt wird, die Briefe sind nicht bloß Berichte und Zeugnisse einer Beziehung jenseits des Papiers, sondern deren Medium. Beckermanns dialogische Inszenierung unterstreicht das: wie die Liebenden und Sehnsüchtigen, Stolzen und Verunsicherten, Misstrauischen und Gekränkten sich - und einander - in ihren Depeschen entwerfen, einander träumen, erkennen und verkennen.

Seit seiner Uraufführung im Forum der Berlinale im Februar wurde der Film mal als dokumentarischer mal als Spielfilm charakterisiert (und gewann etwa den Cinéma du Reel Prix International Scam in Paris und den großen Diagonale Preis Bester Spielfilm in Graz.) Gewiss lassen sich Argumente für beides finden, für sein ästhetisches Verfahren aber wiegt die Unterscheidung nicht schwer, der Film lässt sie eher hinter sich, wie etwas Hinderliches. Wenn man möchte, könnte man ihn als wörtliche Umsetzung des Godardschen Diktums vom Film als Dokumentation von Schauspielern beim Erschaffen von Charakteren beschreiben. Vor allem aber ist Beckermanns ingeniöser und dabei so prätentionsloser Einfall eine Geste der Vergegenwärtigung in einem vielfältigen Sinn. Er lässt nicht nur die brieflichen Hinterlassenschaften zweier Toter zu einem Gespräch werden; aus der Deutlichkeit, mit der der Film erkennen läßt, dass die Darsteller*innen verschieden sind von den Dargestellten, zieht der Film eine Energie, die die Bezüge zwischen beiden Paaren auflädt, die einen die anderen verkörpern und vertreten lässt, und immer wieder neue Blicke auf die Figuren erlaubt. In Plaschgs und Rupps eindringlichem Spiel, wie auch in den oft spielerischen Vexierbildern ihrer Heutigkeit modeliert "Die Geträumten" Nähe und Distanz zu dem, was ihre Vor-Bilder einander schenken und antun. Nicht, um sich am Ende auf eine Seite zu schlagen, sondern eher, um einen Zwischenraum zu schaffen, der es erlaubt, ein Innen ihrer Beziehung als modernes begreifbar zu machen - ohne dabei die Distanz zu übersehen, die uns heute von deren Erfahrungen trennt.

In der Schilderung Beckermanns, der nachdenklichen Chronistin jüdischen Weiterlebens in Österreich und darüber hinaus, ist die Beziehung zwischen Celan und Bachmann vor allem auch eine prekäre Liebe im Schatten der Shoah: Eine Geschichte von Celans Ringen um den Grad zwischen Überleben und Leben und über die Suche nach einer Sprache für den Abgrund dazwischen, nach einer Sprache, die erst Sinn macht durch ein Gegenüber, das sie hört; von Bachmanns Versuchen, ihm eine Entscheidung aufzuzeigen, in der er eine Wahl hat, nicht mehr weiter Opfer sein zu müssen; und beider blinder Flecken.

Als Porträt einer großen und schwierigen Liebe im Schatten des größten Gewaltexzesses des 20. Jahrhundert gelingt Beckermann das Kunststück eines Films, der sich leichten Schrittes zwischen Gegenständen großer Schwere bewegt. Eine Archäologie dessen, was zwischen zwei konkreten Menschen an einem konkreten historischen Ort einmal sagbar war und was unsagbar blieb. Und zugleich ein Dokument von lichter und ansteckender Gegenwärtigkeit. Es wird am Ende ein Film über Sprache und Kunst sein, über Liebe und Weiterleben, in ihrer Möglichkeit, in ihrer Unmöglichkeit. Es wird einer der schönsten Filme gewesen sein, die es in diesem Jahr zu sehen gab.

Sebastian Markt

Die Geträumten - Österreich 2016 - Regie: Ruth Beckermann - Darsteller: Anja Plaschg, Laurence Rupp - Laufzeit: 89 Minuten.

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Zunächst tritt einem "Die Zeit der Frauen" als ein Katalog an Gewaltverhältnissen, Unterdrückungs- und Verblendungszusammenhängen entgegen: Janaki (Lehar Khan) wird gegen ihren Willen dazu genötigt, Gulab (Riddhi Sen) zu heiraten. Gulabs Mutter, die Witwe Rani (Tannishtha Chatterjee), setzt die Hochzeit durch, obwohl sie zum einen um die Unreife und den fragwürdigen Lebenswandel ihres Sohnes weiß - und obwohl sie zum anderen ihrer eigenen Mutter den Vorwurf macht, sie selbst einst in ähnlicher Manier in eine unglückliche Ehe gezwungen zu haben. Ranis beste Freundin Lajjo (Radhika Apte) wiederum gilt bei den Nachbarn als unfruchtbar und wird von ihrem Mann, der ihr weniger die - vermeintliche - biologische Tatsache, als das Geschwätz der Anderen zum Vorwurf macht, wieder und wieder brutal zusammengeschlagen.

Tatsächlich gemäß des Originaltitel parched - unfruchtbar, ausgetrocknet - ist freilich nicht, da lässt Leena Yadavs Film keinen Zweifel, ein einzelner Frauen-, sondern der gesamte Gesellschaftskörper. Inklusive der Männer, die von der überlieferten Geschlechterordnung kaum weniger streng versklavt werden, die den Frauen nichts voraus haben als - das allerdings schon, und wenig ist das selbstverständlich nicht - ihre körperliche Integrität. Diese Männer, inbesondere die jungen, hängen meist beschäftigungslos im Freien ab, mit Vorliebe trinkend und pöbelnd. Wenn sie abends doch nach Hause kommen, verflüchtigt sich aus den halbdunklen Räumen, die ansonsten den untereinander zumindest einigermaßen solidarischen Frauen gehört, sofort jeglicher Anflug von Intimität. Das indische Dorf, in dem der Film spielt, und das auf gleichfalls staubtrockener Erde erbaut ist, steht bei all dem ein für ganz Indien - mindestens. Denn "Die Zeit der Frauen" ist zwar in erster Linie ein Produkt der indischen Filmindustrie, hat aber internationale (Arthaus-)Ambitionen, zum Teil auch internationales Personal: Die Kamera führt, ohne falsche Zurückhaltung, Russell Carpenter, der einst "Titanic" fotografierte.

Ein Film ist das, in dem schon die Titelmetapher ausgreift, wuchert, ausufert; und alles andere ebenfalls: die auf manchmal ein wenig penetranten, energisch in Bewegung gesetzten, knallbunten, randvoll gepackten - hier ein Flattertuch, da ein Funkenregen - Bilder Carpenters; die multiplen, ineinander verstrickten Leidensgeschichten der Frauen; die mannigfaltigen Ausprägungen des Patriarchats. Aber glücklicherweise wuchern in der Welt von "Die Zeit der Frauen" auch die Hoffnungen, die kleinen wie die größeren: Rani hat ein Mobiltelefon, das sie mit der Welt und vielleicht sogar mit Shah Rukh Khan höchstpersönlich verbindet; Janaki hat eine Jugendliebe, die nicht locker lässt; Lajjo kann vielleicht doch schwanger werden; außerdem gibt es eine Schneiderwerkstatt in der Nachbarschaft, die Arbeitsplätze und ökonomische Unabhängigkeit für Frauen verspricht; und vor allem gibt es Bijli (Surveen Chawla).



Bijli ist eine Tänzerin und Prostituierte, in einem Zelt nahe des Dorfs zieht sie ihre Show ab und treibt die Männer in den Wahnsinn, zwischendurch brettert sie gemeinsam mit Rani, Lajjo und Janaki auf einem dreirädrigen Motorrad, an dem bunte Engelsflügel montiert sind, über die Steppe. Dort angekommen brüllen die vier ihre Wut in die Nacht hinein: Warum sind selbst die Schimpfwörter gegen uns Frauen verschworen? Warum heißt es Motherfucker, und nicht etwa Fatherfucker, Unclefucker, Sonfucker?

Zurück im Zelt singt Bijli von den Erdbeben, die sie im Bett auszulösen vermag; aber die Erschütterungen, die sie der Gesellschaft, die sie gleichzeitig ausstößt und anhimmelt, zufügt, beschränken sich nicht aufs Sexuelle. Oder genauer: Der Sex, ihr Sex, die Sexualität der Frauen ist genau das, was alle Verhältnisse ins Wanken bringt. Was all die kleinen, partikularen Hoffnungen zusammenfließen läßt und was letztlich auch den Hang zum Schematismus, zum bloßen Katalogisieren sozialer Mißstände weitgehend transzendiert, der hinter den wuchernden Oberfläche von "Parched" zunächst noch recht deutlich erkennbar bleibt.

Yadav verschreibt ihre dritte Regiearbeit ganz der entfesselten Sinnlichkeit ihrer Figuren (und ihrer beherzten Darstellerinnen - besonders toll ist Radhika Apte, ihr aufmüpfiges, neugieriges, trotziges Lächeln, das ihre Lippen selbst noch nach den schlimmsten Demütigungen umspielt). Die Frauen brechen aus der Unterdrückung aus, weil sie lernen, alles in ihrer Umgebung in ein Verhältnis zu ihren eigenen Körpern zu setzen. Selbst an Ranis Handy ist irgendwann die Stimme des imaginäre Shah Rukh Khan weniger interessant als das ganz reale Glück, das ein mit sachkundigen Handgriffen zweckentfremdeter Vibrationsalarm bescheren kann.

Der Sex überwuchert spätestens in der zweiten Hälfte alles andere; und sprengt sogar die textuellen Grenzen des Films: Eine besonders freizügige Szene verbreitete sich schon vor der Veröffentlichung online und scheint in einigen Gegenden Indiens als Pornografie verkauft zu werden. Das der Szene selbst, oder gar "Die Zeit der Frauen" als Ganzem zum Vorwurf zu machen, hieße Yadavs Leistung gründlich misszuverstehen. "Die Zeit der Frauen" ist ein Film, der den Verstrickungen von Sexualität mit sozialen und - weniger deutlich artikuliert - ökonomischen Realitäten nicht ausweicht, sondern sich ihnen mit offenem Visier stellt. Und der deshalb nicht nur die dramaturgischen Kunstgriffe des Bollywoodkinos, sondern auch die visuellen Attraktionen des Sexfilms mit entzückender Selbstverständlichkeit in den Dienst der Aufklärung stellt.

Lukas Foerster

Parched - Indien 2015 - Regie: Leena Yadav - Darsteller: Tannishtha Chatterjee, Radhika Apte, Surveen Chawla, Lehar Khan, Riddhi Sen, Sumeet Vyas - Laufzeit: 116 Minuten.