Im Kino

Der Floh wird gehäutet

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Fabian Tietke
26.08.2015. Wenigstens war das FBI beim Plattenverkauf hilfreich: Das Biopic "Straight Outta Compton" erzählt die Geschichte des ultimativen N.W.A.-Albums. Matteo Garrones macht in "Das Märchen der Märchen" Selma Hayek zu einer Herzen verschlingenden Renaissance-Ikone.

Eine doppelte Exposition. In der ersten Szene muss Eric Wright, später bekannt als Eazy-E (Jason Wright), das Weite suchen, weil ein Drogendeal in einer Razzia endet. Alles - die Drogenbude mit finsteren Gestalten und die mit dem Verschneiden des Stoffes beschäftigten Frauen, die Polizeiaktion mit Räumpanzer und die Flucht durch den Garten - sieht ziemlich genauso aus, wie sich das jemand vorstellt, der so etwas nur aus Film und Fernsehen kennt.

In der zweiten Szene hört sich André Young, der später als Dr. Dre (Corey Hawkins) in die Rap-Geschichte eingehen sollte, durch alte Soul und Funk-Platten, und wird von seiner Mutter gestört, die ihren Sohn energisch auffordert, lieber etwas Vernünftiges zu tun, anstatt mit seiner Arbeit als DJ ein paar lausige Piepen zu verdienen. Der Film beginnt also mit einer doppelten Flucht- und Suchbewegung: Aus der Perspektivlosigkeit des Lebens im afroamerikanischen Armenviertel Compton in Los Angeles irgendwie ausbrechen und zugleich zu einem Sound finden wollen, der der Wut Ausdruck verleiht, die dabei entsteht, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen.

Für das Biopic über die Hip Hop-Gruppe N.W.A. (Niggaz Wit" Attitudes), zeichnet der Regisseur F. Gary Gray verantwortlich, der sich schon mit seinem Debüt, der Ghetto-Feel-Good-Komödie "Friday" (1995) mit N.W.A.-Mitbegründer Ice Cube in der Hauptrolle, für den Stoff prädestinierte und der sich seitdem als Genre-Handwerker in Hollywood etablieren konnte, aber auch immer wieder Videos für Hip-Hop- und R"n"B-Gruppen dreht. Für jemanden meiner Generation, der mit amerikanischer Rap-Musik - unter anderem der einstigen N.W.A.- Mitglieder Dr. Dre, Ice Cube und Eazy-E - aufgewachsen ist, gehört die Gruppe zur Prähistorie des eigenen Musikgeschmacks: Für die zwei Alben, die die legendäre Band in der zweiten Hälfte der Achtziger rausbrachte, bin ich ein paar entscheidende Jahre zu jung.

Der Frage, warum die Rap-Kombo zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, warum sie mit ihrem zweiten, dem Titel gebenden Album "Straight Outta Compton", einen riesigen Hit landete, der nicht nur in den afroamerikanischen Communitys einschlug, sondern auch die weiße Mittelschichts-Kids begeisterte und mit dem Gangsta-Rap ein eigenes Subgenre mitbegründen und maßgeblich prägen konnten, beantwortet der Film eindeutig: Polizeigewalt. So oft werden seine Protagonisten von den aggressiven und repressiven Ordnungshütern unter Generalverdacht gestellt, angefeindet, angegriffen oder schikaniert, dass der berühmte und im Film ebenfalls ausgiebig zitierte Fall des unbewaffneten Rodney King, der 1991 von vier Polizisten krankenhausreif geschlagen wurde, ohne dass die Täter jemals verurteilt worden wären, nur wie die finstere Spitze des Eisberges wirkt. Es scheint also, dass das, was N.W.A. laut und gegen alle Proteste - unter anderem von Seiten des FBI - rappten, das war, was viele vorwiegend schwarze Amerikaner zu jener Zeit dachten: "Fuck the Police" (wobei nicht so einfach zu sagen ist, ob es nun ein Problem der Gruppe oder des Films, der den gleichnamigen Song mehrfach wiederholt, ist, dass sich die politische Dimension in diesen drei, vielleicht tatsächlich ein wichtiges Ventil bietenden Worten erschöpft).


Dabei trug die FBI-Kampagne gegen den Song, der angeblich zu Gewalt gegen die Polizei aufrufe, nachhaltig zum Erfolg der Platte bei, getreu dem bekannten Mechanismus, dass auch Negativwerbung Werbung ist. Der Film findet dafür eine schöne Szene, wenn er die Rapper Fernsehbilder von erzürnten Demonstranten, die Kopien von "Straight Outta Compton" zertrampeln, mit den Worten kommentieren lässt, dass sie schließlich mit der Platte machen könnten, was sie wollten, solange sie sie kauften. Natürlich schlägt der Film mit seiner Fokussierung auf die Polizeigewalt zwei Fliegen mit einer Klappe. Neben der Huldigung alter Hip Hop-Heroen wird auch ein Thema behandelt, das in den USA der Gegenwart traurigste Aktualität genießt.

Ansonsten erzählt der Film ausgiebig, ziemlich lang und letztlich etwas ermüdend, warum "Straight Outta Compton" das letzte Album der Gruppe bleiben sollte, wer sich mit wem überwarf, welcher Manager wen übers Ohr haute und wer wen disste. Dabei setzt der Film am Ende auf versöhnliche Töne, die harschen Anfeindungen zwischen Dr. Dre und Eazy E. auf ihren jeweiligen Solo-Alben kommen nur am Rande vor, statt dessen werden Pläne angedeutet, wieder einmal etwas zusammen aufzunehmen, die von Eazys Aids-Tod 1995 durchkreuzt werden.

Sicherlich wäre es vermessen, einen N.W.A.-Film mit allzu feministischen Maßstäben zu bemessen - allerdings müsste er sich zum Sexismus des Gangsta-Rap nicht zwangsläufig so affirmativ verhalten, wie er es über weite Strecken tut. Frauen kommen in "Straight Outta Compton" nur als nörgelnde Mamis vor, einmal darf eine von ihnen den Papierkram, um festzustellen, dass jemand ziemlich verarscht wurde; sonst shaken sie einfach ihre prallen Formen im Rhythmus der Beats. Aber Vorsicht! Auch gewöhnlicher Heterosex kann HIV übertragen, wie der entgeisterte Eazy-E am eigenen Körper feststellen muss und praktischerweise auch noch von einem Arzt erklärt bekommt. Den antisemitischen Diss Ice Cubes (O"Shea Jackson Jr.) gegen einen raffgierigen Manager lässt der Film ziemlich unkommentiert und auch die Zeichnung der jüdischen Figur an sich bleibt mindestens ambivalent.

Mehr noch als mit derlei ideologiekritischen Einwänden ließ der Film mich mit der Frage zurück, ob es nun eines N.W.A.-Biopics wirklich bedurfte, hinter dessen epischen Ausmaßen (Laufzeit knapp 150 Minuten) recht gewöhnliche, auf Kinoformat aufgeblähte Fernsehfilmkost verbirgt, die in ihren Bemühungen um einen Gegenwartsbezug auch noch ziemlich bemüht daher kommt.

Nicolai Bühnemann

Straight Outta Compton - USA 2015 - Regie: F. Gary Gray - Darsteller: O"Shea Jackson Jr., Corey Hawkins, Jason Mitchell, Neil Brown Jr., Aldis Hodge, Marlon Yates Jr., R. Marcos Taylor, Carra Patterson - Laufzeit: 147 Minuten.

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Einst lebten in einem Königreich, durch das gerade die Straßenreinigung gefahren war, eine Königin und ein König. Das Königspaar wünschte sich schon seit Jahren nichts sehnlicher als ein Kind und doch bekam es keins.... Da kam eines Tages ein großgewachsener Wanderer zu ihnen und versprach ihnen die Lösung für ihr Problem: Wenn es dem König gelänge, ein Wasserungeheuer zu töten und ihm das Herz herauszuschneiden, dieses von einer Jungfrau gekocht würde und die Königin das Herz dann äße, so würde sie alsbald schwanger werden und einen Jungen gebären. - Das ist in etwa der Anfang von Matteo Garrones "Märchen der Märchen".

Der König überlebt die Jagd auf das Seeungeheuer nicht. Doch die Königin bekommt ihr Herz. Wie die Prioritäten gesetzt sind, wird klar, als die Königin (grandios verkörpert von Salma Hayek) am Ufer des Sees stracks zwischen den betroffen dreinblickenden Begleitern des Königs hindurch marschiert, das Herz einsammelt und ihren toten Mann keines einzigen Blicks würdigt. Kurz darauf darf sie gleich einer blutbeschmierten Renaissance-Ikone das Herz verschlingen. Garrones "Märchen der Märchen" lebt nicht zuletzt von Hayek als Königin in dieser ersten Episode.

Der Film kreist in drei Episoden um drei Dreieckskonstellationen: In der ersten steht die Beziehung zwischen der Königin, ihrem Sohn, dem Prinzen Elias und dessen "Bruder" Jonah im Zentrum. Jonah ist wie Elias dem Herzen des Seeungeheuers entsprungen. Jonahs "Mutter" die Magd, die das Herz gekocht hat, war beim Kochen ebenfalls schwanger geworden. Die beiden Söhne sind über alle Standesgrenzen hinweg für den Rest ihres Lebens enger miteinander verbunden, als es Elias" Mutter recht ist. Mit mütterlicher Eifersucht versucht sie ihren Sohn von Jonah fernzuhalten. Eine Konstellation, die dem Film eine weitere fantastische Szene mit Hayek schenkt: als Elias wieder einmal beim Spielen mit Jonah ertappt wird, kommt es zur Konfrontation zwischen Mutter und Sohn, bei der die Königin hin- und herwechselt zwischen ihren Rollen als Königin, die einen Sohn erzieht, und einer liebenden Mutter.

Die zweite Dreieckskonstellation ist die zwischen dem König eines benachbarten Königreiches, seiner Tochter und den Vorlieben des Vaters. Während die Tochter um die Liebe ihres Vater buhlt, wendet sich dieser lieber seinen verschrobeneren Vorlieben zu und päppelt einen Floh, bis dieser monströse Größe erreicht und an Herzversagen stirbt. Der Floh wird gehäutet und wer die Haut erkennt, darf die Tochter des Königs heiraten. Die List, vom Vater als Verzögerungstaktik ersonnen, geht nach hinten los: Ein pelzbehangener Menschenfresser schnuppert nur kurz an der Haut und darf alsdann die klagende Prinzessin in seine Höhle schleppen.

Die dritte Konstellation: Ein weiterer König, der Prototyp des schwanzgeleiteten Adligen, verliebt sich in den Gesang einer Frau. Er beginnt um sie zu werben. Die Frau seiner Träume ist jedoch eine von zwei Schwestern fortgeschrittenen Alters. Als er das herausfindet, lässt er die alte Frau von der Wache aus dem Fenster werfen. Im Wald, in dem sie landet, trifft sie auf eine Hexe, die sie schließlich in eine junge Frau verwandelt.


Die drei Handlungsstränge verbinden prototypische Konstellationen zwischen Mutter und Sohn, Vater und Tochter, dem Wunsch nach Jugend mit handfester frühbarocker Skurrilität. Der überdimensionierte Floh spiegelt die barocke Faszination für Kuriositäten, die Episode um den jungen, dauergeilen König und die verjüngte alte Frau erfährt eine brutal-tragische Wende, als sich deren Schwester häuten lässt, um ebenfalls ihre Jugend wiederzuerlangen und sich anschließend bluttropfend die Treppen zum Schloß hinaufschleppt.

Nach dem Erfolg von "Gomorrah" hatte sich Garrone mit "Reality" zunächst der uritalienische Form der Commedia all"italiana zugewandt. Mit der italienisch-französisch-britischen Koproduktion "Märchen der Märchen" liefert er nun sein englischsprachiges Debüt ab und der Wille zum Welterfolg dringt dabei aus jeder Ritze. Vor allem schwappt er den Zuschauern aus den Lautsprechern in Form generischer Hans-Zimmer-Epigonie entgegen.

Interessant wird der Film immer dann, wenn er den Hokuspokus bleiben lässt und sich als in den Traditionen Süditaliens geerdeter Kunstfilm zeigt. Das gilt für die Gestaltung insgesamt, die in ihrer Vorliebe für Symmetrien und klare Kontraste zwischen farbigen Flächen an die süditalienische Malerei am Übergang zwischen Spätrenaissance und Frühbarock erinnert; das gilt aber auch für einige Motive wie die Faszination für Wasser, die in einer süditalienischen Vorlage Idylle und Utopie zugleich ist; und es gilt für Rituale wie die Beerdigung des toten Königs in einer Prozession am nächtlichen Schloss. In diesen Momenten bekommt man kurz einen Eindruck davon, welche visuelle Kraft es hätte haben können, wenn einer der wichtigsten italienischen Regisseure der Gegenwart eines der wichtigsten Werke der italienischen Märchenliteratur verfilmt. Wie viele von Garrones Filmen steht Giambattista Basiles Pentamerone o Lo cunto de li cunti schließlich auch für den gerne vergessenen süditalienischen Beitrag zur Kultur Italiens. "Märchen der Märchen" ist aber leider allen visuellen Wonnen zum Trotz eher ein vertaner Versuch, einen Autorenfilm zum massenkompatiblen Fantasyfilm aufzublähen.

Fabian Tietke

Das Märchen der Märchen - Italien 2015 - Regie: Matteo Garrone - Darsteller: Salma Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones, John C. Reilly, Shirley Henderson, Hayley Carmichael - Laufzeit: 125 Minuten.