Im Kino

Bildersturm und Misogynie

Die Filmkolumne. Von Friederike Horstmann, Nikolaus Perneczky
10.12.2014. Abderrahmane Sissakos "Timbuktu" ist das vielschichtige Porträt einer Stadt in der Gewalt islamischer Fundamentalisten. Joanna Hoggs "Exhibition" gelingt es, dem ABC des klassischen Autorenkinos neue Facetten abzugewinnen.


Gehetzt läuft eine Gazelle auf grazilen Beinen über den Wüstensand. Schemenhaft hebt sie sich von den monochrom beigen Bildern ab. Staubpartikel wirbeln auf und verkörnen die Wahrnehmung. Aus dem Off tönt erst der Wüstenwind, dann Gewehrgeratter. Kurz darauf flattert eine dunkle Flagge mit weißen, arabischen Schriftzeichen im Wind. Erst dann wird eine Truppe Männer gezeigt. Sie sitzen vermummt und mit Waffen auf einem Pick-up. Nach der rasanten Jagd auf die Gazelle wird auf afrikanische Holzskulpturen geschossen. Als Schießziele stehen die geschnitzten Figuren aufgereiht im Wüstensand. Kugeln zerbersten das Holz, durchlöchern die Skulpturen, Köpfe und Brüste weiblicher Figuren werden weggeschossen, fallen zu Boden. Ein langsamer Horizontalschwenk gleitet über die umgestürzten Holzskulpturen. Auf der Tonspur erklingen wehmütig zerdehnte Klänge eines Holzblasinstruments. Gleichzeitig inszeniert der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako in der Eröffnungssequenz seines vierten Spielfilms Kriegstechnik und -topografie, setzt ikonoklastischen Bildersturm und Misogynie ins Bild. Erst richtet sich die Gewalt gegen Natur und Kultur, später gegen Menschen.

In "Timbuktu" befindet sich die gleichnamige malische Oasenstadt in der Gewalt islamischer Fundamentalisten. Auf Motorrädern fahren sie durch die engen Straßen, patrouillieren zwischen den dicht gebauten Lehmhäusern und verkünden über Megaphone eine Vielzahl von Verboten und Vorschriften: kein Fußball, kein Fernsehen, kein Radio, keinen Alkohol, keine Musik. Herumstehen auf den Straßen ist verboten, Frauen müssen sich mit einem Tschador verschleiern, Handschuhe und Strümpfe tragen. Die Einwohner reagieren renitent oder trotzen den schikanösen Anordnungen mit Pragmatismus: Als eine Marktfrau beim Fischverkauf Handschuhe tragen soll, verweigert sie sich dem unsinnigen Befehl. In privaten Räumen fühlen sich die Bewohner unbeobachtet, es wird getrommelt und gesungen; obwohl Musizieren mit 40 Peitschenhieben geahndet wird. Später wird die Sängerin ertappt und öffentlich ausgepeitscht. Während der Tortur verwandeln sich ihre Klagelaute zu immer lauter werdendem Gesang.



Andere Einstellungen zeigen stummen Widerstand gegen die rigiden Restriktionen: Im staubigen Wüstensand und mit bunten Trikots spielen Jugendliche voller Eifer Fußball - allerdings in Pantomime, mit unsichtbarem Ball. Das Spiel stellt auch einen filmhistorischen Zusammenhang zur Schlussszene in "Blow Up" her: Wie das pantomimische Tennisspiel in Michelangelo Antonionis Film verschieben sich in "Timbuktu" die Parameter der Wahrnehmung, vorbestimmte Dispositionen werden infrage gestellt. Trotz des Verbots bleibt als Trost die Einbildungskraft. In vielen kleinen, oft unzusammenhängenden Szenen werden humorvoll Absurditäten im Alltag freigelegt. Dabei zeigt der Film die Fundamentalisten unbeholfen, scheinheilig und vertrottelt. Mit Maschinengewehren und Schuhen trampeln sie in die Moschee. Mit Gewalt setzen sie Regeln durch, an die sie sich selbst nicht halten: Heimlich rauchen sie in der Wüste oder diskutieren über Fußball, ob die französische Nationalmannschaft noch einmal Weltmeister wird und warum Zidane besser als Messi spielt. Mit brutalen Bildern setzt der Film einen scharfen Kontrast zur Komik und zeigt die Steinigung eines jungen Liebespaars, das bis zum Hals eingegraben ist.

Gestörte Kommunikationen sorgen für ständige Verschiebungen: Nicht nur die lokalen Sprachen werden von den Islamisten nicht beherrscht. Größtenteils Araber können sie sich nicht einmal untereinander verständigen. Oftmals werden Dolmetscher benötigt, denn die Verständigung mittels Sprachbrocken aus Arabisch, Bambara, Tamasheq, Französisch und Englisch klappt nur mäßig. Konfrontationen laufen über Übersetzungen, die mitunter bewusst bruchstückhaft bleiben und zu Pausen, Ungeschliffenheiten und Uneindeutigkeiten in der Kommunikation führen. Auch der Film zerfällt in seine einzelnen Bestandteile, er desintegriert in episodenhaften Erzählungen. Zusammenhänge sind absichtsvoll fragmentarisch.



Im Gegensatz zu den zerstreuten Miniaturen wird ein Handlungsstrang um den Viehzüchter Kidane stärker akzentuiert und dramatisiert: Der Film zeigt eine unter einem großen Zeltdach wohnende Hirtenfamilie, die nomadisch durch die Wüste zieht. Ein Interessenskonflikt zwischen Land und Wasser, zwischen Fischern und Hirten, zwischen sesshaften und nomadischen Bauern eskaliert, als sich Kidanes Kuh in den Netzen eines Fischers verheddert und dieser die beste Kuh tötet. In einem Handgemenge tötet der Viehhirt den Fischer und muss sich vor einem Tribunal der Islamisten verantworten, das ihn zum Tod verurteilen wird. In der starken Dramatisierung und systematischen Vereindeutigung des sozialen Unrechts hebt sich diese Erzählung deutlich vom Rest des Films ab. Auch die Filmmusik ist unangenehm überwältigend, strebt nach melodramatischer Orchestrierung und setzt auf Betroffenheit. Zwischen weiten Wüstenpanoramen und dicht gebauten Lehmarchitekturen, zwischen farbenprächtigen Gewändern und schwarzen Verschleierungen, zwischen Restriktionen und Protesten bietet der Film jedoch beeindruckende Bilder.

Friederike Horstmann

Timbuktu - Mauretanien, Frankreich 2014 - Regie: Abderrahmane Sissako - Darsteller: Ibrahim Ahmed, Toulou Kiki, Abel Jafri, Fatoumata Diawara, Hichem Yacoubi - Laufzeit: 97 Minuten.

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Joanna Hogg, so stand jüngst in der amerikanischen Zeitschrift Film Comment zu lesen, mache Filme übers entfremdete Bürgertum. Das von ihrem Landsmann Jonathan Romney erstellte Porträt ließ es so klingen, als wäre dies bereits eine Leistung, stehe die britische Filmproduktion und -förderung doch ansonsten ganz im Zeichen der Unterschicht (wobei nicht ganz klar wurde, wie die zahlreichen Kostümschinken der letzten Jahre in diese Wahrnehmung passen). Hogg verhandelt ihr ausdrückliches Leit- und Leibthema zudem nicht nur auf der inhaltlichen Ebene; die Form selbst ist, in der Nachfolge von Michelangelo Antonioni bis Chantal Akerman (der Hogg in ihrer Nebentätigkeit als Filmkuratorin gerade eine Komplettretrospektive widmet), von Entfremdungserscheinungen angesteckt und durchwirkt. Aber braucht es, über zehn Jahre ins 21. Jahrhundert hinein, wirklich noch Filme, die das ABC des klassischen Autorenkinos - Anomie, Bourgeoisie, Cinephilie - durcharbeiten?
 
Kommt darauf an. Mit Blick auf Hoggs bisheriges Spielfilmschaffen, bestehend aus "Unrelated" (2007) und "Archipelago" (2010), tendiere ich zum Nein. Ihr neuer Film, "Exhibition", geht mit diesen gut abgehangenen Kinotropen aber wunderbar verspielt und unvoreingenommen um. Es wäre voreilig, die Geschichte des Künstlerpärchens im Zentrum von "Exhibition" (wie in nicht wenigen Rezensionen geschehen) als Geschichte einer zunehmenden Entfremdung nachzuerzählen. Auch wenn manches in diese Richtung deutet: nichts zwingt dazu. Dass D (Viv Albertine, groß!) nachts in schwarze Dessous und hochhackige Pumps schlüpft, um an der Seite des schlafenden H (Liam Gillick) zu masturbieren, kann man als Dysfunktionsanzeichen lesen. Ebenso den Umstand, dass die beiden tagsüber hauptsächlich via Interkom kommunizieren: "Hi." - "Hello." "Do you still love me?" Es könnte sich aber auch um das ganz normale Zusammenleben zweier von zuhause werkelnder Kreativarbeiter handeln, die ihren selbstorganisierten Tätigkeiten eben lieber in getrennten Zimmern nachgehen.
 


"Exhibition" gibt vor, die Perspektive von D zu teilen. Später eröffnet sich eine andere Interpretationsmöglichkeit: Geht es am Ende um die Perspektive des spätmodernistischen Gebäudes selbst (Architekt: James Melvin), die wir nur deshalb mit D assoziieren, weil sie ihm, physisch wie emotional, näher steht als H, der das nur mühsam instandzuhaltende Haus bezeichnenderweise verkaufen möchte? Dafür spricht nicht nur der wiederholte Blick aus dem Fenster, der oft erst im Gegenschuss an D zurückgebunden wird. Auch sonst wirkt das Haus in einer Weise belebt, die über sein menschliches Bewohntsein hinausweist. Es macht Geräusche, erfordert pflegende Zuneigung und zeigt sich, insbesondere in der Interaktion mit D, die jedem Handgriff einen choreografischen Dreh verleiht, als ebenbürtiger Tanzpartner. Von dieser Beobachtung ausgehend lässt sich die beschriebene Masturbationsszene (sie ist nicht die einzige) noch anders verstehen denn als Anzeichen fürs schleichende Auseinanderdriften. Nämlich als eine von vielen Gesten fast zärtlicher Intimität, die D in und mit dem Haus austauscht.
 
Wie D (und oft: an ihrer Seite) erschließt die Kamera den Raum nicht als souveränes Blicksubjekt, sondern als ein Bestandteil oder Modul unter vielen in einer variablen Mensch-Raum-Assemblage. An die Stelle einer linear oder sonstwie in der Zeit voranschreitenden Erzählung setzt Hogg räumliche Entfaltung und Modulation; wechselnde Anordnungen, die immer wieder auf prominente Features des Gebäudes zurückkommen, auf die gusseiserne Wendeltreppe, die schwere Schiebetür, die jalousienverhangene Fensterfront.
 
Damit soll nicht gesagt sein, Hogg habe kein Interesse für die Dynamik der Beziehung. Aber sie macht sie nicht zur Verfallsgeschichte, sondern gibt ihr - buchstäblich - Raum für alle möglichen Entwicklungen. Auch die Beziehungsprobleme von D und H sucht der Film aus dem Raum herzuleiten bzw. aus den sehr verschiedenen, fast diametral entgegengesetzten Gebräuchen, die beide vom gemeinsamen Wohnraum machen. In diesem einen, entscheidenden Punkt will der Film leider doch schlauer sein, als ihm gut tut, und er fällt hinter seinen zunächst explorativen, ergebnisoffenen Zugang zurück: Während die weibliche Performancekünstlerin sich mimetisch-wortlos den Ecken, Mauervorsprüngen und Möbelstücken anschmiegt, brütet der männliche Wort- und Konzeptkünstler (der Liam Gillick auch im wirklichen Leben ist) in seiner strengen Kammer im obersten Stockwerk über 3D-Architekturmodellen. Zu ihrer intuitiven, libidinösen Praxis liefert er die analytische, kühle Theorie - wovon D, die über ihre Arbeit lieber schweigt, sich in die Enge getrieben fühlt: "I don"t want your cleverness." Neither do I.

Nikolaus Perneczky

Exhibition - Großbritannien 2013 - Regie: Joanna Hogg - Darsteller: Viviane Albertine, Liam Gillick, Tom Hiddleston, Harry Kershaw, Mary Roscoe - Laufzeit: 104 Minuten.