Heute in den Feuilletons

Seltsam sacht, schwebend fast

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2014. Die NZZ ging nach Halberstadt, John Cage hören. In der taz freut sich Jochen Schimmang über die Wiederentdeckung des Autors Christian Geissler. Die französischen Medien fragen: Wie privat oder wie öffentlich ist François Hollandes Affäre mit einer Schauspielerin? Nicht das Internet ist kaputt, meint Martin Weigert in Netzwertig in einer Replik auf Sascha Lobo in der Sonntags-FAZ, sondern der Mensch in seinem Sicherheitswahn. Die SZ sucht nach glasklaren Tatbeständen, um einst von den Nazis requirierte Kunstwerke zu restitutieren.

TAZ, 13.01.2014

Joachen Schimmang freut sich über die Wiederentdeckung des sperrigen, politisch und ästhetisch radikalen Autors Christian Geissler, dem ein völliger Mangel an Gemütlichkeit eigen war. Gerade neu erschienen: "Wird Zeit, dass wir leben" von 1976: "Lebensechte Dialoge gibt es in diesem Roman zum Glück nicht, und hier spricht auch keiner, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mit Brecht wusste Geissler, dass das Volk nicht tümlich ist. Weder ist ein herkömmlich auktorialer Erzähler am Werk, noch befinden wir uns wirklich in den Köpfen der handelnden und leidenden Personen. Etwas pointiert ließe sich sagen, dass es die Verhältnisse und Widersprüche selbst sind, die erzählen und nach vorn drängen, auf eine Entscheidung. Auch die hochartifizielle - und dabei auch hochmusikalische - Sprache, ein Amalgam aus Argot, Dokumentarischem und klassischem Erzählstil, drängt nach vorn, so dass das Buch ein enormes Tempo hat."

Weiteres: Tim Caspar Boehme berichtet von einer Merkur-Debatte zum Stand der deutschen Essayistik, deren Akzeptanz noch immer auf "Heilige Gegenstände" begrenzt sei. Besprochen werden Yuval Adlers Film "Bethelhem", der die Arbeit israelischer Geheimdienste in den palästinensischen Gebieten schildert, das Stück "Small Town Boy" am Berliner Maxim Gorki Theater und ein Konzert der Goldenen Zitronen in Berlin.

Und Tom.

NZZ, 13.01.2014

Roman Bucheli erlebt in Halberstadts Burchardi-Kirche ein neues Zeitgefühl, wo John Cages Orgelwerk ORGAN2/ASLSP auf 639 Jahre gestreckt aufgeführt wird: "Seltsam sacht, schwebend fast erfüllt der Klang den Raum, der sich nun, da der Besucher sich gegen den Chor hin bewegt, verwandelt: Mit jedem Schritt, nein, schon bei der kleinsten Kopfdrehung hört er sich anders an, bald tiefer, bald höher, einmal überwiegt das Wummern, dann ein Sirren. Mystisch oder magisch möchte man es nennen, aber der nüchterne, von Zeit und Geschichte gezeichnete Raum verbietet solches Pathos."

Weiteres: Tom Schulz begibt sich auf Fontanes Spuren ins märkische Neuruppin. Besprochen wird Händels Oper 'Alcina' im Luzerner Theater.

Aus den Blogs, 13.01.2014

Gestern wurden die Golden Globes vergeben. Gawker fasst ganz frisch die Hightlights des Abends zusammen. Vor allem Steve McQueens "12 Years a Slave" räumt groß ab.

Soll man über François Hollandes Affäre mit der hübschen Schauspielerin Julie Gayet reden? Blandine Grosjean vom Blog Rue89 stellt fest, dass der moralische Kompass der Franzosen noch funktioniert und zitiert eine ganz frische Umfrage zum Thema: "Drei Viertel der Befragten denken, das es sich um eine Privatangelegenheit handelt, die nur den Präsidenten angeht. Jugendliche (90 Prozent) und Frauen (93 Prozent) unter 35 fühlen sich von der Geschichte überhaupt nicht betroffen. Selbst unter älteren Leuten und Anhängern der Oppositionspartei UMP ist das Interesse begrenzt: nur 32 beziehungsweise 33 Prozent meinen, dass das Privatleben des Präsident alle Franzosen angeht. Jean-Luc Mélenchon fasst es so zusammen: 'Wenigstens wissen wir jetzt, warum er immer so selig lächelt.'"

Nun hat Médiapart allerdings herausgefunden, dass Julie Gayet mit korsischen Mafiosi bekannt war. Ganz anders sieht es darum Renaud Revel, der ein Medienblog für L'Express führt. Er kritisiert das verlegene Schweigen vieler Medien: "Wir befinden uns mitten in einem Boulevardtheaterstück. Und die Medien legen ein Schweigegelübde ab. In einer reifen Demokratie hätte es sich von selbst verstanden, dass sie selbst recherchiert hätten und dass jeder, wie jetzt Médiapart, seinen Job tut. Was ist das für ein Land, in dem sich die meisten Medien hinter das ach so sublime Argument des Respekts für das Privatleben zurückziehen."

Nicht das Internet ist kaputt, wie Sascha Lobo in der Sonntags-FAZ meint (leider nicht online), sondern der Mensch in seinem Sicherheitswahn, so Martin Weigert in einer Replik auf Netzwertig: "Gemäß unserer gesellschaftlichen Werte messen wir einem Menschenleben eine millionenfach höhere Bedeutung zu als einem freien Menschenleben. Deshalb gilt es als in Ordnung, einen Überwachungsstaat aufzubauen, von dem 80 Millionen, viele hundert Millionen oder gar Milliarden Menschen betroffen sind, wenn sich dadurch vielleicht irgendwann zehn Menschenleben retten lassen."

Welt, 13.01.2014

Die Forumsreihe über den Ersten Weltkrieg geht weiter. Krieg führt, besonders "aus der Perspektive von unten", zu allgemeiner moralischer Entfesselung, meint der Historiker Sönke Neitzel: "Und dies gilt nicht nur für die Deutschen, sondern - in unterschiedlichem Ausmaß - für alle Europäer, die in die Gewalterfahrung der Jahre 1914 bis 1945 verstrickt waren. Schmerz, Schuld, Scham und Schande finden sich nahezu überall."

Im Feuilleton ist Hanns-Georg Rodek noch ganz betäubt von der "Presslufthammer-Tonlage der Aggression und der Hyperaktivität und der Einschüchterung" in Martin Scorseses neuem Film "Wolf of Wall Street". Matthias Heine schreibt in der Glosse über die Begriffe "Outing" und "Coming Out", die in der Debatte um den Fußballspieler Thomas Hitzlsperger permanent verwechselt worden seien. Manuel Brug beobachtet eine veritable Welle von Kinderopern an deutschen Musiktheatern. Berthold Seewald resümiert die Debatte um die Frage, ob die wiedergefundene Guillotine, mit der Sophie Scholl hingerichtet wurde, zum Ausstellungsstück werden darf.

Besprochen wird das neueste Spektakel von René Pollesch in Zürich.

Am Samstag noch nicht auffindbar war Thomas von Steinaeckers Hommage an Arno Schmidt, dessen Genialität er geradezu unverzeihlich spät erkannt hat: "'Die Gelehrtenrepublik' zu lesen, das war eine bewusstseinserweiternde Erfahrung. Ein Buch wie ein Rauschmittel. Die Frage, die sich mir als Autor aufdrängte, war umso nüchterner: Wie kommt der nur zu so einer Sprache? Und wie überlebte einer, der so schrieb, im Literaturbetrieb?"

SZ, 13.01.2014

Bernd Graff spricht mit dem Journalisten Marvin Oppong über dessen Studie über die Versuche großer Unternehmen, Wikipedia-Inhalte professionell zu manipulieren. So stieß er etwa auf Aktivitäten von Daimler, die 2005 und 2006 mehrfache Absätze aus dem Eintrag zur eigenen Firma gelöscht hatten: "Darin ging es um die NS-Vergangenheit des Unternehmens und die Beschäftigung von Zwangsarbeitern während des Krieges. Noch 2012 tilgte man von einer Daimler-IP-Adresse aus Passagen zu Lobbying-Aktivitäten dieses Unternehmens. Von IP-Adressen, die zu BASF führten, wurden ebenfalls Abschnitte zu NS-Zwangsarbeitern getilgt."

Weitere Artikel: Andreas Zielcke ist überzeugt, dass dass zahreiche Werke der Sammlung Fohn in der Münchner Pinakothek aus Beständen beschlagnahmter "entarteter Kunst" und damit teils aus privat geführten Museen stammen: Damit wären sie restitutionswürdig. Jonathan Fischer porträtiert den malisischen Fotograf Karim Sidibe, der sich in seinen Werken, anders als sein Vater Malick Sidibe, afrikanischer Nostalgie hingibt. Thomas Steinfeld meldet, dass Venedig und Valencia den Architekt Santiago Calatrava wegen baulicher Mängel der von ihm betreuten Projekte auf Schadensersatz verklagen.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Spätwerk von Philip Guston in der Frankfurter Schirn, eine Aufführung von Falk Richters "Small Town Boy" am Berliner Gorki-Theater und Bücher, darunter eine von Roger Perret herausgegebene Anthologie über "Moderne Poesie in der Schweiz" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.01.2014

Dirk Schümer findet es reichlich unverschämt, wie zur Zeit auf Rumänen und Bulgaren rumgehackt wird, die angeblich zu Millionen in die westlichen EU-Länder reisen wollen, um dort Sozialhilfe abzukassieren. Wenn sie kassieren, sind daran in erster Linie die "indolenten" deutschen Behörden schuld, die keine Lust haben, die durchaus vorhandenen Kontrollmittel auszuschöpfen, meint Schümer. Und: "Ein eigener europäischer Roma-Kommissar mit Geldern, Sozialprogrammen und scharfen Kontrollrechten wäre, wie vom österreichischen Europapoliker Hannes Swoboda vorgeschlagen, vielleicht eine bessere Initiative der EU als das Verbot von befüllbaren Olivenölfläschchen oder offenen Zuckerdosen."

Weitere Artikel: Patrick Bahners hat in der New York Times die bislang geheim gehaltenen Namen der Experten gelesen, die in die Gurlitt-Taskforce berufen wurden: Sophie Lillie und Agnes Peresztegi. Melanie Mühl erklärt, warum sie sich nicht dafür rechtfertigen möchte, keine Kinder zu haben: "Nicht jeder will so leben, als hätte man ihn in einen Ikea-Katalog gebeamt." Andreas Platthaus berichtet über einen Streit um die Nutzung der restaurierten Universitätskirche in Leipzig.

Besprochen werden die Choreografie "Genesis" von Sidi Larbi Cherkaoui Yabin Wang in Antwerpen, eine Ausstellung im Berliner Flughafen Tempelhof mit prämierten Wohnprojekten, Simon Solbergs Inszenierung von Schillers "Kabale und Liebe" in Köln und Bücher, darunter Friederike Mayröckers Prosagedicht "études" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).