Heute in den Feuilletons

Wie die Krallen einer Katze auf Glas

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2014. In der Welt verlieren Andrzej Stasiuks Augen die Bodenhaftung. In der FR erzählt Steve McCurry, was die Zeit mit dem Fotografen und dieser mit der Zeit macht. In der NZZ spricht Junot Díaz über das Schreiben und die Zeit. Spiegel Online zitiert eine Studie über das immer religiösere Weltbild der Amerikaner: Ein Drittel nimmt die Bibel wörtlich. Die taz fordert analogen Protest gegen digitale Überwachung.

TAZ, 04.01.2014

In ihrem Resümee des Chaos-Computer-Kongress kann sich Svenja Bednarczyk mit bloßen Sicherheitsvorkehrungen gegen den Schnüffelwahn im Netz nicht zufrieden geben: Ihr fehlt neben dem digitalen der analoge Protest nach Vorbild medienwirksamer Kampagnen früherer Protestbewegungen. "Für abstrakte Begriffe wie digitale Bürgerrechte oder Netzneutralität gibt es bisher (...) nur das ebenfalls abstrakte Wehren im Netz. ... Also, Menschen, zieht euch kollektiv im Bundestag aus, im Internet sind wir eh alle nackt."

Bernd das Brot
entwickelt im Gespräch mit Maria Rossbauer vor lauter mieser Laune geradezu klaustrophobische Zustände: "Es ist erstaunlich, dass ich mir seit geschlagenen 90 Minuten die Mühe gebe, so uninteressante Antworten wie möglich zu geben, und es hört nicht auf. Ich will hier weg. ... Sie zählen mit Abstand zu den anstrengendsten Personen, die ich je kennengelernt habe! Ich wäre gerne da, wo Sie nicht sind!"

Außerdem: Die Fotografin und Aktivistin Leni Sinclair, die früher unter anderem auch eng mit den MC5 zusammengearbeitet hat, erzählt Julian Weber aus ihrem Leben. Ulrike Winkelmann begegnet Politikerporträts mit großer Skepsis: Dies ist "eine Textsorte, die mindestens so viel Aufklärung verhindert, wie sie schaffen will." Katharina Granzin porträtiert die beiden schwedischen Krimiautoren Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt. Außerdem fragt die taz, ob wir die Piratenpartei noch brauchen.

Besprochen werden eine Lyonel-Feininger-Ausstellung in Lüneburg und Bücher, darunter Joann Sfars Comic "Vampir" und Hartmut Rosas Essay "Beschleunigung und Entfremdung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 04.01.2014

Arno Widmann führt ein munteres (leider nicht online stehendes) Interview mit dem Fotografen Steve McCurry, der unter anderem auch über die Rolle der Zeit in der Fotografie spricht: "Wenn Sie nicht warten, gibt es selbst den Zufall nicht. Wir Fotografen müssen immer warten. Auf das richtige Licht zum Beispiel oder den richtigen Gesichtsausdruck. Das ist auch eine Sache der Erfahrung. Man kann viel mehr antizipieren, als der Ungeübte denkt. Man steht an einem Ort und hat das Gefühl: Das hier ist richtig. Dann wird dort auch etwas passieren, das ein gutes Foto werden kann."

Spiegel Online, 04.01.2014

Grauenhaftes über das immer religiösere Weltbild der Amerikaner (besonders gilt das für Anhänger der republikanischen Partei) geht aus einer Studie des Pew Research Center hervor, berichtet Frank Patalong: "57 Prozent und damit die Mehrheit der Amerikaner sind generell schöpfungsgläubig: Zu dem Drittel der Bevölkerung, das der Schöpfungsgeschichte der Bibel wörtlich anhängt, kommen noch einmal 24 Prozent, die glauben, Gott persönlich habe die Evolution eingeleitet und zu dem Zweck gelenkt, den Menschen zu schaffen."

Weitere Medien, 04.01.2014

Flaneur Joseph von Westphalen gibt in der Abendzeitung Tipps für kultiviertes Flanieren in München: "Im Nymphenburger Park herrscht auch an Feiertagen kein Gedränge, selbst auf den Wegen um das Schloss herum sind nie mehr Menschen zu sehen als auf den alten Gemälden und Stichen. Auch ist die Mischung aus Touristen und Einheimischen gelungen. Und die Gesprächsfetzen sind irgendwie gepflegter als anderswo.

NZZ, 04.01.2014

In Literatur und Kunst spricht der in der Dominikanischen Republik geborene amerikanische Autor Junot Díaz im Interview über die Lage der Immigranten in Amerika und das Schreiben, das bei ihm sehr langsam geht: "Was meine Arbeit betrifft, so bin ich eher ein Tiefseetaucher. Ich bin jemand, der gern dorthin vordringt, wo es sehr tief, sehr kalt und dunkel ist. Nur von dort unten kann ich mit einem Stoff zurückkehren, der halbwegs brauchbar ist. Andere Schriftsteller finden schon hinter der nächsten Straßenecke etwas, das sie zum Schreiben anregt, und müssen nicht wie ich bis ans Ende der Welt vordringen. Dennoch glaube ich, dass es Dimensionen menschlicher Erfahrung gibt, die sich nur durch eine große Anstrengung und nach langwieriger Arbeit erschließen lassen, nach einer langen und intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen und den nahezu unsichtbaren Schwingungen anderer Menschen."

Weiteres: Marko Martin unterhält sich mit dem Schriftsteller Assaf Gavron über die israelischen Siedler, die auch in seinem neuen Roman "Auf fremdem Land" die Hauptrolle spielen. Heinrich Aerni porträtiert den deutsch-amerikanische Dirigenten und Komponisten Hermann Hans Wetzler.

Im Feuilleton erklärt uns Hans Maier, ehemaliger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, den "staunenerregende Führungsstil" des neuen Papstes. Ulrich M. Schmid berichtet über russische Pläne für einen Megamuseumskomplex zur Geschichte der Sowjetunion.

Besprochen werden eine Ausstellung der Sticker Lisbet und Robert J. Schläpfer im Textilmuseum St. Gallen, Malgoska Szumowskas Film "In the Name of" und Bücher, darunter Romane von Georges Perec und Shani Boianjius Roman "Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 04.01.2014

Die Literarische Welt druckt eine Reisereportage Andrzej Stasiuks, der diesmal durch China fährt. Als er in Jining, dreihundert Kilometer vor der mongolischen Grenze, aus dem Bus steigt, macht er zum ersten Mal die Erfahrung, dass zweihunderttausend Augen ihm folgen. "Als Nächstes muss man sich daran gewöhnen, dass wir nicht recht wissen, auf was wir gerade schauen. Unser Blick rutscht über alles hinweg wie Sommerreifen auf dem Eis, wie die Krallen einer Katze auf Glas. Null Bodenhaftung. Überall sind Aufschriften, Schilder, Neonröhren, Parolen, Reklametafeln, Bildschirme, Transparente; der ganze Raum ist voller Botschaften - wie ein wilder, extravaganter Times Square am Rande der Wüste Gobi. Aber man versteht nichts. Einfach gar nichts. Statt Worten exotische Bilder, kunstvolle Grafiken, Ornamente, die mehr an Zierrat erinnern als an irgendetwas anderes."

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki", Johannes Frieds Biografie Karls des Großen (daneben gibt es ein Interview von Ulrich Wickert mit Fried), Sendhil Mullainathans und Eldar Shafirs Band über "Knappheit", Evelyne Bloch-Danos Gemüsekulturgeschichte "Die Sehnsucht im Herzen der Artischocke", Thomas Heams-Ogus' Roman "116 Chinesen oder so" und Tom Reiss' Buch über das Leben des wahren Grafen von Monte Christo.

Im Feuilleton deutet Ulf Poschardt deutsche Reaktionen auf den Unfall Michael Schumachers. Tilman Krause gratuliert Hellmuth Karasek zum Achtzigsten. Besprochen werden Choreografien des Balletts von Monte Carlo und das Debütalbum von Sky Ferreira "Night Time, My Time".

SZ, 04.01.2014

Den Kunsthistoriker Wolfgang Kemp packt das kalte Grausen über amerikanische Universitäten, die sich zusehends kapitalistischer Logik fügen: "Ungezügelte Konkurrenz führt zu dem Resultat, das kurz 'University Inc.' oder Aktiengesellschaft Universität heißt. ... Für die Zwecke der Lehre werden in 'Pro-Profit'-Universitäten im Durchschnitt 17,4 Prozent der eingenommenen Gelder aufgewandt, der Rest ist Gewinn, Werbung, Management. Forschung findet an diesen Universitäten nicht statt."

Außerdem: Tim Neshitov porträtiert die chinesische Tänzerin Jin Xing, die in China allerdings bekannter dafür ist, als erste Bürgerin des Landes eine Geschlechtsumwandlung gestattet bekommen zu haben. Till Briegleb sichtet die internationalen, bunt geratenen Entwürfe für ein von McDonald's finanziertes Kinderkrankenhaus in Hamburg, bleibt aber insgesamt mehr als nur sanft skeptisch: "Von der Massentierhaltung zum heilenden Design-Apartment geht die moralische Einheit jedenfalls irgendwo verloren." Michael Stallknecht erklärt, dass selbst gefeierte Virtuosen unter den Klassikmusikern gehörig an Lampenfieber leiden. Kristina Maidt-Zinke gratuliert Hellmuth Karasek zum Achtzigsten.

Auf Seite Drei erzählt Joachim Hentschel die mittlerweile 35 Jahre dauernde Geschichte des Village-People-Megahits "Y.M.C.A.".

Besprochen werden die Ausstellung "Neon - Vom Leuchten der Kunst" in Ingolstadt (Bild: Thomas Ruff: substrat II, 29, Ed. 3/3, 2006), Moritz Sieberts Dokumentarfilm "Erntehelfer" und Bücher, darunter Loreana Nemes Fotoessay "Beautiful" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr). Die Wochenendbeilage ist ganz dem Ersten Weltkrieg gewidmet.

FAZ, 04.01.2014

Der Anwalt und Blogger Malte Grehsin widerspricht Udo di Fabio, der vor knapp zwei Monaten behauptet hatte, die USA hätten mit ihren Überwachungssystemen das Ende der Privatheit eingeleitet, weshalb man "Gegenmachtsstrategien" entwickeln müsse. Nein, meint Grehsin, erstens waren es die Deutschen, die erste Auwertungssysteme entwickelten, und zweitens gebe di Fabio mit seiner Gegenstrategie quasi den Rechtsstaat auf: "Jeder Einzelne weiß, dass abnormes Verhalten in der immer 'normaler' werdenden Gesellschaft genau registriert wird. Also fügt er sich und verhält sich wie alle anderen. Das ist als 'Einschüchterungseffekt' nicht nur aus dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung bekannt. Es ist daher gerade die erste Aufgabe des Rechtsstaates, solche Lebensbedingungen zu schaffen und die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen vorzudenken, welche dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen."

Weitere Artikel: Gefährlicher als den neuen Quantencomputer der NSA findet Stefan Schulz die Vorstellung, dass die digitale Währung Bitcoin "eine Technologie ist, die gezielt geschaffen wurde, um einen zivilen Markt für die Entwicklung von Computern zu schaffen, mit der sich Verschlüsselungsalgorithmen optimierter berechnen lassen". Patrick Bahners schildert im Aufmacher einen höchst komplizierten amerikanischen Rechtsfall um das Urheberrecht an der literarischen Figur Sherlock Holmes (mehr dazu bei Heise). Martin Kämpchen berichtet über die Lage vergewaltigter Frauen in Indien. Hilflos findet Jürg Altwegg Versuche des französischen Innenministers, dem Komiker Dieudonné, "Verkörperung eines rot-braunen Sumpfs", Auftrittsverbot zu erteilen. Der 1925 als Sohn eines Kameruners und einer Deutschen geborene Theodor Michael spricht im Interview über Rassismus in Deutschland. Claudius Seidl gratuliert Hellmuth Karasek zum Achtzigsten. Gina Thomas schreibt zum Tod der britischen Schriftstellerin Elizabeth Jane Howard.

Besprochen werden die Ausstellung "Afritecture - Bauen mit der Gemeinschaft" im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne und Bücher, darunter Jan Eike Dunkhases Band über Spinoza und Zadie Smiths Roman "London NW" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Marcel Reich-Ranicki über Klabunds Gedicht

"Ich baumle mit de Beene

Meine Mutter liegt im Bette,
Denn sie kriegt das dritte Kind;
Meine Schwester geht zur Mette,
weil wir so katholisch sind.
..."