Heute in den Feuilletons

Grotesk, muffig und gleichzeitig frei

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2013. Das Leistungsschutzrecht ist ein doppelter Sieg der Lobbyisten, meint Udo Vetter in seinem Lawblog: Google bleibt außen vor. Und die Zeitungen haben ein Instrument, mit dem sie Netzbürger einschüchtern können. Auch Justus Haucap, früherer Chef der Monopolkommission, sieht im Handelsblatt eine Abmahnwelle anrollen. Nüchtern blickt die Welt auf den entzauberten Papst. In der Zeit fordert der Roma István Forgács mehr Eigeninitiative von den Roma. Alle Zeitungen nehmen Abschied von Stéphane Hessel.

Aus den Blogs, 28.02.2013

Im lawblog erklärt Udo Vetter, worum es bei dem geplanten Leistungsschutzrecht geht: Einschüchterung. Seit eine Neuformulierung Google praktisch rausnimmt, ist völlig unklar, gegen wen sich das Gesetz jetzt noch richtet. Und genau das ist sein Sinn, schreibt Vetter: "Ziel der Verleger ist es, die öffentliche Beschäftigung mit Nachrichten riskant zu machen. Wer sich in seinem Blog, auf Facebook oder Twitter mit aktuellen Ereignissen auseinandersetzt, soll sich abmahngefährdet fühlen. Mit der Folge, dass viele lieber gar nichts mehr schreiben, weil sie keinen Bock und schon gar nicht das Geld haben, um Verlagsabmahnungen wegen angeblich illegal übernommener Textpassagen abzuwehren. ... Es geht nämlich gar nicht darum, ob die Abmahner eindeutig Recht haben. Den Abmahnern reicht es schon, nicht offensichtlich im Unrecht zu sein. Den Rest besorgt das strukturelle Ungleichgewicht. Anwaltsbriefe, noch dazu mit hohen Geldforderungen, versetzen die meisten Menschen nach wie vor in Angst."

(via netzpolitik) Auch Justus Haucap, früherer Chef der Monopolkommission, sieht im Interview mit dem Handelsblatt eine Abmahnwelle auf Blogger zurollen: "Zum Beispiel könnten Blogger abgemahnt (werden), die auf andere Blogs verlinken. Ich bin mir absolut sicher, dass dann ein gewaltiges Abmahnwesen entsteht, gerade weil die Rechtsunsicherheit enorm ist. [...] Das ganze Gesetz zum Leistungsschutz ist ein Fiasko. Wenn das Gesetz mit diesen Änderungen am Freitag im Bundestag beschlossen wird, gäbe es für Google wohl kaum Auswirkungen. Dann trifft man nur noch die Falschen, kleine Blogger zum Beispiel."

Die Freischreiber nehmen vor allem an diesem Passus des neuen Gesetzestextes Anstoß: "Der Hersteller eines Presseerzeugnisses (Presseverleger) hat das ausschließliche Recht, das Presseerzeugnis oder Teile hiervon zu gewerblichen Zwecken öffentlich zugänglich zu machen, es sei denn, es handelt sich um einzelne Wörter oder kleinste Textausschnitte." Kommentar der Freischreiber: "Was heißt das für uns Freie und unsere Texte? Konkurriert das Leistungsschutzrecht jetzt doch mit dem Urheberrecht? Und wie wird dieses Monopol der Verwerter gegenüber den eigentlichen Urhebern begründet?"

(via) Gestern feierte der amerikanische Filmkritiker Jonathan Rosenbaum (hier sein Blog, in dem er viele seiner historischen Texte einstellt) seinen 70. Geburtstag. Seine jüngeren Kollegen Kevin B. Lee und Ignatiy Vishnevetsky haben aus diesem Anlass einen sehr schönen, sehenswerten Interviewfilm mit ihm gedreht:



TAZ, 28.02.2013

Julian Weber unterhält sich mit dem Künstler und Autor Wolfgang Müller über dessen Buch "Subkultur Westberlin 1979-1989", eine Art Album von Punk und Neuer Deutscher Welle bis zum Postpunk der späten Achtziger. "Grotesk, muffig und gleichzeitig frei" sei der Westberliner Alltag gewesen, erzählt Müller und bekennt: "Meine Band Die Tödliche Doris hat im Gegensatz zu den Neubauten nie die Apokalypse heraufbeschworen. Uns war auch das Pathos fremd. Man stirbt nicht durch den Weltuntergang, sondern durch sieben tödliche Unfälle im Haushalt, siehe den Titel unseres Debütalbums."

Weiteres: Sein Imperativ werde nun zum Nachlass, schreibt Rudolf Balmer in seinem Nachruf auf den ehemaligen französischen Widerstandskämpfer, Diplomaten und Autor des Pamphlets "Empört Euch!" Stéphane Hessel. Daniel Schreiber setzt seine Alkohol- und Suchtbetrachtungen fort, heute geht es um die "öffentliche Choreografie der Suchtbeichte".

Besprochen werden Sherry Hormans Film "3096 Tage" über die Geschichte von Natascha Kampusch ("Spielfilm als Therapie? Für wen?") und zwei Ausstellungen im Münchner Haus der Kunst, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Apartheid in Südafrika auseinandersetzen: "Aufstieg und Fall der Apartheid" (mehr) und "Kendell Geers: 1988-2012" (mehr).

Und Tom.

Welt, 28.02.2013

Recht nüchtern blickt Richard Herzinger auf den Rücktritt des Papstes, der für ihn dem Nimbus des Amtes geschadet hat: "Als Nichtgläubiger könnte man die Entzauberung der katholischen Kirche mit Genugtuung registrieren, weicht mit ihr doch eine der hartnäckigsten Kräfte, die sich der Säkularisierung in den Weg gestellt haben. Doch war es stets auch ihre Funktion, religiösen Fanatismus in ihren Dogmengebäuden zu binden und tendenziell zu neutralisieren. Der könnte sich jetzt andere Wege suchen."

Ebenfalls auf der Forumsseite wendet sich Cora Stephan gegen die Bevormundung der Bürger, etwa betreffs ihrer Gesundheit.

Im Feuilleton schreibt Mara Delius zum Tod Stéphane Hessels. Jan Küveler freut sich, dass der Ort, an dem Freddie Mercurys Asche verstreut wurde, nun endlich gefunden ist - es handelt sich um den Kensal Green Cemetery im Westen Londons. Sascha Lehnartz resümiert die neueste saftige Affäre um Dominique Strauss-Kahn - seine Ex-Geliebte Marcela Iacub verwandelt ihn in ihren Erinnerungen an ihre Affäre in ein Schwein, das ihr in höchster Lust ein Ohr abbeißt, wogegen DSK geklagt hat. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Sherry Hormann und Michael Ballhaus über ihren Natascha-Kampusch-Film. Manuel Brug hätte sich die gerade in London reüssierenden Choreografen Christopher Wheeldon oder Alexei Ratmansky gut als Chefs des Berliner Staatsballetts vorstellen können, das nun aber seine Chance verpasst hat.

Aus den Blogs, 28.02.2013

Das Social Media Watchblog stellt sich vor: "Das Blog soll einen Beitrag zum Datenschutz leisten und ein größeres Bewusstsein für Daten sowie das Nutzen sozialer Netzwerke schaffen - im besten Fall investigativ. Ferner soll das Blog die umjubelten Netzwerke kritischer begleiten - denn: Daten sind das neue Öl, und es geht um Milliarden!"

(via Neunetz) Apropos Daten: Richard Gutjahr hat recherchiert, wie Bertelsmann Daten über Kinder sammelt. Mitarbeiter der WKV Direktvertriebs GmbH, die bis Ende 2012 das Sammeln für Bertelsmann besorgten, erklärten ihm: "32.000 Schulen in ganz Deutschland sowie in Österreich werden mit jeder Sammelaktion [für Gutschein-Karten] angeschrieben. Die Akzeptanz sei hoch, heißt es. Nur eine von 5 Bildungseinrichtungen lehne das Angebot für Gratisbücher ab. In mindestens 2 Erhebungswellen habe man dabei auch Kindergärten 'angetestet'. Das habe aber nicht sonderlich gut funktioniert. Bei den Schulen sei die Rücklaufquote mit 50-60 Prozent aller ausgegebenen Gutscheinkarten deutlich höher."

(via open culture) Die Briten sind einfach toll. Nur die BBC käme auf die Idee, welthistorische Ereignisse als "horrible histories" für Schüler zu erzählen. Hier lernt man, warum der Erste Weltkrieg ausbrach:


NZZ, 28.02.2013

Vor dem Konklave wirft der Politikwissenschaftler und Philosoph Otto Kallscheuer einen Blick auf ein paar potenzielle Päpste und hofft auf überfällige außereuropäische Impulse: "Nirgendwo hat der scheidende Pontifex so versagt wie in Afrika. Ein Papst, der Kondome allenfalls für den sündigen Sonderfall männlicher Prostitution in Erwägung zieht und sonst eheliche Treue fordert, hat einfach nicht verstanden, was es heißt, wenn die Seuche Aids ein Fünftel, ein Viertel der Christenheit Afrikas dahinrafft."

Anette Selg stellt die Schwestern Inci Bürhaniye und Selma Wels vor, die den auf türkische Gegenwartsliteratur spezialisierten Berliner Binooki Verlag gegründet haben und dafür in Leipzig mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis ausgezeichnet werden: "Das Ziel, welches sich Inci Bürhaniye und Selma Wels für ihren Binooki-Verlag gesetzt haben, ist ganz einfach. Es existieren zu wenig deutschsprachige Übersetzungen türkischer Literatur. Weder werden die Romane und Erzählungen der gegenwärtigen Autorengeneration angemessen wahrgenommen noch die Bücher der modernen Klassiker aus dem vergangenen Jahrhundert. Und dagegen wollen die Binooki-Verlegerinnen etwas unternehmen."

Weiteres: Marc Zitzmann schreibt zum Tode von Stéphane Hessel. Besprochen werden die FIlme "Like Someone in Love" von Abbas Kiarostami und "In the Fog" von Sergei Loznitsa, die Uraufführung von Elsa Morantes Theaterstück "Ödipus" in Mailand sowie Bücher, darunter Tom Schulz' Lyrikband "Innere MusiK" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 28.02.2013

Alice Bota porträtiert den für seine Thesen umstrittenen Roma-Experten István Forgács, der selbst ungarischer Roma ist und von den Roma mehr Anpassung und Eigeninitiative fordert: "Warum, fragt Forgács, sammeln die Roma irgendeines Dorfes nicht den Müll in ihrer Siedlung auf, um zu zeigen, dass sie sich kümmern? Warum bauen sie nicht einen Spielplatz, anstatt darauf zu warten, dass der Bürgermeister einen baut? Warum schützen sie den, der Ärger macht und seine Gemeinschaft diskreditiert? Einmal, erzählt Forgács, kam die Polizei. Sie hat einen Wucherer verhaftet, der für seine Kredite 200 Prozent Zinsen nahm. Auf einmal umzingelten 300 Roma den Polizeiwagen. 'Sie wollten jemanden schützen, weil er einer von ihnen war, obwohl er ihnen schadet. Ist das zu fassen?', fragt István Forgács." In der Rubrik Geschichte spricht Christian Staas mit dem Germanisten Klaus-Michael Bogdal, der für sein Buch "Europa erfindet die Zigeuner" den Preis der Leipziger Buchmesse erhält.

Im Feuilleton verwirft der Historiker Gerd Koenen die in Wolfgang Kraushaars Buch "Wann endlich beginnt ..." geäußerte These, Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann seien die Regisseure einer antisemitischen Anschlagserie Anfang der siebziger Jahre gewesen: "Möglich immerhin, dass sich das so oder so ähnlich in den drogenumnebelten, von gewaltbereiten Allmachtsphantasien besessenen Köpfen der deutschen Kommunarden zusammengereimt hat. Nur erscheinen die Akteure, um die es hier geht, vollkommen inkompatibel. Und für irgendeine tatsächliche Koordination, geschweige denn eine 'Regie', gibt es keinen einzigen materiellen Hinweis."

Weitere Artikel: Gero von Randow informiert über den Skandal um einen französischen Schlüssellochroman über das Sexualleben von Dominique Strauss-Kahn. Judith Innerhofer berichtet über den Streit um Universitätsbibliotheken, die ihre Online-Kataloge mit Amazon verlinken. Kilian Trotier vergleicht zwei Dokumentationen und einen Spielfilm über den Behindertensport. Moritz von Uslar würdigt Oscar-Gewinner Christoph Waltz. Katja Nicodemus erkennt in Michelle Obamas Oscar-Auftritt einen "Hauch von Staatssozialismus". Der Schriftsteller Burkhard Spinnen würdigt den Einfluss des verstorbenen Kinderbuchautors Otfried Preußlers.

Besprochen werden Theaterstücke mit Kristin Scott Thomas (in Pinters "Old Times" in London), Judith Engel (in Katy Mitchells "Die gelbe Tapete" in Berlin) und Julia Jentsch (in "Die Katze auf dem heißen Blechdach" in Zürich), die Frankfurter Ausstellung "The Krazy House" mit Rineke Dijkstras Fotos von Pubertierenden, eine Ausstellung mit Werken des Renaissancemalers Jacopo da Pontormo in Hannover (die Hanno Rauterberg "wunderbar klug" kuratiert findet), der Oscar-nominierte Dokumentarfilm "Töte zuerst" (der nächste Woche in der ARD und auf Arte zu sehen ist), Sherry Hormanns Film "3096" über die Gefangenschaft Natascha Kampuschs ("es hätte schlimmer kommen können", konstatiert Maximilian Probst), Michael Hanekes Madrider "Così"-Inszenierung sowie Bücher, darunter DDR-Romane von Birk Meinhardt, Torsten Schulz, Jochen Schmidt und Petra Morsbach (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 28.02.2013

Joseph Hanimann würdigt den 95jährig verstorbenen Stéphane Hessel als "Grand Seigneur des Aufruhrs": Was aus seinen beiden späten Schriften "Empört Euch" und "Engagiert Euch" "von den 'Occupy'-Gruppierungen rund um die Welt gemacht wurde, entging seiner Kontrolle. Mehr als ein geistiger Rädelsführer war er ein Mann, der hartnäckig unbequeme Fragen aufwirft."

Außerdem berichtet Tim Neshitov vom Stand der Dinge bei Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso.

Besprochen werden eine von Kirill Petrenko dirigierte "Rheingold"-Aufführung in Bayreuth, Kay Voges' Bühnenadaption von Thomas Vinterbergs Film "Das Fest" am Theater Dortmund, neue Kinofilme, darunter "Hyde Park am Hudson" (mit Bill Murray als Roosevelt), eine Ausstellung mit Fotos von Boris Mikhailov im Sprengel Museum in Hannover und Bücher, darunter Iris Hanikas "Tanzen auf Beton" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 28.02.2013

Morgen beginnt im Berliner Kino Arsenal eine von den Perlentaucher-Autoren Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky unter dem Label "The Canine Condition" mitkuratierte Filmreihe über die chinesische Filmgeschichte von 1929 bis 1964, die Bert Rebhandl nur empfehlen kann: Sie gibt Aufschluss darüber, wie das chinesische Kino die für das moderne China entscheidenden Jahre der Transformation zeitnah repräsentierte. "Fast scheint es, das chinesische Kino hätte angesichts stets neuer historischer Umbrüche immer nur Ansätze von Form und viele hybride Konstrukte entwickelt. Doch ein kleiner Film wie 'The Lin Family Shop' (Lin shia pu zi, 1958) bezeugt, dass es auch Phasen der Konsolidierung gab, oder vereinzelte Momente von Klassizität in turbulenten Zeiten."

Außerdem: Jürg Altwegg berichtet vom Wirbel, den Marcela Iacubs Buch über ihre Affäre mit Dominique Strauss-Kahn in Frankreich ausgelöst hat (so darf es per Gerichtsbeschluss nur noch mit dem Vermerk verkauft werden, dass es gegen die Privatsphäre des französischen Politikers verstoße). Hannes Hintermeier porträtiert die Münchner Buchhändlerin Rachel Salamander, die gerade mit dem Schillerpreis ausgezeichnet wurde. Jürg Altwegg schreibt den Nachruf auf Stéphane Hessel.

Online erfahren wir, dass das Bundeskartellamt einer Übernahme der FR durch die FAZ zugestimmt hat. Doch wird die FAZ offenbar nur 28 der über 400 FR-Mitarbeiter übernehmen.

Besprochen werden Moskauer Theatersatiren auf den russischen Männertag, der Fantasyfilm "Hänsel und Gretel: Hexenjäger" ("knirschender, fauchender, keckernder, meckernder, postironischer Kinoschrott", der Dietmar Dath zum Äußersten treibt: "Was für ein Dreck"), die Ausstellung über "Wohnen im Alter" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, eine "Nabucco"-Aufführung an der Stuttgarter Staatsoper, Judy Kibingers Film "Something Necessary", Donizetti-Opern in Köln und Brüssel sowie Bücher, darunter Benoît Peeters Derrida-Biografie (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).