Heute in den Feuilletons

Aus dem Dauerfrost sexueller Verklemmtheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2013. Die SZ erkundet die Tücken der türkischen Zensurgesetzgebung. Die Welt betreibt Animal Studies. Die NZZ schildert die Lage der Frauen in Indien. Die FAZ schildert den Medienkrieg um Gaza. Die taz versucht herauszufinden, was die Suhrkamp-Kultur eigentlich war. In der FR schildert  Uli Lommel die Unendlichkeit, die ihm Angst macht. Und Gema und Youtube haben sich mal wieder nicht geeinigt.

NZZ, 11.01.2013

Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Sudhir Kakar beschreibt die prekäre Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft als eine ungünstige Mischung aus traditionellen Rollenbildern und westlichem Körperkult: "Die der indischen Zivilisation zugrunde liegende Idee, Frauen durch ihre Verwandtschaftsbeziehungen zu definieren und damit einen Großteil von ihnen in eine sexuelle Tabuzone zu relegieren, war zu extrem. Aber indem wir diese Auffassung mit einem anderen Extrem ersetzen - nämlich der westlichen Wahrnehmung des Körpers als Vergnügungspark -, werden wir lediglich aus dem Dauerfrost sexueller Verklemmtheit ins Höllenfeuer exzessiver Sexualität gestürzt."

In Sachen Suhrkamp bedauert Joachim Güntner Versäumnisse der Verlagsführung: Hans Barlach habe "ein spürbar großes Bedürfnis, als Kulturfreund anerkannt zu werden. (...) Warum war man im Hause Suhrkamp nicht so klug, ihn bei diesem Bedürfnis zu packen, es freundlich-maßvoll zu befriedigen und sich im Übrigen seiner kaufmännischen Fähigkeiten zu versichern, wie man es beim Verkauf der alten Frankfurter Liegenschaften ja immerhin getan hat?"

Weiteres: Marc Zitzmann berichtet über die vom französischen Filmproduzenten Vincent Malaval in Le Monde angestoßene Debatte über horrende Schauspielergagen bei staatlich subventionierten Großproduktionen. Bjørn Schaeffner wirft einen Blick auf das Line-up des Norient-Musik- und -Musikfilmfestivals in Bern. Besprochen werden neue CDs von Scott Walker und Vindicatrix.

Welt, 11.01.2013

Auf Seite 1 des Feuilletons veranstalten Wieland Freund und Jacques Schuster ein Pro und Contra zur Frage, ob es richtig ist, das Wort "Neger" aus Otfried Preußlers "Kleiner Hexe" zu streichen. Freund findet's nicht so schlimm. Schuster fragt: "Warum dürfen Eltern nicht die Wahl haben, während sie vorlesen selbst zu entscheiden was ihre Kinder hören sollen?"

Frank Kaspar unternimmt einen Streifzug durch die relativ junge akademische Disziplin der "Animal Studies": "In der 2012 von Jessica Ullrich begründeten Zeitschrift Tierstudien diskutieren Literatur-, Musik- und Kunstexperten, Philosophen und Theatermacher, wie Tiere in der Kunst in Erscheinung treten. Oder ob sie am Ende selbst Kunst produzieren?"

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann begrüßt Simon Rattles Entschluss, seinen Vertrag mit den Berliner Philharmonikern nicht über das Jahr 2018 hinaus zu verlängern. Hanns-Georg Rodek geht die Oscar-Nominierungen durch. Stefan Grund schreibt zum Tod des großen Schauspielers Peter Fitz. Elmar Krekeler empfiehlt in seiner Krimikolumne Nicci Frenchs "Eisiger Dienstag".

Und im Essay auf der Forumsseite meint Cora Stephan: "Wir brauchen in Deutschland kein 'besonderes Verhältnis' zu Israel und auch nicht die Beschwörung des Holocaust, es reichte im Grunde das pure Eigeninteresse: das Interesse daran, im Nahen Osten nicht die letzte Bastion von westlicher Moderne, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verlieren."

Weitere Medien, 11.01.2013

Der Schauspieler Uli Lommel, der mit 14 Jahren von zu Hause abhaute, erzählt im Interview mit der FR/Berliner Zeitung, was Freiheit für ihn bedeutet: "Ich bin quasi auf Tournee aufgewachsen. Ich schlief auf dem Rücksitz, wenn wir nach der Vorstellung zum nächsten Ort gefahren sind. Und wenn da nicht genug plakatiert war, haben wir morgens um vier noch Plakate geklebt. Ich lebte im Theater. Das Privatleben selber erschien mir wie ein endloser Raum, in dem man sich leicht verliert. Diese Unendlichkeit machte mir Angst."

Aus den Blogs, 11.01.2013

Wärmstens empfiehlt Khalil A. Cassimally im Blog des Scientific American John Dales Buch "24 Hours in Journalism", in dem Dale in Einzelportäts die ganze Welt des Journalismus in der Krise erkundet: "Dale subtly shows us the struggles of a freelancer desperately trying to make ends meet as well as the sudden decline of an ex-News of the World reporter who nobody wants to employ due to his past phone hacking crimes."

Zu diesem Stück von Blawan meint Andrew Gaerig in Pitchfork: "If you're looking for more evidence of Europe's advanced cultural standing -- to go along with universal health care, advanced literacy rates, and elBulli -- consider that the continent's club-goers chant along to Blawan's insidious, very not-pop 'Why They Hide Their Bodies Under My Garage' when it hits the decks." Ach ja? Dann jetzt alle zusammen:



Stichwörter: Hacking, Journalismus, Pitchfork

Weitere Medien, 11.01.2013

Die Basler Zeitung veröffentlicht eine Liste der fünfzehn wichtigsten Schweizer Intellektuellen - und ausgerechnet Gaddafi-Preisträger Jean Ziegler steht auf Platz 1.

Die Verhandlungen zwischen Youtube und Gema sind wieder mal gescheitert, meldet heise.de. Außerdem mahnt die Gema den Videodienst wegen dessen Sperrhinweis "Leider ist dieses Video in Deutschland nicht verfügbar, da es Musik enthalten könnte, für die die Gema die erforderlichen Musikrechte nicht eingeräumt hat" ab.

TAZ, 11.01.2013

Aus gegebenem Anlass versuchen acht taz-Redakteure und -Autoren ganz subjektive Antworten darauf zu geben, was diese Suhrkamp-Kultur eigentlich ist, um die sich derzeit alle so sorgen. Neben einigen wehmütigen Erinnerungen an Erstlektüren steht das Bekenntnis, es so genau auch nicht zu wissen. Brigitte Werneburg jedenfalls kann sich nicht erinnern, was ihr erstes Suhrkamp-Buch war: "Warum hätte ich es mir auch merken sollen? War ein Suhrkamp-Buch in die Hand zu nehmen ein sakraler Akt? ... Suhrkamp war eine wichtige Adresse für Wissenschaft und Theorie in der Zeit, in der Peter Bürgers 'Theorie der Avantgarde' dort erschien. Aber fand man zur gleichen Zeit nicht die rasanten Sachen doch eher bei Merve?!"

Eine Meldung informiert uns, dass im Suhrkamp-Streit jetzt mehr als siebzig Autoren, darunter Durs Grünbein, Tankred Dorst und Sibylle Lewitscharoff, für Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz Partei ergriffen haben. In dem Appell von Donnerstag heißt es unter anderem: "Wir, die Autoren wie die Erben der Autoren, lassen nicht zu, dass der Frieden dieses Hauses gebrochen wird. Wir gehören zum Suhrkamp Verlag, nicht aber in die Gesellschaft eines, der den Verlag aufs Spiel setzen will."

Weitere Artikel: Ingo Arend resümiert eine Veranstaltung, auf der Kunsthistoriker aus Anlass der Ausstellung "Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945" im Deutschen Historischen Museum in Berlin darüber diskutierten, ob Kunst politische Thematiken sinnvoll illustrieren kann. Bert Rebhandel kommentiert die Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen.

Besprochen werden das Album "Elements of Light" des Techno-Produzenten Pantha du Prince und das Album "Berberian Sound Studio" der englischen Psychedelicpopband Broadcast.

Und Tom.

SZ, 11.01.2013

Tim Neshitov hat sich bei Metin Celal vom Verband Türkischer Verleger informiert, welche Haken die türkische Zensurreform hat, die das Verbot von 23000 Publikationen aufhebt: "Das Gesetz bezieht sich nämlich nicht auf den Inhalt der Texte, sondern lediglich auf deren Erscheinungsdatum. Das heißt, alles was vor Ende 2011 erschienen ist, darf nun verkauft und gelesen werden. 'Das heißt aber nicht', sagt Celal, 'dass man diese Bücher ohne Weiteres weiter verlegen darf.' Sollte also ein türkischer Verleger morgen 'Das Kapital' oder Öcalans 'Manifest einer demokratischen Lösung für das kurdische Problem' drucken, kann er wieder angeklagt werden."

Außerdem: Der Gema-Vorstandsvorsitzende Harald Heker schiebt auf einer ganzen Seite im Interview jede Verantwortung für die gescheiterten Verhandlungen mit Youtube dem Gegner zu. Für "eher ungewöhnlich" hält Susan Vahabzadeh den Schritt der Academy, Michael Hanekes Film "Amour" trotz französischem Originalton auch in der Oscar-Kategorie "Bester Film" zu nominieren. Franziska Augstein schreibt zum 90. Geburtstag von Ernst Nolte.

Besprochen werden Nate Silvers "The Signal and the Noise" und Norbert Zähringers Roman "Bis zum Ende der Welt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 11.01.2013

Der Krieg in Gaza ist auch ein Medienkrieg, mit dem Sympathien für die eigene Seite gewonnen werden sollen. Die Palästinenser gewinnen besonders dann Sympathien, wenn unter ihren Opfern mehr Zivilisten als Kämpfer sind. Darüber, wer ein Zivilist ist, entscheidet vor allem das PCHR, das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte, dessen Berichte von der UNO und den großen Menschenrechtsorganisationen und Medien übernommen werden. Wie zweifelhaft diese Berichte aber sein können, schildert Jan Ludwig am Beispiel des getöteten Palästinensers Mohammed Abu Eisha, den die PCHR als Journalisten, die Israelis dagegen als Terroristen deklarierten. Tatsächlich spricht alles dafür, dass Abu Eisha dem Islamischen Dschihad angehörte, so Ludwig. "Könnte es nicht sein, dass einer wie Abu Eisha tagsüber mit der Kamera filmt und nachts Raketen verschießt? 'Warum haben sie ihn dann nicht nachts angegriffen, wenn er angeblich Raketen verschießt?', fragt Sabreen Al Tartor zurück. Der Satz zeigt das fundamentale Missverständnis, an dem die Arbeit des PCHR krankt. Für das PCHR scheint nur Kämpfer zu sein, wer mit der Waffe in der Hand stirbt. Das Völkerrecht sieht das anders."

Weitere Artikel: Voller Grausen durchstreift Jakob Strobel y Serra das Berliner Partyleben, wo er auf in aller Öffentlichkeit saufende Akademiker stößt und sich in Friedrichshain einen allein "Partybedarf" führenden Supermarkt herbei imaginiert. Stefanie Peter informiert über die polnische Kontroverse um den Film "Nachlese", der sich in Form eines Thrillers mit antisemitischen Übergriffen aus der polnischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg befasst. Ein Comic über die amerikanische Phase der Comicmeister Morris, André Franquin und Jijé sorgt in Frankreich für Ärger unter deren Nachfahren, berichtet Andreas Platthaus. Ulrich Olshausen resümiert das Jazzfestival Münster. Für die internationale Starküche ist "das Programm der Globalisierung Individualisierung und Regionalisierung", meint Jürgen Dollase. Irene Bazinger schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Peter Fitz, Patrick Bahners den auf die Historikerin Gerda Lerner.

Besprochen werden neue Schallplatten (darunter Meshell Ndegeocellos Tribut an Nina Simone), der Film "Ritter Rost", die Ausstellung "Königinnen der Merowinger" im Archäologischen Museum in Frankfurt und Bücher, darunter eine von ATAK illustrierte Ausgabe von Mark Twains Erzählung "Der geheimnisvolle Fremde" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).