Heute in den Feuilletons

Das Brandenburg unter den Monaten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2012. In der taz erklärt die Übersetzin und Bloggerin Katy Derbyshire, warum sie mehr oder weniger die einzige Britin ist, die sich für deutsche Kultur interessiert. In Faust erklärt Jan Wagner, worauf's ankommt bei einem guten Gedicht. Bei Performance Today spricht Andras Schiff über das "Wohltemperierte Klavier" (und spielt es auch). Die Welt sagt Adieu zum Grimm. In Frankreich gründet Pierre Assouline ein Netz-Feuilleton. Die NZZ porträtiert die Optimistin unter den Balkannationen: Albanien. Und eines können die Zeitungen gar nicht fassen: Google ist beim Thema Leistungsschutzrechte nicht objektiv!

TAZ, 28.11.2012

Die Übersetzerin und Bloggerin Katy Derbyshire glaubt, dass es vielleicht kleine und engagierte Verlage schaffen werden, deutsche Literatur nach Großbritannien zu schmuggeln, denn großes Interesse gibt es daran eigentlich nicht: "Laut Jonathan Ruppin von der hervorragenden Londoner Großbuchhandlung Foyles kaufen Leser deutsche Bücher nicht, weil sie deutsch sind. 'Die meisten deutschsprachigen Autoren, die sich gut verkaufen, sind Klassiker. Die deutsche Kultur insgesamt ist einfach kein Verkaufsargument für Bücher in Großbritannien. Wir sehen kein ähnliches Interesse wie zum Beispiel an Italien, Frankreich, Spanien oder Russland. Jedes Buch aus Deutschland, das sich gut verkauft, muss das aufgrund seiner eigenen Stärken tun."

Weiteres: Katrin Bettina Müller gefällt der "Black Rider" auch in der Berliner Inszenierung von Friederike Heller mit der Band Kante. Vor hundert Jahren wurde Heinz Galinski geboren, Michal Bodemann tut es leid, dass er ihn einst als "Hofjuden" bezeichnet hatte.

Tod, Tod, Tod, wohin man nur schaut, klagt Silke Burmester über das Sterben von FR und FTD: "Dieser November, das Brandenburg unter den Monaten."

Und Tom.

Aus den Blogs, 28.11.2012

Im Faustblog erklärt Jan Wagner im Interview mit Bernd Leukert, worauf's ankommt bei einem Gedicht: "Ich glaube, die wunderbarsten Bilder und Gedichte sind die, bei denen man als Leser denkt, mein Gott, ich hab's genau so gedacht! Bloß, man hat's nicht so gedacht. Ein weiterer Amerikaner, Robert Frost, sagte: Es geht nie darum, dem Leser etwas zu sagen, was er nicht weiß. Sondern es geht darum, ihm etwas zu sagen, was er weiß, aber nicht zu formulieren wusste. Dieses Wiedererkennen im Unvertrauten, das ist die große Kunst". Hier und hier liest Wagner einige seiner Gedichte.

Recht großartig klingen die Ankündigungen des französischen Literaturkritikers Pierre Assouline, dessen Blog La République des livres bisher bei Le Monde angesiedelt war und der sich jetzt mit seinen eigenen Beiträgen und Gastartikeln bekannter Kritiker ("die aus verschiedenen Gründen kein Forum mehr haben") selbständig macht: "Und das wird nur die erste Stufe der Rakete sein. Die zweite ist für Anfang 2013 vorgesehen - ein Kulturportal namens 'Les Républiques de la culture' das nach dem Modell der RDL neue Blogs zu Themen wie Kino und Theater bündelt." Über sein Geschäftsmodell verliert Assouline leider kein Wort.
Stichwörter: Blogs, Wagner, Jan, Raketen

Weitere Medien, 28.11.2012

Auf Spiegel online warnt Konrad Lischka davor Google als Bewahrer der Internetfreiheit zu sehen: "Denn der Konzern entscheidet in vielen Fällen eigenmächtig, welche Inhalte er unterdrückt und welche er bevorzugt zeigt, unabhängig vom Interesse der Nutzer." Lischka zählt als Beispiel das Video "The Innocence of Muslims" auf, das Google in Ägypten und Libyen nicht mehr zeige: "Der Konzern legte verschiedene Grade von Meinungsfreiheit für verschiedene Regionen der Welt fest, ohne seine Entscheidung zu begründen." Vielleicht ist Google zu schüchtern? So wie der Spiegel damals mit den Mohammed-Karikaturen (mehr hier)? Als bekennende Leser von Leserkommentaren möchten wir auf Kommentar 95 hinweisen, der eine ausgezeichnete Antwort auf Lischka liefert.

Weitere Medien, 28.11.2012

Andras Schiff hat Bachs "Wohltemperiertes Klavier" neu eingespielt. Bei "Performance Today" kann man Präludium und Fuge in D-Dur aus Buch 1 hören und downloaden. Diese Sendung des American Public Media Programs hat Schiff auch lange zu Bach interviewt.


Birkenstocks sind wieder hip. Seit Celines Phoebe Philo ihre "furkenstocks" (Bild links) über den Laufsteg geschickt hat, brezeln auch andere Designer den Gesundheitsschuh (oder eine ähnliche Variante) auf, meldet Misty White Sidell auf The Daily Beast. "This season, Giambattista Valli took his own liberties with Birkenstock's classic two-strap Arizona sandal by fabricating a runway-ready version in nude, silver, and black leather with exaggerated metal studs pierced into the perimeter of their soles. 'For a New York-based client it's a tougher look,' Claire Distenfeld, owner and chief buyer of renowned Upper East Side store Fivestory told The Daily Beast of Valli's studded sandal. She purchased the $850 style in black for spring." (Bild mitte, Bild rechts ist eine Tatami-Sandale von Phillip Lim)

Welt, 28.11.2012

Die Arbeit am Grimmschen Wörterbuch wird eingestellt, meldet Matthias Heine, der das "Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache" (DWDS) als Ersatz aber gar nicht so schlecht findet. So findet man dort nicht nur die Wörter erklärt, sondern kann sich auch die Aussprache vorsagen lassen: "Das ist nicht nur für Ausländer von Nutzen, sondern lässt auch Sprachhistoriker träumen. Wenn man solche Hörbeispiele für vergangene Zeiten hätte! Die Aussprache ist ja anhand alter Quellen nur schwer rekonstruierbar. Hilfreich sind dabei oft allein Reime in Gedichten. So weiß man dank des Reimpaars 'Ach neige, du Schmerzensreiche', dass der alte Goethe offenbar immer noch dazu neigte, das Verb 'neigen' frankfurterisch 'neischen' auszusprechen."

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann ist fassungslos wie skrupellos Google mit seinem Video "Verteidige Dein Netz" sein eigenes Objektivitätsgebot verletzt (die Zeitungen haben ja zum Glück keins, das sie verletzten könnten). Wieland Freund betrachtet das traurige Ende des Bloomsbury Verlags in Deutschland. Alan Posener stellt in seiner Kolumne die Studie "Thüringen Monitor" des Soziologieprofessors Heinrich Best vor, wonach "nur" noch zwölf Prozent der Thüringer rechtsextrem sind, diese zwölf Prozent sich selbst aber zumeist für links halten. Hildegard Stausberg berichtet über die Rückkehr eines Tafelkreuzes in seine Heimatstadt Venedig. Es war 1945 unerlaubt von dem Pfarrer verkauft worden, um seine hungernde Gemeinde zu füttern. Alfred Hackensberger berichtet aus Aleppo, wo antike Stätten zerstört und ausgeplündert werden.

Besprochen werden die Ausstellung "Mythos Atelier" in der Staatsgalerie Stuttgart und die Choreografien "The Moore's Pavane" und "Chorearium" mit dem Bayerischen Staatsballett.

Henryk Broder antwortet auf Jakob Augstein, der sich nach einer "israelkritischen" Kolumne in Spiegel Online gegen Antisemitismusvorwürfe verteidigte. Unter anderem spießt er Augsteins Lob von Grass' Israel-Gedicht und seine Kritik an Angela Merkel auf, für die die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört: "Augstein möchte nicht nur aus dem Schatten der Worte Angela Merkels geholt, er möchte auch von der Last der deutschen Geschichte erlöst werden. Augstein will nicht mehr daran erinnert werden, wie es dazu kommen konnte, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson wurde. Das ist genau die Art von Antisemitismus, wie er in den gebildeten Ständen gepflegt wird, die es satthaben, immer wieder mit der 'Auschwitzkeule' gehauen zu werden."

NZZ, 28.11.2012

Heute vor hundert Jahren wurde Albanien unabhängig. Wirtschaftlich und politisch liegt das Land am Boden, doch Andreas Ernst versichert, dass die Albaner die Optimisten unter den Balkannationen sind: "Stolz und Freude gehören natürlich zu einem solchen Feiertag. Was aber auffällt: Die nationale Euphorie ist bei den Albanern nicht auf Jubiläen beschränkt. Das springt vor allem ins Auge beim Blick auf die Nachbarn. Welch ein Unterschied zum deprimierten serbischen Nationalgefühl - aber auch zur Ratlosigkeit der Bosnjaken, zur Verwirrung der Mazedonier. In Serbien klingt heute die nationalistische Rede wie ein Klagelied: Verrat, Niederlage, Demütigung sind sein Dreiklang."

Weiteres: Brigitte Kramer fragt sich, ob Spanien mit einer PR-Kampagne der aufkommenden Depression trotzen wird, denn "nach der Finanz- und der Wertekrise kommt nun die Identitätskrise." Georg-Friedrich Kühn kann sich mit den beiden neuen Berliner Mozart-Inszenierungen nicht recht anfreunden: Neuenfels "La Finta Giardiniera" ist ihm zu krude, die Zauberflöte des Teams 1927 zu "putzig". Besprochen werden Germán Kratochwils Roman "Scherbengericht" und Ernst Halters Erzählungen "Hinter den Sieben Bergen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 28.11.2012

Besonders ärgert die Zeitungen, dass Google sich in seiner neuen Kampagne mit dem Netz gleichsetzt. Stefan Niggemeier kommt das bekannt vor, wie er in einem sehr guten Beitrag in seinem Blog schreibt: "Die überschäumende Empörung darüber, dass ein kommerzielles Unternehmen wie Google sein Eigeninteresse als Gemeinwohl ausgibt, lässt sich auch dadurch erklären, dass sich Google diesen Trick von den Verlagen abgeschaut haben könnte. Und natürlich aus der Angst, dass dieser Trick funktionieren könnte. Dass viele Menschen es womöglich nicht abwegig finden, in Google ein Synonym für das Netz, und sogar: ihr Netz zu sehen, und in einem Angriff auf Google einen Angriff auf ihre eigenen Interessen."


Das Nieman Lab stellt eine neue Studie über den "postindustriellen Journalismus" vor, die unter anderem von Clay Shirky - rotes Tuch für alle Traditionalisten der Branche - mitverfasst wurde. Man kann sie sich kostenlos als pdf- oder Epub-Dokument herunterladen. In der Einleitung schreiben die Autoren: "This essay is part survey and part manifesto, one that concerns itself with the practice of journalism and the practices of journalists in the United States. It is not, however, about 'the future of the news industry,' both because much of that future is already here and because there is no such thing as the news industry anymore."

(Via Netzpolitik) Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern um das Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht hat ein ziemlich deutliches Papier gegen Leitungsschutzrechte für Presseinstitute herausgebracht, über das die in diesen Dingen so objektiven Zeitungen heute weniger berichten als über die Google-Werbekampagne gegen #LSR. Aus der Pressemitteilung: "Der Sachverhalt, der dem neuen Verbotsrecht unterliegen soll, ist rechtlich kaum zu beschreiben. Weder kann der Begriff 'redaktionell-technische Festlegung journalistischer Beiträge' klar definiert werden, noch sind die weiteren zentralen Begriffe 'Presseverleger' oder 'gewerblicher Anbieter von Suchmaschinen oder gewerbliche Anbieter von Diensten […], die Inhalte entsprechend aufbereiten' klar umrissen."

Und auf Neunetz informiert Marcel Weiss, dass der Bundestag exakt 35 Minuten nach Mitternacht über das Leistungsschutzrecht debattieren will. Das wird eine tolle Debatte!

FAZ, 28.11.2012

Michael Hanfeld kann es nicht fassen: Google gibt in seiner Kampagne gegen Leistungsschutzrechte für die Zeitungen "das eigene Interesse als dasjenige der Allgemeinheit aus"! Manuela Lenzen lotet die Tücken der Robotik aus: Je menschenähnlicher ein Roboter, desto leichter ist er zu bedienen - desto unheimlicher wird er aber auch. "Jia" glossiert einen Abend in der Villa Suhrkamp, bei dem Peter Sloterdijk aus seinen Tagebüchern des Jahres 2007 las. Hans-Peter Buch schickt einen etwas kurz geratenen Reisebericht aus Papua-Neuguinea, wo es heiß ist, die Rohstoffkonzerne die Bodenschätze ausbeuten und die Einwohner laut dem ironischen Zitat eines Fremdenführers nicht leicht von ihren Traditionen abzubringen sind: "Erst als sie feststellten, dass die Stiefel der Missionare trotz stundenlangen Kochens nicht essbar waren, traten unsere Vorfahren zum Christentum über." Karin Leydecker beklagt den annoncierten Abriss des BASF-Hochhauses in Ludwigshafen. Für die Medienseite besucht Matthias Hannemann die GEZ-Zentrale, die sich anschickt, jedem Handy-Besitzer die kommende Zwangsgebühr abzuknöpfen.

Besprochen werden eine große "Cornelis van Haarlem"-Ausstellung in Haarlem, ein Konzert Martha Argerichs mit der Accademia di Santa Cecilia in Berlin, François Ozons Film "In ihrem Haus" (mehr hier) und Bücher, darunter eine Studie des Althistorikers Ernst Baltrusch über Herodes. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 28.11.2012

Gar nicht gut findet es Heribert Prantl auf der Meinungsseite, dass Google das Leistungsschutzrecht nicht einfach auf sich zukommen lässt, sondern im Vorfeld in eigener Sache auftritt. Unlauter findet er vor allem, dass Google "seine gewaltige Marktmacht nutzt, um seine Nutzer zu täuschen und den Gesetzgeber zu drangsalieren".

Im Gespräch mit Matthias Huber präzisieren die Wirtschaftswissenschaftler Jörg Claussen und Christian Peukert ihre einiges Aufsehen (etwa hier, hier und hier) erregende Studie, derzufolge das Aus von MegaUpload der Filmindustrie womöglich sogar geschadet habe. Sie bevorzugen allerdings "die konservative Interpretation, dass die Abschaltung von Megaupload insgesamt keinen positiven Effekt für die Filmindustrie hatte. Doch wenn man die untersuchten Filme in große und kleine Filme unterteilt, stellt man fest, dass der negative Effekt nur für die kleinen Filme gilt, die Mainstream-Produktionen von der Schließung Megauploads durchaus profitiert haben." Das, so meinen die beiden, liege daran, dass kleine Filme mehr auf Mundpropaganda angewiesen seien, die erst durch Tauschbörsen wie Megaupload in Gang komme.

Weitere Artikel: Johan Schloemann stellt die Deutsche Digitale Bibliothek vor, die heute im Laufe des Tages online gehen und neben einer Datenbank auch zahlreiche Digitalisate aus der deutschen Kultur zugänglich machen soll. "Höchst eindrucksvoll" findet Gottfried Knapp das zum dritten Mal ausgerichtete, tunesische Kunstfestival "Dream City" und stattete bei der Gelegenheit auch gleich dem neuen Anbau des Bardo-Museums einen Besuch ab.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, Andrew Dominiks Thriller "Killing them Softly", ein Konzert des Pianisten Francesco Tristano in München, Sebastian Baumgartens auf heftige Ablehnung stoßende Inszenierung von Tolstois "Die Macht der Finsternis" am Schauspielhaus Düsseldorf (Martin Krumbholz fühlt sich von der "Nähe von blankem Horror ... tief beunruhigt") und Bücher, darunter Yasmina Rezas "Nirgendwo" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).