Heute in den Feuilletons

Eine Machtposition ganz neuer Art

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2012. Alle Hoffnung passée. Heute um elf Uhr wird den Mitarbeitern der FTD nun doch das endgültige Aus verkündet, meldet das Handelsblatt. Das Gute an Zeitung ist, dass sie von Realität trennt, meint die taz. In der NZZ stellt sich heraus: Auch Taubblinde haben in erster Linie religiöse Probleme. Die FAZ macht sich Sorgen um den Leser von Ebooks. Und Sensation: Thomas Mann hätte Actimel empfohlen.

Weitere Medien, 23.11.2012

Aus irgendwelchen Gründen hatte Gruner und Jahr gestern noch so getan, als gebe es noch eine Chance für die Financial Times Deutschland. Gestern Abend um halb zehn meldete handelsblatt.de, dass das endgültige Aus nun besiegelt ist und der Belegschaft heute um elf Uhr verkündet werden soll. In dem Artikel wird auch brav der Chef des Handelsblatts, Gabor Steingart, zitiert, der in messerscharfer Analyse den Grund der Misere benannte: "Es wird keine Rettung für die Zeitung geben, wenn wir mit dieser Umsonst-Kultur nicht brechen."

Über Fortschritte im Geschlechterverhältnis in Saudi Arabien berichtet Al Arabiya. Saudische Ehemänner erhalten ab sofort eine automatische SMS, falls ihre Frau das Land verlässt: "Since last week, Saudi women's male guardians began receiving text messages on their phones informing them when women under their custody leave the country, even if they are travelling together. Manal al-Sherif, who became the symbol of a campaign launched last year urging Saudi women to defy a driving ban, began spreading the information on Twitter, after she was alerted by a couple. The husband, who was travelling with his wife, received a text message from the immigration authorities informing him that his wife had left the international airport in Riyadh."

Welt, 23.11.2012

Achtzig Postkarten Thomas Manns an seinen Bruder Heinrich wurden gefunden und sind jetzt in Lübeck ausgestellt, eine Sensation, meldet Tilman Krause. Es geht um Dinge wie folgende: "Wolle der liebe Heinrich (L.H. lautet meist die Anrede) es nicht auch mal mit diesem neuen Nahrungsmittel Yoghurt probieren? Er sei ausgesprochen 'wohlschmeckend', vor allem aber (bei den Manns ein Dauerbrenner-Thema) 'leicht abführend'. Sehr bewährt habe sich auch der entcoffeinierte Kaffee, dem man neuerdings in Münchens besseren Kreisen kräftig zuspreche."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr kann mit einer typisch Berliner Geschichte aufwarten: Es scheint, als sei Watteaus "Einschiffung nach Kythera" im Charlottenburger Schloss von der Familie Hohenzollern zweimal an die Stadt verkauft worden, einmal im Jahr 1983 für 15 Millionen Mark, dann aber auch schon einmal in der Weimarer Republik. Hanns-Georg Rodek interviewt den österreichischen Regisseur Stefan Ruzowitzky, der mit "Cold Blood" (Besprechung) seinen ersten Hollywood-Film gemacht hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit DDR-Fotografie in Berlin und Ereignisse des Braunschweiger Theaterfestivals "Fast forward", bei dem vor allem die junge polnische Regisseurin Marta Gornicka und ihr Chor entzückten (hier ein Einblick in ihre Kunst).

NZZ, 23.11.2012

Daniela Segenreich-Horsky stellt das taubblinde Theaterensemble Na Laga'at aus Israel vor, das von der Zürcherin Adina Tal geleitet wird: "'Das Schwierigste dabei ist es, Termine für die Proben zu finden', seufzt sie, 'denn es gibt immer irgendwelche Feiertage. Kaum sind die jüdischen Neujahrsfeiertage vorbei, beginnt das Laubhüttenfest bei den Samaritanern.' Daneben sind auch noch die Fest- und Fastentage der muslimischen und christlichen Mitwirkenden zu berücksichtigen."

Weiteres: Die Ruinen von Pompeji, der Mailänder Dom, das Kolosseum, der Trevi-Brunnen in Rom, kurz: "das Kulturerbe Italiens bröckelt", berichtet Eva Clausen. Jetzt sollen private Unternehmen den Verfall stoppen. Besprochen werden die Ausstellung "Pop Art Design" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein und das Album "Alma" der portugiesischen Fadista Carminho.

Aus den Blogs, 23.11.2012

Angeregt von einer Debatte auf Slate denkt Joe Paul Kroll im Culturmag über das Genre des Essays und seinen möglichen Niedergang nach. Hat es damit zu tun, dass auch amerikanische Autoren neuerdings das Risiko scheuen? "Zur Persona Norman Mailers gehörte es auch, in Kauf zu nehmen, für ein Arschloch gehalten zu werden. Das liegt nicht jedem - schon gar nicht mir, weshalb ich es niemandem verdenken will. Man muss auch nicht zum Darsteller seiner selbst verkommen, wie Mailer in seinen späteren Jahren. Und doch muss, wer seine Zeit auf den Begriff oder wenigstens etwas Ordnung ins Gewirr bringen will, ein Scheitern riskieren." Anlass ist übrigens eine Liste von Publisher's Weekly mit den zehn angeblich besten (amerikanischen) Essays seit 1950.

(Auf Facebook gefunden): In den Niederlanden muss man schon eine Menge wissen, um Millionär zu werden:

Stichwörter: Facebook, Mailer, Norman

TAZ, 23.11.2012

Auf den vorderen Seiten werden aus gegebenem Anlass - deutscher Zeitungsherbst - Loblieder auf die gedruckte Tageszeitung gesungen. Dominik Johnson erklärt ihren Vorteil gegenüber Laptop und Co.: "Sie trennt PR, Gelogenes und Selbstbeweihräucherndes von realen Tatsachen und Geschehnissen." Ulrike Winkelmann betont ihre demokratiestiftende Funktion und Bedeutung für die Bürgergesellschaft. Und Kalle Ruch nutzt die Gelegenheit, die taz-Leser daran zu erinnern, dass es die gedruckte Ausgabe nur gibt, solange sie auch im Netz - freiwillig - zahlen. Daran wird der Leser künftig bei jedem Klick auf die taz erinnert. Falk Lüke informiert über die Überlegungen der Verlage, Journalismus im Netz nur noch kostenpflichtig anzubieten; das Stichwort dazu heißt Paywall - Bezahlmauer.

Weiteres: Astrid Kusser stellt Tecno Brega vor, eine Art "tropische Form von Techno" aus Brasilien, der jetzt auf einer Compilation zu hören ist. Besprochen werden das neue Album "Come Home to Mama" der Kanadierin Martha Wainwright, das Album "Trilogy" des kanadischen R&B-Singer-Songwriters Abel Tesfaye alias TheWeeknd und der von Chris Wahl herausgegebene Sammelband "Im Angesicht des Fernsehens" über den Filmemacher Dominik Graf (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 23.11.2012

Ein Vermeer gefällig? In der Daily Mail stellt Mario Ledwith einen Künstler vor, der das für eine Werbekampagne mit Bettlaken und Bügeleisen hinkriegt.

Etwas spät, aber doch noch: "Sieben Tageszeitungen haben jetzt ein gemeinsames Vermarktungsunternehmen gegründet: das Medienhaus Deutschland. Es soll Markenartikler als Anzeigenkunden für Tageszeitungen (zurück-) gewinnen", meldet Ulrike Simon auf der Medienseite der Frankfurter Rundschau. (Laut Wirtschaftswoche sind es sogar acht Zeitungsgruppen, Springer ist auch eingestiegen) Und sie sind nicht die einzigen, die sich zusammentun, so Simon: "Beispiele von Kooperationen gibt es neuerdings viele. Erst kürzlich sind etwa die Verlage von FAZ, Süddeutscher Zeitung und Die Zeit Gesellschafter des bisher allein von der Verlagsgruppe Handelsblatt gehörenden Online-Vermarkters geworden. ... Und auch auf informeller Ebene gibt es Schulterschlüsse, wenn etwa der Chefredakteur der SZ und der des Spiegels gemeinsam mit Anzeigenkunden sprechen. Zeit wird es." Apropos: Gerade die Zeit hat das wohl kaum nötig. Das Blatt strotzt sowohl im Print also auch online von Anzeigen.

Besprochen werden in der FR die große Otto-Ausstellung im Kulturhistorischen Museum in Magdeburg und Comics von Baru.

FAZ, 23.11.2012

Constanze Kurz sieht mit dem Durchbruch von E-Books nicht nur in naher Zukunft den Handel mit antiquarischen Büchern zusammenbrechen, sondern auch mit den über einen Rückkanal gewonnenen Daten über das Leseverhalten der Endnutzer ganz neue Rahmenbedingungen für Verlage und Autoren entstehen: "Wie wird sich der Literaturbetrieb verändern, wenn der Verlag etwa präzise weiß, dass siebenundzwanzig Prozent der Leser nach der Hälfte des zweiten Kapitels das Buch zur Seite gelegt haben, als eine sympathische Randfigur mit Potential zur Nebenheldin einen tragischen Unfalltod erleidet? ... Und wie sieht es mit der faktischen Macht von Firmen wie Amazon aus, die allein durch die Weitergabe oder das Zurückhalten der Daten zu Lesegewohnheiten eine Machtposition ganz neuer Art im Literaturbetrieb aufbauen können?"

Weitere Artikel: Edo Reents müht sich, den kürzlich aufgetauchten Postkarten Thomas Manns an seinen Bruder Heinrich etwas sensationelles abzuringen. Kerstin Holm streift durch das neue, große Jüdische Museum in Moskau (mehr hier). Gerhard Rohde genießt bei den Tagen für Neue Musik die "drängende Innenspannung" im Werk von Helmut Lachenmann. Zwar "nicht unwürdig", aber doch "einfach überflüssig" fand Jan Wiele Christian Wulffs ersten öffentlichen Auftritt nach seinem Rücktritt in Heidelberg.

Besprochen werden Stefan Ruzowitzkys Thriller "Cold Blood", die Ausstellung "Imaginez L'Imaginaire" im Palais de Tokyo in Paris und Bücher, darunter Kerstin Ekmans Roman "Schwindlerinnen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 23.11.2012

Kurz vor Ende hat Max Fellmann ihn dann doch noch erlebt, den "Popabend des Jahres", den der ewige Entertainer Chilly Gonzales im Prinzregententheater in München hingelegt hat. Anfangs war Fellmann noch skeptisch, doch der am Klavier rappende Exil-Kanadier hat ihn im Nu gekriegt: "Ein Mann, ein Steinway. Die ersten ein, zwei Stücke spielt er als Medley hinter einer weißen Leinwand, von hinten angestrahlt, für das Publikum nur ein Schattenriss. Noch denkt man, au weh, das könnte jetzt ein André-Heller-Flic-Flac-Poesie-Schmarrn werden. Aber dann verschwindet die Leinwand, Gonzales grinst schief ins Publikum - und alles ist ein aberwitziger, gut gelaunter, mitreißender Galopp." Schade bloß: Die übrigen Termine der Deutschlandtour sind bereits allesamt ausverkauft. Trösten wir uns mit einer kleinen Aufnahme:



Weitere Artikel: Thomas Steinfeld liest bei Michael Fried, warum sich Flauberts "Madame Bovary" kaum übersetzen lässt. Rudolf Neumaier berichtet von sachten Ermittlungserfolgen gegen das rechtsextreme Katholikenblog kreuz.net.

Mit dem Niedergang der Frankfurter Rundschau und Financial Times Deutschland sehen Caspar Busse, Katharina Riehl und Marc Widmann im Medienteil auch das Konzept einer Gemeinschaftsredaktion zu Grabe getragen.

Besprochen werden eine große Ausstellung über das Musiklabel ECM im Haus der Kunst in München, die romantische Komödie "Love is all you need" mit Pierce Brosnan, eine Ausstellung über Kaiser Maximilian I. und die Kunst aus der Dürerzeit in der Albertina in Wien, die Ausstellung "Bronze" in der Royal Academy of Arts in London und Herbert Rosendorfers postum veröffentlichte Erzählungen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).