Heute in den Feuilletons

Im Internet steht immer guter Stoff

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2012. Die neue Zeitungskrise sorgt für Rauschen im Netz. Neueste Gerüchte besagen, dass Gruner und Jahr bei seinen Wirtschaftstiteln radikal kürzen will. So langsam rückt die Zeitung in den Status der Vinylplatte, meint Lutz Hachmeister in der taz. Der sueddeutsche.de-Chefredakteur Stefan Plöchinger richtet auf vocer.org einen Weckruf an die Kollegen vom Print. In der Welt analysiert Wolf Lepenies den Familienstreit in der französischen Linken.

TAZ, 19.11.2012

Mit dem Ende der FR und dem drohenden Aus für die FTD sieht Lutz Hachmeister die gedruckte Zeitung in den Status der Vinylplatte übergehen, vielleicht aber auch in den der analogen Schweizer Uhr: "Wenn es gelingt, die gedruckte Zeitung unentbehrlich zu machen und dafür mehr zu kassieren, kann das auch funktionieren. Es wird aber wohl für Recherchejournalismus indirekte öffentliche Subventionen geben müssen. Die Gesellschaft muss das wollen."

Ingo Arend kann nicht feststellen, dass sich das Verhältnis von Kunst und Politik in Berlin auf dem jüngsten Großtreffen gebessert hätte, zumal der Kulturstaatssekretär ohne jede Idee vertreten war: "Den Mangel an Programmatik machte André Schmitz zwar wie üblich durch ausgesuchte Freundlichkeit wett. Und versuchte so den schwer über dem Treffen lastenden Verdacht zu entkräften, es gehe ihm nur um das, was ein Teilnehmer als 'Logik der Abschöpfung' geißelte: Anderen Leuten die Ideen aus den Rippen zu leiern, die ihm selbst nicht einfallen."

Weiteres: Tim Caspar Boehme hat auf dem Chemnitzer Festival "Sound Exchange" experimentelle Musiker aus Mittelosteuropa genossen. Bei Brigitte Werneburg hat die arte-Sendung "Masterclass" nicht ganz gezündet. Sonja Vogel feiert David Albaharis Roman "Der Bruder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 19.11.2012

Turi2 fasst die aus verschiedenen Quellen stammenden Gerüchte um die Gruner und Jahr-Poolredaktion Wirtschaftsmedien zusammen. Das radikalste besagt laut Focus, dass von 350 Mitarbeitern bei Titeln wie der Financial Times und Börse online 330 entlassen werden sollen: "In neu entworfenen Szenarien spiele eine gedruckte FTD keine Rolle mehr."

Stefan Plöchinger, Chefredakteur von sueddeutsche.de richtet auf vocer.org aus Anlass der neuesten Zeitungskrise einen Weckruf an die Kollegen vom Print (ganz sicher auch im eigenen Hause): "Den Journalismus in die neue Zeit zu retten, geht nur mit dem Netz, nicht dagegen - dieser Pragmatismus sei jenen Kollegen dringend empfohlen, die ernsthaft heute noch glauben: Wenn im Internet nicht so viel guter Stoff stünde, ginge es zum Beispiel Zeitungen und Zeitschriften besser. Im Internet steht immer guter Stoff, und besser ist es, der gute Stoff stammt von einem selbst. Dann hat man eine Chance bei den Millionen Lesern, die das Netz nutzen. Was für ein Potenzial!"

Dirk von Gehlen ärgert sich in seinem Blog über die Diskussion, die jetzt anlässlich der Insolvenz der FR mal wieder über Print vs. Internet ausgebrochen ist: "Denn ich glaube, dass die Tageszeitung ganz und gar nicht daran krankt, dass es jetzt das Internet gibt oder dass Märkte dort nach anderen Regeln funktionieren als man sich das vielleicht wünschen würde. Die Tageszeitung - so scheint es mir nach einer Woche Debatte in deutschen Medien - krankt zunächst am mangelnden Selbstbewusstsein ihrer Macher (print wie online)".

Wolfgang Michal versucht auf Carta eine Antwort auf die Frage zu finden, warum gerade "linke" Zeitungen nicht vom Fleck kommen.

Welt, 19.11.2012

Wolf Lepenies lernt aus Jacques Julliards Buch "Les Gauches Françaises 1762-2012 - Histoire, politique et imaginaire" eine Menge über die Familien der französischen Linken und warnt vor dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, der sich auf die Französische Revolution beruft: "Der 'Jakobiner' Mélenchon hat dem 'Liberalen' Hollande zur Präsidentschaft verholfen - und dafür keinen 'Lohn' erhalten. Heute gehört er zu den schärfsten Kritikern des sozialistischen Präsidenten. Möglich, dass es ihm gelingt, im Schulterschluss mit den Gewerkschaften eine Fronde zu bilden, die Hollande bedrohen kann. Gefahr droht dem sozialistischen Präsidenten jedenfalls nicht von der zersplitterten Rechten. Gefahr droht ihm von links."

Außerdem berichtet Heike Blümner berichtet von von einer von der Modekritikerin Suzy Menkes ausgerichteten "Luxury Conference", die Afrika als Terrain der Zukunft entdeckte.

NZZ, 19.11.2012

Urs Schoettli prangert die bedenklichen Verzerrungen in unserer Wahrnehmung von Asiens Aufstieg an. "Es ist einem hartnäckigen Eurozentrismus zuzuschreiben, dass die asiatische Renaissance vom intellektuellen Mainstream in Kontinentaleuropa bisher noch nicht als große Zeitenwende wahrgenommen worden ist. Was an Universitäten an Erkenntnissen über die Entwicklungen in Asien erarbeitet wird, bleibt weitgehend auf ein interessiertes Fachpublikum beschränkt... So sollte beispielsweise auch in Europa endlich die Auseinandersetzung mit dem konfuzianischen Staatsverständnis im neuen China oder mit der Relevanz der Meiji-Restauration für Japans anstehende Reformen aufgenommen werden."

Weiteres: Marion Löhndorf beobachtet die Ankunft der deutschen Literatur auf den britischen Inseln: "Die Anzeichen für einen Imagewechsel der in Großbritannien lange als bleischwer und ermüdend beleumundeten deutschsprachigen Literatur mehren sich." Andreas Breitenstein berichtet von der Eröffnung des Imre-Kertész-Archivs in Berlin. Michelle Ziegler bespricht die Uraufführung von Frank Schwemmers Jugendoper "Die Schatzinsel" am Opernhaus Zürich.

Weitere Medien, 19.11.2012

Auf der Medienseite der Frankfurter Rundschau berichtet Thomas Schuler von Vorwürfen gegen NYT-Autor David Barboza, er sei bei seiner sensationellen Recherche über das Vermögen der Familie von Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao den Einflüsterungen eines Konkurrenten aufgesessen. Es habe keinen derartigen Insider gegeben, erklärte Barboza jetzt in der NYT (hier und hier). "Barboza sammelte Unterlagen, die öffentlich zugänglich sind. Es war 'eine Spur, der vor mir niemand gefolgt war'. Das politische System Chinas mag nicht sehr transparent sein, aber Informationen über Unternehmen und deren Finanzen seien der Öffentlichkeit zunehmend zugänglich."

Im Feuilleton der FR ist über drei Seiten Navid Kermanis Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises abgedruckt.

SZ, 19.11.2012

In den "Nachrichten aus dem Netz" beobachtet Michael Moorstedt die Internet-Frontstellungen im momentanen Gaza/Israel-Konflikt, die regelrecht surreale Qualitäten annehmen, "wenn sich Hamas und IDF die Etikette der Kurznachrichtenplattform zu eigen machen, in kürzesten Abständen auf die Einträge des Erzfeindes Bezug nehmen und manchmal wie zwei verfeindete Blogger wirken. So antwortet der Account @alqassambrigade einer Hamas-Unterorganisation [auf @IDFSpokesperson] mit geharnischten Worten ebenso wie mit den neuesten 'Erfolgsmeldungen' - Informationen über abgefeuerte Raketen im Minutentakt. So wird der Krieg zum Social-Media-Event." (Mehr bei Zeit online)

Weitere Artikel: Till Briegleb berichtet von einer Posse um umstrittene Verkäufe aus den Stralsunder Archivbeständen, gegen die das Blog Archivalia mit akriribischer Berichterstattung einen Proteststurm ausgelöst hat. Reinhard J. Brembeck porträtiert den Pianisten Andreas Staier. Bei der "Langen Nacht der Nacht" des Münchner Literaturfests muss Christopher Schmidt frühzeitig und ausgiebig gähnen. Alexandra Borchardt besucht eine Hildesheimer Tagung über Internet und Demokratie. Alexander Menden schreibt den Nachruf auf William Turnbull.

Besprochen werden neue DVDs, das "Rocky"-Musical in Hamburg, das Ballettprogramm "Forever Young" an der Bayerischen Staatsoper ("eine Sternstunde ... ein Muss", jubelt Eva-Elisabeth Fischer restlos begeistert), Marius von Mayenburgs "Call me God" am Münchner Marstall ("so sexy wie lustig", findet Egbert Tholl), eine Ausstellung mit Andreas Magdanz' Fotografien der Vollzugsanstalt Stammheim im Kunstmuseum Stuttgart und Bücher, darunter "Das Berliner Schloss" von Guido Hinterkeuser (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.11.2012

Der Schriftsteller Yishai Sarid erzählt, wie er einen Raketeneinschlag in Tel Aviv miterlebte: "Dann knallt es. Es ist stark und ganz nah. Als ob etwas wirklich Schweres neben uns zu Boden gegangen wäre. Sonst hört man nichts, die Straße ist leer und ruhig. Ich halte Ausschau nach Zeichen, Rauchsäulen oder so, aber ich erkenne keine."

Weitere Artikel: Patrick Bahnrers betrachtet die Frage "Kommt Petraeus vors Kriegsgericht?" aus juristischer Perspektive. Der SPD-Linke Albrecht Müller erinnert sich an die gloriosen Zeiten, als Sozialdemokraten im Wahlkampf noch einen Willy Brandt aufbieten konnten.

Besprochen werden "Des Teufels General" in Frankfurt, eine Hiroshi-Sugimoto-Ausstellung in München, eine Ausstellung mit Japan-Holzschnitten von Emil Orlik in Hamburg, ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle in Berlin und Bücher,darunter einer "Kulturgeschichte des Trauerns" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).