Heute in den Feuilletons

Du stehst nicht im Zentrum

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2011. Nein, ruft Ulrich Schacht dem Ökovisionär Ulrich Beck in der FAZ zu, die Sonne ist nicht demokratisch. Die SZ referiert die Thesen des Internetaktivisten Eli Pariser, der fürchtet, dass uns Google und  Facebook in einer Filter Bubble gefangen halten. Die Presse hat sich in Tunesien bisher kaum geändert, berichtet die Berliner Zeitung. Rupert Murdoch hat sich am Internet die Zähne ausgebissen, meldet Techcrunch. Die alten Kader sitzen auf ihren Stühlen und singen das Loblied der Regierung Spiegel Online begrüßt Wen Jiabao mit den Geschichten einiger unbekannter Dissidenten.

Spiegel Online, 28.06.2011

Willkommen Wen Jiabao! Maximilian Ulrich erzählt die Geschichten unbekannter Dissdenten in China: "Ein Mann ruft einen Freund vom Flughafen aus an: 'Ich werde von drei Leuten verfolgt.' Er legt auf - und man hört nichts mehr von ihm. Einer Frau werden die Beine im Gefängnis gebrochen. Sie sitzt seitdem im Rollstuhl. Trotzdem ist sie scheinbar so gefährlich, dass sie unter Hausarrest steht. Ein junges Mädchen twittert einen Demonstrationsaufruf weiter. Die Demonstration findet nicht statt. Trotzdem muss die junge Frau ins Gefängnis."

Aus den Blogs, 28.06.2011

Rupert Murdoch hat sich am Internet die Zähne ausgebissen. MySpace wird 150 von 400 Mitarbeitern entlassen, meldet Alexia Tsotsis in Techcunch, und das ist nicht die erste Entlassungswelle: "Myspace cut around 47% of its staff back in January and these new layoffs come as Myspace is preparing itself for a sale, which we?re hearing will be signed tomorrow and announced on Friday." (Einen längeren Artikel über die Gründe für den Niedergang von MySpace hat Felix Gillette gerade für Bloomberg Businessweek verfasst.)
Stichwörter: Internet, Murdoch, Rupert

Welt, 28.06.2011

Denkmalschutzautor Dankwart Guratzsch wendet sich aus Anlass der Weltkulturerbe-Anerkennung eines Gropius-Baus in Alfeld gegen die Originalitätsidee in der modernen Baukunst. Paul Jandl fürchtet durch Einwanderung sächsischer Kellner um den Bestand österreichischer Begriffe wie Paradeiser und Eierschwammerl. Rüdiger Sturm unterhält sich am Rande des Münchner Filmfests mit dem B-Picture-Produzenten und Coppola- und Lucas- Entdecker Roger Corman. Ulrich Weinzerl gratuliert Ivan Nagel zum Achtzigsten. Marc Reichwein resümiert ein Konstanzer Symposion über die Tücken der Säkularisierung, in der Barbara Vinken mithilfe von "Niqa-Bitch"-Videos versicherte, dass die Burqa auch ironisch getragen werden könne.

Besprochen werden die Ausstellung "Zuflucht und Sehnsucht ― fremde Dichter in Zürich" in der Zürcher Zentralbibliothek und John Neumeiers choreografische Verarbeitung von Mahlers Zehnter, die Manuel Brug reichlich klischeehaft erschien.

Berliner Zeitung, 28.06.2011

Die Presse hat sich in Tunesien seit der Revolution nicht groß verändert, schreibt Thomas Schmid. Noch immer sitzen die alten Kader auf ihren Stühlen und singen das Loblied der Regierung - jetzt eben einer anderen. "Der schlimmste Giftspritzer war Abdelaziz Jeridi, Chefredakteur der Wochenzeitung Al Hadath. Immer wieder griff er [die Menschenrechtlerin Sihem] Bensedrine öffentlich an, meistens unter der Gürtellinie. Nach der Wende bat er sie in einer Fernsehsendung heulend um Entschuldigung. Die diffamierenden Artikel habe er nicht selbst verfasst. Sie seien ihm von höherer Stelle zugegangen, er habe sie nur unterzeichnet. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Wahrscheinlich war der devote Chefredakteur nur ein Nutznießer des Systems. Aber er ist noch immer Chefredakteur, auch wenn er kürzlich wegen Diffamierung eines Journalisten des Senders Al Dschasira in erster Instanz zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde."

Viel Harmonie strahlte die Musikindustrie beim Kölner Festival c/o pop aus, spottet Markus Schneider: "Als Vertreter der Musikautoren erklärte wiederum Micki Meuser, die Künstler suchten im Streit um ihre Urheberrechte nur Liebe. Keinesfalls richte man sich gegen die Konsumenten; vielmehr seien, da traf er ein Grundgrummeln des Kongresses, die kalten Portalmonopolisten von Google zu Apple die eigentlichen Bösewichter."

Außerdem: Matthias Lilienthal, Regisseur und ehemaliger Leiter des Hau-Theaters, gratuliert Ivan Nagel zum Achtzigsten. Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Poulencs "Gespräche der Karmelitinnen" an der Komischen Oper Berlin, John Neumeiers Ballett über die Mahlers "Purgatorio" in Hamburg und Kammermusik für Streicher vom 17-jährigen Erich Wolfgang Korngold und dem 16-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy beim "spectrum concerts" in Berlin.

NZZ, 28.06.2011

Im großen und ganzen ist Australien all das, was Europa gerne sein würde, schreibt Oliver Marc Hartwich, der dort an dem Think Tank Centre for Independent Studies arbeitet: "wirtschaftlich erfolgreich, modern, lebensfroh, offen, multikulturell". Das liegt, meint er, zum einen am gelungenen Resozialisierungsprojekt für Straftäter aus England und zum anderen an der modernen Einwanderungspolitik: "Das Ergebnis der gleichermaßen großen wie gesteuerten Einwanderungswelle ist ein Australien, in dem heute ein Viertel der Bevölkerung im Ausland geboren wurde und fast die Hälfe einen im Ausland geborenen Elternteil hat. Dabei sind Australiens Bewohner mit Migrationshintergrund hinsichtlich ihres Bildungsgrads, ihrer Kriminalitätsrate oder auch ihrer Arbeitsmarktpartizipation wenig von Einheimischen zu unterscheiden. Im Zweifelsfall schneiden sie sogar eher besser ab als die 'old Australians'."

Joachim Güntner staunt über das Militärmuseum der Bundeswehr vor, das im Oktober in Dresden eröffnet wird: "Es ist ein Ausbund an Ideologiekritik. In früheren Zeiten wäre seine Konzeption als 'wehrkraftzersetzend' verworfen worden: zu viel Aufmerksamkeit für das Leiden, zu pluralistisch, zu reflektiert."

Besprochen werden die Aufführung von Wagners "Parsifal" bei den Zürcher Festspielen und Bücher, nämlich Robert Spaemanns Band "Nach uns die Kernschmelze" und Schriften von Ivan Nagel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 28.06.2011

Tobi Müller versichert entgegen anders lautenden Behauptungen auf den Autorentheatertagen in Berlin: "Die Statistik des Deutschen Bühnenvereins gibt keinen Komödiennotstand der zeitgenössischen Dramatik her". Isolde Charim fragt in ihrer Kolumne "Ist der griechische Syntagmaplatz der Tahrirplatz Europas? Ist die spanische Bewegung 15-M die europäische Version des arabischen Frühlings?" und verneint diese Fragen dann gleich selbst. Ingo Arend berichtet von einem kulturpolitischen Sonntagsfrühstück der FDP-Bundestagsfraktion (der Arme, man kann sich bessere Alternativen zu diesem Zeitpunkt vorstellen!) Besprochen wird Dieter Wedels und Joshua Sobols Dramatisierung des "Jud Süß"in Worms.

Auf der Meinungsseite sehnt sich Wolfgang Storz, ehemals Chefredakteur der FR, nach Zeiten, in denen noch Oskar Lafontaine visionäre Programme für die SPD entwarf und ruft den Grünen zu, sie sollen nicht "weiterhin heucheln, sie seien ihrer Politik seit 30 Jahren treu geblieben" - denn die Grünen, so Storz, suchen längst nicht mehr nach Alternativen zur aktuellen Wirtschaftsordnung.

Und Tom.

FR, 28.06.2011

Arno Widmann gratuliert Ivan Nagel zum Achtzigsten. Besprochen werden John Neumaiers Mahler-Choreografie "Purgatorio" (siehe Berliner Zeitung) und Bilderbücher von Moki und Shaun Tan (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 28.06.2011

Dirk von Gehlen referiert die Befunde und Thesen Eli Parisers', der in seinem Buch "The Filter Bubble" (langer Auszug) befürchtet, dass Internetnutzer durch Personalisierungsalgorithmen von Google, Faceook und anderen nurmehr ein subjektiv zugerichtetes Bild der Welt zurückgespiegelt bekommen. "Der 30-jährige Gründer der Graswurzel-Bewegung MoveOn.org thematisiert die Filter Bubble, weil er das Netz als demokratisches und demokratisierendes Medium schätzt, er will es eher stärken als eine Abkehr davon zu fordern. Sein Buch liest sich denn auch wie der Wunsch nach einer stetigen Überforderung. Auf der Website zum Buch gibt er seinen Lesern Ratschläge, wie sie mit einfachen technischen Mitteln die Filter-Mechanismen austricksen können."

Hier Parisers Ted-Talk zum Thema:



Weitere Artikel: Alexander Menden begeht den Pavillon der Londoner Serpentine Gallery, der in diesem Jahr von Peter Zumthor gestaltet wurde (der eine strenge architektonische Grünen-Ethik predigt: "Hier blickt die Natur dich an. Du stehst nicht im Zentrum.") Till Briegleb erzählt anschaulich, wie das Rostocker Theater kaputtgespart wird. Wolfgang Schreiber fragt sich in der "Zwischenzeit", warum die Filmkritiker so gut wie nie den grauenhaft kitschigen Einsatz der Musik in Terrence Malicks "Tree auf Life" aufgegriffen haben. Christopher Schmidt gratuliert Ivan Nagel (dem "wohl außenseiterischsten Insider des Kulturbetriebs") zum Achtzigsten.

Wir bringen ihm als Geburtstagsständchen die Romanze aus Mozarts Klavierkonzert KV 466 - mit Clara Haskil:



Besprochen werden ein Konzert der sich aus irendwelchen Gründen in allen Feuilletons tummelden Band Scooter, John Neumeiers "Purgatorio" in Hamburg, amerikanische Indpendent-Filme beim Filmfest München und Bücher, darunter drei neue Studie über das Böse (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.06.2011

Der Schriftsteller Ulrich Schacht hat die in der FAZ abgedruckte Hymne des Soziologen Ulrich Beck auf die demokratische Kraft der Solarenergie gelesen, die Beck darin gegen das totalitäre Nuklear in lyrisch-politischen Tönen favorisiert. Schacht wird dabei ganz anders und er denkt viel eher an "Campanellas 'Sonnenstaat', Lenins Expropriationsfuror und den 'großen Sprung' Maos, der sich übrigens ebenfalls gerne lyrisch äußerte, wenn es ans Selbstermächtigen ging".

Mark Siemons ging in Peking ins Theater und sah dort ein Stück, das den Titel "Hitlers Bauch" trägt. Siemons staunt und ist ernsthaft erbost über die Gedankenlosigkeit im Umgang mit dem deutschen Diktator. Dabei klingt das doch eigentlich ziemlich lustig: "Zwei metrosexuelle Wehrmachtsoldaten ziehen in eine Schlacht, die eher einem Liebesreigen gleicht, zwischendurch immer wieder Tanzeinlagen, und Hitlers Schwangerschaft stellt sich am Ende als Blähung heraus, die bloß einen Furz gebärt. Vor dem Suizid bittet Hitler seine Getreuen, ihn den Chinesen als Schweinefleisch zu verkaufen."

Weitere Artikel: In französischen Zeitungen und Zeitschriften erlebt Jürg Altwegg einen sehr ernüchterten Blick auf die "humanitäre Intervention" in Libyen. In Liberation etwa schreibt der Kulturtheoretiker Tzvetan Todorov: "Man wollte ein Blutbad vermeiden, jetzt ist alles viel schlimmer." Nicole Korzonnek berichtet vom Festival "Theaterformen" in Hannover. Bei der Eröffnung des neuen Caspar-David-Friedrich-Zentrums in Greifswald war Arvid Hansmann zugegen. Über Für und Wider der um sich greifenden Weltkulturerbisierung von Bauten und Umwelt meditiert Niklas Maak in der Glosse.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Francis Poulencs "Gespräche der Karmeliterinnen" und Vincent Boussards Fassung von Leonard Bernsteins "Candide" in Berlin (Jan Brachmann entdeckt zwischen den 1956 entstandenen Werken erstaunliche Parallelen), John Neumeiers Hamburger Mahler-Choreografie des danteschen Titels "Purgatorio", die "Andre Kertesz"-Ausstellung im Berliner Martin Gropius Bau und Bücher, darunter Rada Billers Erzählungsband "Meine sieben Namen und ich" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).